Italienische Reise — Band 1. Johann Wolfgang von Goethe

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Italienische Reise — Band 1 - Johann Wolfgang von Goethe


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schlüpft durch die Zwischenräume, auch alles, was hin und her wandelt, erinnert einen an die liebsten Kunstbilder. Die aufgebundenen Zöpfe der Frauen, der Männer bloße Brust und leichte Jacken, die trefflichen Ochsen, die sie vom Markt nach Hause treiben, die beladenen Eselchen, alles bildet einen lebendigen, bewegten Heinrich Roos. Und nun, wenn es Abend wird, bei der milden Luft wenige Wolken an den Bergen ruhen, am Himmel mehr stehen als ziehen, und gleich nach Sonnenuntergang das Geschrille der Heuschrecken laut zu werden anfängt, da fühlt man sich doch einmal in der Welt zu Hause und nicht wie geborgt oder im Exil. Ich lasse mir's gefallen, als wenn ich hier geboren und erzogen wäre und nun von einer Grönlandsfahrt, von einem Walfischfange zurückkäme. Auch der vaterländische Staub, der manchmal den Wagen umwirbelt, von dem ich so lange nichts erfahren habe, wird begrüßt. Das Glocken — und Schellengeläute der Heuschrecken ist allerliebst, durchdringend und nicht unangenehm. Lustig klingt es, wenn mutwillige Buben mit einem Feld solcher Sängerinnen um die Wette pfeifen; man bildet sich ein, daß sie einander wirklich steigern. Auch der Abend ist vollkommen milde wie der Tag.

      Wenn mein Entzücken hierüber jemand vernähme, der in Süden wohnte, von Süden herkäme, er würde mich für sehr kindisch halten. Ach, was ich hier ausdrücke, habe ich lange gewußt, so lange, als ich unter einem bösen Himmel dulde, und jetzt mag ich gern diese Freude als Ausnahme fühlen, die wir als eine ewige Naturnotwendigkeit immerfort genießen sollten.

      Trient, den 10. September, abends.

      Ich bin in der Stadt herumgegangen, die uralt ist und in einigen Straßen neue wohlgebaute Häuser hat. In der Kirche hängt ein Bild, wo das versammelte Konzilium einer Predigt des Jesuitengenerals zuhört. Ich möchte wohl wissen, was er ihnen aufgebunden hat. Die Kirche dieser Väter bezeichnet sich gleich von außen durch rote Marmorpilaster an der Fassade; ein schwerer Vorhang schließt die Türe, den Staub abzuhalten. Ich hob ihn auf und trat in eine kleine Vorkirche; die Kirche selbst ist durch ein eisernes Gitter geschlossen, doch so, daß man sie ganz übersehen kann. Es war alles still und ausgestorben, denn es wird hier kein Gottesdienst mehr gehalten. Die vordere Türe stand nur auf, weil zur Vesperzeit alle Kirchen geöffnet sein sollen.

      Wie ich nun so dastehe und der Bauart nachdenke, die ich den übrigen Kirchen dieser Väter ähnlich fand, tritt ein alter Mann herein, das schwarze Käppchen sogleich abnehmend. Sein alter, schwarzer, vergrauter Rock deutete auf einen verkümmerten Geistlichen; er kniet vor dem Gitter nieder und steht nach einem kurzen Gebet wieder auf. Wie er sich umkehrt, sagt er halblaut für sich: "Da haben sie nun die Jesuiten herausgetrieben; sie hätten ihnen auch zahlen sollen, was die Kirche gekostet hat. Ich weiß wohl, was sie gekostet hat und das Seminarium, wie viele Tausende." Indessen war er hinaus und hinter ihm der Vorhang zugefallen, den ich lüftete und mich still hielt. Er war auf der obern Stufe stehengeblieben und sagte: "Der Kaiser hat es nicht getan, der Papst hat es getan." Mit dem Gesicht gegen die Straße gekehrt und ohne mich zu vermuten, fuhr er fort: "Erst die Spanier, dann wir, dann die Franzosen. Abels Blut schreit über seinen Bruder Kain!" und so ging er die Treppe hinab, immer mit sich redend, die Straße hin. Wahrscheinlich ist es ein Mann, den die Jesuiten erhielten, und der über den ungeheuern Fall des Ordens den Verstand verlor und nun täglich kommt, in dem leeren Gefäß die alten Bewohner zu suchen und nach einem kurzen Gebet ihren Feinden den Fluch zu geben.

      Ein junger Mann, den ich um die Merkwürdigkeiten der Stadt fragte, zeigte mir ein Haus, das man des Teufels Haus nennt, welches der sonst allzeit fertige Zerstörer in einer Nacht mit schnell herbeigeschafften Steinen erbaut haben soll. Das eigentliche Merkwürdige daran bemerkte der gute Mensch aber nicht, daß es nämlich das einzige Haus von gutem Geschmack ist, das ich in Trient gesehen habe, in einer älteren Zeit gewiß von einem guten Italiener aufgeführt.

      Abends um fünf Uhr reiste ich ab; wieder das Schauspiel von gestern abend und die Heuschrecken, die gleich bei Sonnenuntergang zu schrillen anfangen. Wohl eine Meile weit fährt man zwischen Mauern, über welche sich Traubengeländer sehen lassen; andere Mauern, die nicht hoch genug sind, hat man mit Steinen, Dornen und sonst zu erhöhen gesucht, um das Abrupfen der Trauben den Vorbeigehenden zu wehren. Viele Besitzer bespritzen die vordersten Reihen mit Kalk, der die Trauben ungenießbar macht, dem Wein aber nichts schadet, weil die Gärung alles wieder heraustreibt.

