Auf Gottes Wegen. Bjørnstjerne Bjørnson

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Auf Gottes Wegen - Bjørnstjerne Bjørnson


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einen Menschen so liebe, das sagte er sich selber. Aber er konnte nicht anders.

      Unter solchen und tausend ähnlichen Gedanken blieb er nach und nach zurück und bog vom Weg ab in ein Wäldchen ein; dort warf er sich nieder und wartete, bis die Sommergäste zurück- und vorbeikommen würden. Er drehte sein Gesicht der Erde zu. Das kühle Gras, das ihm Wangen und Stirn kitzelte, und die feuchte Erde, die er einatmete, redeten zu ihm … Solch dürftiges, im Schatten wachsendes Gras hat keinen Duft; und so war es auch mit ihm; durch sie hatte auch er die Sonnenseite kennen gelernt; ohne sie war nichts als Schatten.

      Und der Bruder hatte sie ihm genommen! schrie es in ihm.

      Dieser Bruder, der sich bis vor wenigen Tagen nicht um sie gekümmert hatte, während er, Ole, von Kind auf um sie gewesen war, mit ihr gerudert hatte, ihr vorgelesen, ihr Bruder und Schwester zugleich gewesen war und ihr geschrieben hatte, wenn sie fern voneinander waren! Hatte ihr Bruder das je getan? Selbst seine Niederlage durfte er sich zugute schreiben! Denn hätte er's – ihretwillen – nicht so gewissenhaft genommen mit dem Examen, zu dem ihr Vater ihm verholfen hatte – so hätte er mehr gewußt von den Dingen, um die sich's handelte – hätte vielleicht keinen solchen Abfall erlitten. Auch das mußte er um seiner Treue willen erdulden.

      Edvard war, in Josefines Kinder- und Backfischzeit, selten mit ihr zusammen gewesen, ohne sie zu necken. Sie war immer ein hageres Ding gewesen, mit großen schwarzen Augen, meist sehr zerzaustem Haar, roten Händen und einer "schlottrigen" Figur. Er hatte sie nur das "Entenküken" genannt, und als sie einmal gefallen war und hinkte, "das lahme Entenküken". Er konnte nie so recht klug aus ihr werden; sie war so herb und trotzig und immer – drei Schritt vom Leibe. Und dann – sie war so oft der Anlaß, daß er Schläge bekam. Sie hielt es für "gerecht", zu erzählen, wenn er etwas Dummes angestellt hatte. Und wenn er sie dafür verprügelte, so war es "gerecht", auch das wieder zu erzählen. Das empörte ihn gegen sie. Bald kamen sie auch dadurch auseinander, daß er das väterliche Haus verließ. Nach jenem unglückseligen Tag, an dem Vater und Sohn auf dem Weg nach Store-Tuft zusammengetroffen waren, erbarmte sich der Apotheker seines alten Freundes und nahm den Jungen ganz regelrecht als seinen eigenen Sohn zu sich. Und was dem Vater nicht geglückt war, das glückte ihm. Der Junge wurde sofort aus der Schule genommen und durfte seinem Hauptinteresse, den Naturwissenschaften, leben. Chemische und physikalische Analysen oder botanische Ausflüge waren sein Höchstes, und zwei Jahre lang trieb er ausschließlich derartige Studien. Die zum Abiturientenexamen notwendigen Fächer eignete er sich dann durch Privatunterricht so rasch wie möglich an, und nach der Prüfung begann er sein medizinisches Studium. So lange er daheim war, sah er seine Schwester nur, wenn sie ihn in der Apotheke besuchte, und da ihre Interessen auseinandergingen, war der Verkehr eigentlich gleich Null. Später nahm ihn der Apotheker fast in jeder Vakanz mit ins Ausland; Edvard hatte gute Sprachkenntnisse, und die gingen dem Apotheker ab. Also kamen auch während der Ferien Bruder und Schwester nur selten zusammen. Aber seit er als Student mit dem Apotheker seine erste Reise ins Ausland gemacht und sie den heimgekehrten, erwachsenen Bruder gesehen und gehört hatte – modern in Kleidung und Gedanken, feurig, kraftvoll, das Ideal der gesamten Jugend, besonders der weiblichen – hatte sie ihn heimlich bewundert. Er seinerseits übersah sie einfach; oder er zog sie auf; das kostete sie Stunden der Qual; aber sie schluckte es tapfer hinunter, nur damit sie sein konnte, wo er war – wenn auch nur ganz still in einer Ecke.

      Ole verstand sie, trotzdem sie sich nie verriet. Auch ihm gegenüber sprach sie selten anders von Edvard als von einem "Ekel", einem "Wicht", einer "Plappermühle" usw. Aber durch die treuen Dienste, die er ihr erwies, so oft sie vom Bruder übersehen oder gekränkt dasaß, sammelte Ole sich Schätze in ihrem Herzen.

