Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке. Генрих Бёлль
Читать онлайн книгу.auf dem Friedhof begraben, hatten seit tausend Jahren gebetet und unterm Kruzifix Kartoffeln mit Sauce und Speck mit Kraut gegessen. Wozu? Und wissen Sie, was sie schrien, während sie mich verprügelten? Lamm Gottes. Das war mein Spitzname.“
Rot über grün, weiß über grün, neue Figuren tauchten wie Zeichen auf; rasch verweht, nichts blieb; Musik ohne Melodie, Malerei ohne Bild; nur Vierecke, Rechtecke, Rhomben in vielfacher Zahl; klingende Bälle am schwarzen Rand.
„Und später versuchte ich es anders, verschloss die Tür zu Hause, schob Möbel davor, türmte auf, was ich finden konnte. Kisten, Gerümpel und Matratzen, bis sie die Polizei alarmierten, und die kam, den Schulschwänzer abzuholen; die umstellte das Haus, schrie: ‚Komm raus, du Bengel‘, aber ich kam nicht raus, und sie brachen die Tür auf, schoben die Möbel beiseite, und sie hatten mich, brachten mich in die Schule, auf dass ich weiter geprügelt, weiter in die Gosse gestoßen, weiter Lamm Gottes geschimpft würde; er hatte doch gesagt: weide meine Lämmer, aber sie weideten seine Lämmer nicht, wenn es überhaupt seine Lämmer waren. Alles vergebens, Herr Doktor, umsonst weht der Wind, umsonst fällt der Schnee, umsonst blühen die Bäume und fallen die Blätter – sie essen Kartoffeln mit Sauce oder Speck mit Kraut.
Manchmal war sogar meine Mutter zu Hause, betrunken und schmutzig, roch nach Tod, dunstete Verwesung aus und schrie: wozuwozuwozu, schrie es öfter als alle Erbarme dich unser[28] in allen Litaneien; es machte mich wahnsinnig, wenn sie so stundenlang wozuwozuwozu schrie, und ich lief weg, ein nasses Gotteslamm, lief durch den Regen, hungrig, Lehm klebte mir an den Schuhen, am Körper, ganz eingepackt in nassen Lehm war ich, hockte da auf ihren Rübenfeldern, aber ich lag lieber in lehmigen Furchen, ließ den Regen auf mich regnen, als dieses schreckliche Wozu zu hören, und irgendwer erbarmte sich meiner, irgendwann, brachte mich nach Hause, in die Schule zurück, heim in dieses Nest, das Denklingen hieß, und sie schlugen mich wieder, riefen mich Lamm Gottes, und meine Mutter betete ihre endlose, schreckliche Litanei: Wozu?, und ich lief wieder weg, und wieder erbarmten sie sich meiner, und diesmal brachten sie mich in die Fürsorge. Dort kannte mich niemand, keins von den Kindern, keiner von den Erwachsenen, aber ich war noch nicht zwei Tage in der Fürsorge, nannten sie mich auch dort Lamm Gottes, und ich bekam Angst, obwohl sie mich nicht schlugen: sie lachten nur über mich, weil ich so viele Worte nicht kannte; das Wort Frühstück; ich kannte nur: essen, irgendwann, wenn etwas da war oder ich etwas fand; aber als ich auf der Tafel las: Frühstück 30 Gramm Butter, 200 Gramm Brot, 50 Gramm Marmelade, Milchkaffee, fragte ich einen: ‚Was ist das, Frühstück?‘ Und sie umringten mich alle, auch die Erwachsenen kamen, sie lachten und fragten: ‚Frühstück, weißt du nicht, was das ist, hast du denn noch nie gefrühstückt?‘ ‚Nein‘, sagte ich. ‚Und in der Bibel‘, sagte der eine Erwachsene, ‚hast du da nie das Wort Frühstück gelesen?‘, und der andere Erwachsene fragte den einen: ‚Sind Sie so sicher, dass in der Bibel das Wort Frühstück überhaupt vorkommt?‘ ‚Nein‘, sagte der eine, ‚aber irgendwo, in irgendeinem Lesestück oder zu Hause, muss er doch das Wort Frühstück einmal gehört haben, er ist doch bald dreizehn, das ist schlimmer als bei Wilden; jetzt kann man sich eine Vorstellung vom Ausmaß des Sprachzerfalls machen. ‘ Und ich wusste nicht, dass Krieg gewesen war, vor kurzer Zeit, und sie fragten mich, ob ich denn nie auf einem Friedhof gewesen sei, wo auf den Grabsteinen stand: ‚Gefallen‘, und ich sagte, doch, das hätte ich gesehen, und was ich mir denn unter ‚gefallen‘ vorgestellt hätte, und ich sagte, ich hätte mir vorgestellt, die dort beerdigt seien, wären tot umgefallen; da lachten sie noch mehr als bei dem Frühstück, und sie gaben uns Geschichtsunterricht, vom Anfang der Zeiten an, aber bald war ich vierzehn, Herr Doktor, und der Hoteldirektor kam ins Heim, und wir vierzehnjährigen Jungen mussten uns auf dem Flur vor dem Zimmer des Rektors aufstellen, und der Rektor kam mit dem Hoteldirektor. Und sie gingen an uns vorbei, blickten uns in die Augen und sagten beide, sagten wie aus einem Munde: ‚Dienen, wir suchen Jungen, die dienen können‘, aber sie suchten nur mich heraus. Ich musste sofort meine Sachen in einen Karton packen und fuhr mit dem Hoteldirektor hierher, und er sagte im Auto zu mir: ‚Hoffentlich erfährst du nie, wieviel dein Gesicht wert ist. Du bist ja das reinste Lamm Gottes‘, und ich hatte Angst, Herr Doktor, habe sie immer noch und warte immer darauf, dass sie mich schlagen.“