Den 11. September, abends

      Hier bin ich nun in Roveredo, wo die Sprache sich abschneidet; oben herein schwankt es noch immer vom Deutschen zum Italienischen. Nun hatte ich zum erstenmal einen stockwelschen Postillon; der Wirt spricht kein Deutsch, und ich muß nun meine Sprachkünste versuchen. Wie froh bin ich, daß nunmehr die geliebte Sprache lebendig, die Sprache des Gebrauchs wird!

Torbole, den 12. September, nach Tische

      Wie sehr wünschte ich meine Freunde einen Augenblick neben mich, daß sie sich der Aussicht freuen könnten, die vor mir liegt!

      Heute abend hätte ich können in Verona sein, aber es lag mir noch eine herrliche Naturwirkung an der Seite, ein köstliches Schauspiel, der Gardasee, den wollte ich nicht versäumen, und bin herrlich für meinen Umweg belohnt. Nach fünfen fuhr ich von Roveredo fort, ein Seitental hinauf, das seine Wasser noch in die Etsch gießt. Wenn man hinaufkommt, liegt ein ungeheurer Felsriegel hinten vor, über den man nach dem See hinunter muß. Hier zeigten sich die schönsten Kalkfelsen zu malerischen Studien. Wenn man hinabkommt, liegt ein örtchen am nördlichen Ende des Sees und ist ein kleiner Hafen oder vielmehr Anfahrt daselbst, es heißt Torbole. Die Feigenbäume hatten mich schon den Weg herauf häufig begleitet, und indem ich in das Felsamphitheater hinabstieg, fand ich die ersten ölbäume voller Oliven. Hier traf ich auch zum erstenmal die weißen kleinen Feigen als gemeine Frucht, welche mir die Gräfin Lanthieri verheißen hatte.

      Aus dem Zimmer, in dem ich sitze, geht eine Türe nach dem Hof hinunter; ich habe meinen Tisch davor gerückt und die Aussicht mit einigen Linien gezeichnet. Man übersieht den See beinah in seiner ganzen Länge, nur am Ende links entwendet er sich unsern Augen. Das Ufer, auf beiden Seiten von Hügeln und Bergen eingefaßt, glänzt von unzähligen kleinen Ortschaften.

      Nach Mitternacht bläst der Wind von Norden nach Süden, wer also den See hinab will, muß zu dieser Zeit fahren; denn schon einige Stunden vor Sonnenaufgang wendet sich der Luftstrom und zieht nordwärts. Jetzo nachmittag wehet er stark gegen mich und kühlt die heiße Sonne gar lieblich. Zugleich lehrt mich Volkmann, daß dieser See ehemals Benacus geheißen, und bringt einen Vers des Virgil, worin dessen gedacht wird:

      Fluctibus et fremitu resonans Benace marino.

      Der erste lateinische Vers, dessen Inhalt lebendig vor mir steht, und der in dem Augenblicke, da der Wind immer stärker wächst und der See höhere Wellen gegen die Anfahrt wirft, noch heute so wahr ist als vor vielen Jahrhunderten. So manches hat sich verändert, noch aber stürmt der Wind in dem See, dessen Anblick eine Zeile Virgils noch immer veredelt.

      Geschrieben unter dem fünfundvierzigsten Grade funfzig Minuten.

      In der Abendkühle ging ich spazieren und befinde mich nun wirklich in einem neuen Lande, in einer ganz fremden Umgebung. Die Menschen leben ein nachlässiges Schlaraffenleben: erstlich haben die Türen keine Schlösser; der Wirt aber versicherte mir, ich könnte ganz ruhig sein, und wenn alles, was ich bei mir hätte, aus Diamanten bestünde; zweitens sind die Fenster mit ölpapier statt Glasscheiben geschlossen; drittens fehlt eine höchst nötige Bequemlichkeit, so daß man dem Naturzustande hier ziemlich nahe kömmt. Als ich den Hausknecht nach einer gewissen Gelegenheit fragte, deutete er in den Hof hinunter. "Qui abasso puň servirsi!" Ich fragte: "Dove?" — "Da per tutto, dove vuol!" antwortete er freundlich. Durchaus zeigt sich die größte Sorglosigkeit, doch Leben und Geschäftigkeit genug. Den ganzen Tag verführen die Nachbarinnen ein Geschwätz, ein Geschrei, und haben alle zugleich etwas zu tun, etwas zu schaffen. Ich habe noch kein müßiges Weib gesehn.

      Der Wirt verkündigte mir mit italienischer Emphase, daß er sich glücklich finde, mir mit der köstlichsten Forelle dienen zu können. Sie werden bei Torbole gefangen, wo der Bach vom Gebirge herunter kommt und der Fisch den Weg hinauf sucht. Der Kaiser erhält von diesem Fange zehntausend Gulden Pacht. Es sind keine eigentlichen Forellen, groß, manchmal funfzig Pfund schwer, über den ganzen Körper bis auf den Kopf hinauf punktiert; der Geschmack zwischen Forelle und Lachs, zart und trefflich.


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