Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 8. Johann Wolfgang von Goethe

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Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 8 - Johann Wolfgang von Goethe


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und eingespannt; Wilhelm war entschlossen, abzupacken und hierzubleiben. Er war in der größten Bewegung. Als er ein Mädchen zur Treppe heraufkommen hörte, die ihm anzeigen wollte, daß alles fertig sei, sann er geschwind auf eine Ursache, die ihn hierzubleiben nötigte, und seine Augen ruhten ohne Aufmerksamkeit auf dem Billett, das er in der Hand hielt. "Um Gottes willen!" rief er aus, "was ist das? Das ist nicht die Hand der Gräfin, es ist die Hand der Amazone!"

      VIII. Buch, 2. Kapitel — 2

      Das Mädchen trat herein, bat ihn herunterzukommen und führte Felix mit sich fort. "Ist es möglich?" rief er aus, "ist es wahr? Was soll ich tun? Bleiben und abwarten und aufklären? oder eilen? eilen und mich einer Entwicklung entgegenstürzen? Du bist auf dem Wege zu ihr und kannst zaudern? Diesen Abend sollst du sie sehen und willst dich freiwillig ins Gefängnis einsperren? Es ist ihre Hand, ja sie ist's! Diese Hand beruft dich, ihr Wagen ist angespannt, dich zu ihr zu führen; nun löst sich das Rätsel: Lothario hat zwei Schwestern. Er weiß mein Verhältnis zu der einen; wieviel ich der andern schuldig bin, ist ihm unbekannt. Auch sie weiß nicht, daß der verwundete Vagabund, der ihr, wo nicht sein Leben, doch seine Gesundheit verdankt, in dem Hause ihres Bruders so unverdient gütig aufgenommen worden ist."

      Felix, der sich unten im Wagen schaukelte, rief: "Vater, komm! o komm! sieh die schönen Wolken, die schönen Farben!" — "Ja, ich komme", rief Wilhelm, indem er die Treppe hinuntersprang, "und alle Erscheinungen des Himmels, die du gutes Kind noch sehr bewunderst, sind nichts gegen den Anblick, den ich erwarte."

      Im Wagen sitzend, rief er nun alle Verhältnisse in sein Gedächtnis zurück. "So ist also auch diese Natalie die Freundin Theresens! welch eine Entdeckung, welche Hoffnung und welche Aussichten! Wie seltsam, daß die Furcht, von der einen Schwester reden zu hören, mir das Dasein der andern ganz und gar verbergen konnte!" Mit welcher Freude sah er seinen Felix an; er hoffte für den Knaben wie für sich die beste Aufnahme.

      Der Abend kam heran, die Sonne war untergegangen, der Weg nicht der beste, der Postillon fuhr langsam, Felix war eingeschlafen, und neue Sorgen und Zweifel stiegen in dem Busen unseres Freundes auf. "Von welchem Wahn, von welchen Einfällen wirst du beherrscht!" sagte er zu sich selbst, "eine ungewisse ähnlichkeit der Handschrift macht dich auf einmal sicher und gibt dir Gelegenheit, das wunderbarste Märchen auszudenken." Er nahm das Billett wieder vor, und bei dem abgehenden Tageslicht glaubte er wieder die Handschrift der Gräfin zu erkennen; seine Augen wollten im einzelnen nicht wiederfinden, was ihm sein Herz im ganzen auf einmal gesagt hatte. "So ziehen dich denn doch diese Pferde zu einer schrecklichen Szene! Wer weiß, ob sie dich nicht in wenig Stunden schon wieder zurückführen werden? Und wenn du sie nur noch allein anträfest; aber vielleicht ist ihr Gemahl gegenwärtig, vielleicht die Baronesse! Wie verändert werde ich sie finden! Werde ich vor ihr auf den Füßen stehen können?"

      Nur eine schwache Hoffnung, daß er seiner Amazone entgegengehe, konnte manchmal durch die trüben Vorstellungen durchblicken. Es war Nacht geworden, der Wagen rasselte in einen Hof hinein und hielt still; ein Bedienter mit einer Wachsfackel trat aus einem prächtigen Portal hervor und kam die breiten Stufen hinunter bis an den Wagen. "Sie werden schon lange erwartet", sagte er, indem er das Leder aufschlug. Wilhelm, nachdem er ausgestiegen war, nahm den schlafenden Felix auf den Arm, und der erste Bediente rief zu einem zweiten, der mit einem Lichte in der Türe stand: "Führe den Herrn gleich zur Baronesse."

      Blitzschnell fuhr Wilhelmen durch die Seele: "Welch ein Glück! Es sei vorsätzlich oder zufällig, die Baronesse ist hier! Ich soll sie zuerst sehen! Wahrscheinlich schläft die Gräfin schon! Ihr guten Geister, helft, daß der Augenblick der größten Verlegenheit leidlich vorübergehe!"

