Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке. Эрих Мария Ремарк

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Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке - Эрих Мария Ремарк


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über fernen Wäldern, über unbekannten Horizonten, in unbekannten Nächten, ich will nicht untergehen!

      Erst nach einiger Zeit merkte er, dass es still geworden war. „Was war das?“ fragte das Mädchen.

      „Das waren die deutschen Tänze von Franz Schubert“, sagte der Geiger heiser.

      Der alte Mann neben ihm lachte auf. „Deutsche Tänze!“ Er strich sich über die Narbe auf seiner Stirn. „Deutsche Tänze“, wiederholte er.

      Der Sekretär schaltete das Licht von der Tür her an. „Der nächste…“, sagte er.

      Kern bekam eine Anweisung für einen Schlafplatz im Hotel Bristol und zehn Eßkarten für die Mensa am Wenzelsplatz. Er lief fast durch die Straßen, aus Angst, dass er zu spät käme.

      Er hatte sich nicht geirrt. Alle Plätze in der Mensa waren besetzt, und er musste noch warten. Unter den Essenden sah er einen seiner früheren Universitätsprofessoren. Er wollte schon auf ihn zugehen und ihn begrüßen; aber dann besann er sich und ließ es. Er wusste, dass viele Emigranten nicht an ihr früheres Leben erinnert werden wollten.

      Nach einer Weile sah er den Geiger kommen und unschlüssig umherstehen. Er winkte ihm. Der Geiger sah ihn erstaunt an und kam langsam herüber. Kern wurde verwirrt. Er hatte, als er ihn wiedersah, geglaubt, den Geiger schon lange zu kennen; jetzt fiel ihm ein, dass sie noch nicht einmal miteinander gesprochen hatten.

      „Entschuldigen Sie“, sagte er. „Ich habe Sie vorhin spielen hören, und ich dachte, Sie wüssten vielleicht nicht Bescheid hier.“

      „Das weiß ich auch nicht. Sie?“

      „Ja. Ich war schon zweimal hier. Sind Sie noch nicht lange draußen?“

      „Vierzehn Tage. Ich bin heute hier angekommen.“

      Kern sah, dass der Professor und jemand neben ihm aufstanden. „Da werden zwei Plätze frei“, sagte er rasch. „Kommen Sie!“

      Sie drängten sich zwischen den Tischen durch. Der Professor kam ihnen durch den schmalen Gang entgegen. Er blickte Kern zweifelnd an und blieb stehen. „Kenne ich Sie nicht?“

      „Ich war einer Ihrer Schüler“, sagte Kern.

      „Ach so, ja…“ Der Professor nickte. „Sagen Sie, wissen Sie vielleicht Leute, die Staubsauger brauchen könnten? Mit zehn Prozent Rabatt und Ratenzahlung? Oder Grammophone mit eingebautem Radio?“

      Kern war nur einen Augenblick überrascht. Der Professor war eine Autorität in der Krebsforschung gewesen. „Nein, leider nicht“, sagte er mitleidig. Er wusste, was es hieß, Staubsauger und Grammophone verkaufen zu wollen.

      „Ich hätte es mir denken können.“ Der Professor sah ihn abwesend an. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er dann, als spräche er zu jemand ganz anderem, und ging weiter.

      Es gab Graupensuppe mit Rindfleisch. Kern löffelte seinen Teller rasch leer. Als er aufschaute, saß der Geiger da, die Hände auf den Tisch gelegt, den Teller unberührt vor sich.

      „Essen Sie nicht?“ fragte Kern erstaunt.

      „Ich kann nicht.“

      „Sind Sie krank?“ Der Birnenschädel des Geigers sah sehr gelb und farblos aus unter dem kalkigen Licht der schirmlosen Deckenlampen.

      „Nein.“

      „Sie sollten essen“, sagte Kern.

      Der Geiger antwortete nicht. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte hastig. Dann schob er seinen Teller beiseite. „So kann man nicht leben!“ stieß er schließlich hervor.

      Kern sah ihn an. „Haben Sie keinen Pass?“ fragte er.