„Schlagen sie dich?“
„Nein, nie. Nur möcht ich so gern wissen, was der Krieg war, ich musste ja aus der Schule weg, bevor sie es mir erklären konnten. Kennen Sie den Krieg?“
„Ja.“
„Haben Sie ihn mitgemacht?“
„Ja.“
„Was haben Sie getan?“
„Ich war Spezialist für Sprengungen, Hugo. Kannst du dir darunter etwas vorstellen?“
„Ja, ich habe gesehen, wie sie im Steinbruch hinter Denklingen sprengten.“
„Genau das hab ich gemacht, Hugo, nur habe ich nicht Felsen gesprengt, sondern Häuser und Kirchen. Das hab ich noch nie jemandem erzählt, außer meiner Frau, aber die ist schon lange tot, und so weiß es niemand außer dir, nicht einmal meine Eltern und meine Kinder wissen es. Du weißt, dass ich Architekt bin und eigentlich Häuser bauen sollte, aber ich hab nie welche gebaut, immer nur welche gesprengt, und auch die Kirchen, die ich als Junge auf zartes Zeichenpapier zeichnete, weil ich davon träumte, sie zu bauen; die hab ich nie gebaut. Als ich zur Armee kam, fanden sie in meinen Papieren einen Hinweis, dass ich eine Doktorarbeit über ein statisches Problem geschrieben hatte. Statik, Hugo, das ist die Lehre vom Gleichgewicht der Kräfte, die Lehre vom Spannungs- und Verschiebungszustand von Tragwerken; ohne Statik kannst du nicht einmal eine Negerhütte bauen, und das Gegenteil von Statik ist die Dynamik, das klingt nach Dynamit, wie man es beim Sprengen braucht, und hängt auch mit Dynamit zusammen. Den ganzen Krieg über hatte ich nur mit Dynamit zu tun. Ich verstand was von Statik, Hugo, verstand auch was von Dynamik, verstand eine ganze Menge von Dynamit, hab alle Bücher verschlungen, die es darüber gab. Man muss, wenn man sprengen will, nur wissen, wo man die Ladung anbringt und wie stark sie sein muss. Das konnte ich, Junge, und ich sprengte also, ich sprengte Brücken und Wohnblocks, Kirchen und Bahnüberführungen, Villen und Straßenkreuzungen, ich bekam Orden dafür und wurde befördert: vom Leutnant zum Oberleutnant, vom Oberleutnant zum Hauptmann, und ich bekam Sonderurlaub und Belobigungen, weil ich so gut wusste, wie man sprengen muss. Und am Schluss des Krieges war ich einem General unterstellt, der hatte nur ein Wort im Kopf: Schussfeld. Weißt du, was Schussfeld ist? Nein?“
Fähmel hob den Billardstock wie ein Schießgewehr an die Schulter, zielte mit der Spitze nach draußen, auf den Turm von Sankt Severin.
„Siehst du“, sagte er, „wenn ich jetzt auf die Brücke schießen wollte, die hinter Sankt Severin liegt, würde die Kirche im Schussfeld liegen, also müsste Sankt Severin gesprengt werden, ganz rasch, sofort und schnell, damit ich auf die Brücke schießen könnte, und ich sag dir, Hugo, ich hätte Sankt Severin in die Luft gesprengt, obwohl ich wusste, dass mein General verrückt war, und obwohl ich wusste, dass Schussfeld ein leerer Wahn ist, denn von oben, verstehst du, brauchst du kein Schussfeld, und schließlich konnte es auch dem einfältigsten aller Generale nicht verborgen bleiben, dass inzwischen die Flugzeuge erfunden worden waren, aber meiner war verrückt und hatte seine Lektion gelernt: Schussfeld, und ich besorgte es ihm; ich hatte eine gute Mannschaft beisammen: Physiker und Architekten, und wir sprengten, was uns in den Weg kam; das letzte war was Großes, was Gewaltiges, ein ganzer Komplex riesiger, sehr solider Gebäude: eine Kirche, Stallungen, Mönchszellen, ein Verwaltungsgebäude, ein Bauernhof, eine ganze Abtei, Hugo – die lag genau zwischen zwei Armeen, einer deutschen und einer amerikanischen —, und ich besorgte der deutschen Armee ihr Schussfeld, das sie gar nicht brauchte; da knieten sich Mauern vor mir nieder, auf den Höfen brüllte das Vieh in den Ställen, und die Mönche verfluchten mich, aber ich war nicht aufzuhalten, die ganze Abtei Sankt Anton im Kissatal sprengte ich, drei Tage vor Kriegsschluss. Korrekt, Junge, immer korrekt, wie du mich kennst.“
Er senkte den Stock, den er immer noch auf sein imaginäres Ziel gerichtet hielt, legte ihn wieder in die Fingerbeuge, stieß die Billardkugel an; weiß rollte sie über grün, schlug in wildem Zickzack vom schwarzen Rand zum schwarzen Rand. Dumpf erbrachen die Glocken von Sankt Severin
28
Worte aus dem Ordinariumstext, feststehendem Messtext der römischkatholischen Kirche.