      Er trat in das Haus und fand sich an dem ernsthaftesten, seinem Gefühle nach dem heiligsten Orte, den er je betreten hatte. Eine herabhängende blendende Laterne erleuchtete eine breite, sanfte Treppe, die ihm entgegenstand und sich oben beim Umwenden in zwei Teile teilte. Marmorne Statuen und Büsten standen auf Piedestalen und in Nischen geordnet; einige schienen ihm bekannt. Jugendeindrücke verlöschen nicht, auch in ihren kleinsten Teilen. Er erkannte eine Muse, die seinem Großvater gehört hatte, zwar nicht an ihrer Gestalt und an ihrem Wert, doch an einem restaurierten Arme und an den neueingesetzten Stücken des Gewandes. Es war, als wenn er ein Märchen erlebte. Das Kind ward ihm schwer; er zauderte auf den Stufen und kniete nieder, als ob er es bequemer fassen wollte. Eigentlich aber bedurfte er einer augenblicklichen Erholung. Er konnte kaum sich wieder aufheben. Der vorleuchtende Bediente wollte ihm das Kind abnehmen, er konnte es nicht von sich lassen. Darauf trat er in den Vorsaal, und zu seinem noch größern Erstaunen erblickte er das wohlbekannte Bild vom kranken Königssohn an der Wand. Er hatte kaum Zeit, einen Blick darauf zu werfen, der Bediente nötigte ihn durch ein paar Zimmer in ein Kabinett. Dort, hinter einem Lichtschirme, der sie beschattete, saß ein Frauenzimmer und las. "O daß sie es wäre!" sagte er zu sich selbst in diesem entscheidenden Augenblick. Er setzte das Kind nieder, das aufzuwachen schien, und dachte sich der Dame zu nähern, aber das Kind sank schlaftrunken zusammen, das Frauenzimmer stand auf und kam ihm entgegen. Die Amazone war's! Er konnte sich nicht halten, stürzte auf seine Knie und rief aus: "Sie ist's!" Er faßte ihre Hand und küßte sie mit unendlichem Entzücken. Das Kind lag zwischen ihnen beiden auf dem Teppich und schlief sanft.

      Felix ward auf das Kanapee gebracht, Natalie setzte sich zu ihm, sie hieß Wilhelmen auf den Sessel sitzen, der zunächst dabeistand. Sie bot ihm einige Erfrischungen an, die er ausschlug, indem er nur beschäftigt war, sich zu versichern, daß sie es sei, und ihre durch den Lichtschirm beschatteten Züge genau wiederzusehen und sicher wiederzuerkennen. Sie erzählte ihm von Mignons Krankheit im allgemeinen, daß das Kind von wenigen tiefen Empfindungen nach und nach aufgezehrt werde, daß es bei seiner großen Reizbarkeit, die es verberge, von einem Krampf an seinem armen Herzen oft heftig und gefährlich leide, daß dieses erste Organ des Lebens bei unvermuteten Gemütsbewegungen manchmal plötzlich stillestehe und keine Spur der heilsamen Lebensregung in dem Busen des guten Kindes gefühlt werden könne. Sei dieser ängstliche Krampf vorbei, so äußere sich die Kraft der Natur wieder in gewaltsamen Pulsen und ängstige das Kind nunmehr durch übermaß, wie es vorher durch Mangel gelitten habe.

      Wilhelm erinnerte sich einer solchen krampfhaften Szene, und Natalie bezog sich auf den Arzt, der weiter mit ihm über die Sache sprechen und die Ursache, warum man den Freund und Wohltäter des Kindes gegenwärtig herbeigerufen, umständlicher vorlegen würde. "Eine sonderbare Veränderung", fuhr Natalie fort, "werden Sie an ihr finden; sie geht nunmehr in Frauenkleidern, vor denen sie sonst einen so großen Abscheu zu haben schien."

      "Wie haben Sie das erreicht?" fragte Wilhelm.

      "Wenn es wünschenswert war, so sind wir es nur dem Zufall schuldig. Hören Sie, wie es zugegangen ist. Sie wissen vielleicht, daß ich immer eine Anzahl junger Mädchen um mich habe, deren Gesinnungen ich, indem sie neben mir aufwachsen, zum Guten und Rechten zu bilden wünsche. Aus meinem Munde hören sie nichts, als was ich selber für wahr halte, doch kann ich und will ich nicht hindern, daß sie nicht auch von andern manches vernehmen, was als Irrtum, als Vorurteil in der Welt gäng und gäbe ist. Fragen sie mich darüber, so suche ich, soviel nur möglich ist, jene fremden, ungehörigen Begriffe irgendwo an einen richtigen anzuknüpfen, um sie dadurch, wo nicht nützlich, doch unschädlich zu machen. Schon seit einiger Zeit hatten meine Mädchen aus dem Munde der Bauerkinder gar manches von Engeln, vom Knechte Ruprecht, vom Heiligen Christe vernommen, die zu gewissen Zeiten in Person erscheinen, gute Kinder beschenken und unartige bestrafen sollten. Sie hatten eine Vermutung, daß es verkleidete Personen sein müßten, worin ich sie denn auch bestärkte und, ohne mich viel auf Deutungen einzulassen, mir vornahm, ihnen bei der ersten Gelegenheit ein solches Schauspiel zu geben. Es fand sich eben, daß der Geburtstag von Zwillingsschwestern, die sich immer sehr gut betragen hatten, nahe war; ich versprach, daß ihnen diesmal ein Engel die kleinen Geschenke bringen sollte, die sie so wohl verdient hätten. Sie waren äußerst gespannt auf diese Erscheinung. Ich hatte mir Mignon zu dieser Rolle ausgesucht, und sie ward an dem bestimmten Tage in ein langes, leichtes, weißes Gewand anständig gekleidet. Es fehlte nicht an einem goldenen Gürtel um die Brust und an einem gleichen Diadem in den Haaren. Anfangs wollte ich die Flügel weglassen, doch bestanden die Frauenzimmer, die sie anputzten, auf ein Paar großer goldner Schwingen, an denen sie recht ihre


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