      „Doch. Aber…“ Der Geiger zerdrückte nervös eine Zigarette. „So kann man doch nicht leben! So ohne alles! Ohne Boden unter den Füßen!“

      „Mein Gott!“ sagte Kern. „Sie haben einen Pass, und Sie haben Ihre Geige…“

      Der Geiger blickte auf. „Das hat doch nichts damit zu tun“, erwiderte er gereizt. „Begreifen Sie das nicht?“

      „Doch.“

      Kern war maßlos enttäuscht. Er hatte geglaubt, wer so spielen konnte, müsste etwas Besonderes sein. Jemand, von dem etwas zu lernen war. Und nun sah er einen verbitterten Menschen da sitzen, der ihm, obwohl er sicher fünfzehn Jahre älter war als er, vorkam wie ein eigensinniges Kind. Erstes Stadium der Emigration, dachte er. Wird schon still werden.

      „Essen Sie Ihre Suppe wirklich nicht?“ fragte er.

      „Nein.“

      „Dann geben Sie sie mir. Ich bin noch hungrig.“

      Der Geiger schob sie ihm hin. Kern aß sie langsam auf. Jeder Löffel voll war Kraft, dem Elend zu widerstehen, und er wollte nichts davon verlieren. Dann stand er auf. „Ich danke Ihnen für die Suppe. Ich hätte lieber gehabt, Sie hätten sie selbst gegessen.“

      Der Geiger sah ihn an. Sein Gesicht war von Falten zerrissen. „Das verstehen Sie noch nicht“, sagte er ablehnend.

      „Das ist leichter zu verstehen, als Sie glauben“, erwiderte Kern. „Sie sind unglücklich, weiter nichts.“

      „Weiter nichts?“

      „Nein. Man meint anfangs, es sei etwas Besonderes. Aber Sie werden es schon merken, wenn Sie länger draußen sind. Unglück ist das Alltäglichste, was es gibt.“

      Er ging hinaus. Zu seiner Verwunderung sah er draußen, auf der andern Seite der Straße, den Professor hin- und herwandern. Er hatte die charakteristische Haltung, die Hände auf dem Rücken, den Körper etwas vorgebeugt, die er annahm, wenn er vor dem Katheder auf- und abschritt, um irgendeine neue verwickelte Entdeckung auf dem Gebiet der Krebsforschung zu erläutern. Nur, dass er jetzt vielleicht an Staubsauger und Grammophone dachte.

      Kern zögerte eine Sekunde. Er hätte den Professor nie angesprochen. Doch jetzt, nachdem er den Geiger gesehen hatte, ging er zu ihm hinüber.

      „Herr Professor“, sagte er, „entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich Ihnen jemals einen Rat geben könnte. Aber jetzt möchte ich es tun.“

      Der Professor blieb stehen. „Gerne“, erwiderte er zerstreut. „Sehr gerne. Ich bin für jeden Rat dankbar. Wie war doch Ihr Name?“

      „Kern. Ludwig Kern.“

      „Ich bin für jeden Rat dankbar, Herr Kern. Ganz außerordentlich dankbar, wirklich!“

      „Es ist kaum ein Rat. Nur etwas Erfahrung. Sie versuchen, Staubsauger und Grammophone zu verkaufen. Lassen Sie es. Es ist Zeitverschwendung. Hunderte von Emigranten versuchen das hier. Es ist ebenso sinnlos, wie Lebensversicherungen abschließen zu wollen.“

      „Das wollte ich gerade nächstens versuchen“, unterbrach ihn der Professor lebhaft. „Jemand hat mir gesagt, es wäre leicht, und es wäre etwas damit zu verdienen.“

      „Er hat Ihnen eine Provision für jeden Abschluss angeboten, nicht wahr?“

      „Ja, natürlich, eine gute Provision.“

      „Aber sonst nichts? Keine Spesen und kein Fixum?“

      „Nein, das nicht.“

      „Das kann ich Ihnen auch anbieten. Es bedeutet gar nichts. Herr Professor, haben Sie schon einen Staubsauger verkauft? Oder ein Grammophon?“

      Der Professor sah hilflos auf. „Nein“, sagte er sonderbar beschämt, „aber ich hoffe, in der nächsten Zeit…“

      „Geben Sie es auf“, erwiderte Kern. „Das ist mein Rat. Kaufen Sie eine Handvoll Schnürsenkel. Oder ein paar Büchsen Stiefelwichse. Oder einige Pakete Sicherheitsnadeln. Kleine Sachen, die jeder brauchen kann. Handeln Sie damit. Sie werden nicht viel daran verdienen. Aber Sie werden ab und zu etwas verkaufen. Auch damit handeln Hunderte von Emigranten. Aber man verkauft Sicherheitsnadeln leichter als Staubsauger.“

      Der Professor blickte ihn nachdenklich an. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht.“

      Kern


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