      Mit Edvard war eine große Veränderung vorgegangen; seine Neugierde war zur Wißbegier, seine Unruhe zu Energie geworden. Aber gleichzeitig durchlief auch die Schwester verschiedene Stufen der Entwicklung, von denen er nichts ahnte. Zweiundeinhalbes Jahr waren jetzt verflossen, seitdem er sie zum letztenmal gesehen hatte; sie war zwei Jahre in Frankreich und Spanien gewesen, und in den letzten Ferien, als sie zu Hause war, hatte er mit dem Apotheker eine Reise nach England gemacht; auch in diesem Jahr waren sie ein paar Monate zusammen fort gewesen. Die Schwester, die er jetzt sah, die kannte er nicht. Nach der ersten Begegnung war er ganz von ihr erfüllt.

      Schön sei sie nicht, sagte er zu Ole (zu dessen größter Verwunderung), sobald die beiden sich trafen. Aber er wurde nicht müde, von dem neuen und eigenartigen Eindruck zu sprechen, den sie hier unter all den andern mache. Ihre Mutter müsse sich an einer Spanierin versehen haben, als sie mit ihr schwanger ging. Wäre nicht dieses Unnennbare – die Augen gewesen, was auf der ganzen Welt Volk von Volk unterscheidet – wären nicht die Augen gewesen, sie hätte unter Spaniern ruhig für eine Landsmännin gelten können. Wie das in einem norwegischen Hause wirkte! Sie sprach gut – lebendig und rasch – war aber eigentlich wortkarg, und hielt sich zurück. Kühn in ihrer Kleidung, mit einer Vorliebe für starke Farben, ganz modern, fast herausfordernd, aber in jeder andern Hinsicht eher scheu.

      Fortan war Edvard ihr Bruder. Der Vater war verreist, und während der Zeit wohnte sie bei Rektors und war nicht immer zu haben; aber so oft es sich machen ließ, waren sie zusammen. Sie hatte die Empfindung, als ob er sie gern "entdeckt" hätte, und war auf ihrer Hut; aber es schmeichelte ihr, daß er in Gesellschaft seine Worte an sie richtete und daß seine Augen stets die ihren suchten.

      Während Ole, tief unglücklich, sein Gesicht ins Gras des Waldbodens preßte, standen sie alle vor ihm, die Stunden, da sie auf dem Ball den Bruder hatte tanzen sehen – mit der und mit jener – manchmal mehrere Tänze mit einer und derselben – und mit ihr bloß eine "Pflichttour".

      Und jetzt?

      Jetzt war sie Edvards Schwester – seine geliebte Schwester – und Oles und ihre Wege gingen auseinander …

      Weshalb mußte Edvard sich in ein Verhältnis eindrängen, von dem er doch gar nichts wußte? Sich Rechte anmaßen, die er sich durch nichts verdient hatte? Nach ein paar Tagen des Zusammenseins einfach entscheiden, wer für sie passe – und wer nicht?

      Weshalb vor aller Augen ihn angreifen und ihn verhöhnen in dem, was ihm Lebenssache war? Und nicht allein ihn – sondern Gott selber.

      Und wie Ole Tuft diesem Gedanken nachhing, verbreitete sich um ihn ein seltsam heller Lichtschimmer – und in diesem Schimmer stieg etwas Großes empor über den Bergen jenseits des Fjords … Er fühlte, wie es ihn im Nacken packte, während er so dalag, das Antlitz tief in den Rasen gedrückt. Und es flüsterte, und das Flüstern erfüllte den ganzen Raum – von dort bis hier —: "Was hast Du aus mir gemacht?"

      Ah – wie plattgedrückt kam er sich vor – wie in die Erde hineingepreßt! Und er begriff jetzt, weshalb der Schmerz wie mit einem Schermesser das Kranke aus seinem Fleische schnitt. Er hatte verloren heute, weil er als Lügner dastand. "Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!" "Gott, Gott! Vergib mir! Schone meiner! – Und Deine fleischlichen, Deine eitlen Träume!… Nimm, gleich Israel, der Nacht wahr, um zu ringen mit mir!… Wurm, der Du Dich krümmst!" – — —

      Über ihm den Raum durchbrauste der Klang von tausend Schwingen.

      Es war nicht das erstemal, daß der Ernst des Alten Testaments von den Höhen auf ihn herniederstürzte und seine Wohnstatt aufschlug in ihm. All diese Fragen – ob "groß" – oder "klein" – ob er das "Höchste" wagen oder sich, wie die andern, mit dem Mittelmäßigen begnügen sollte – sie waren ihm nichts Neues.

      Doch wenn er dann Josefine wieder traf – bei guter Laune – so waren diese Fragen wie weggeblasen. Mit einem einzigen guten Händedruck schob sie sie beiseite. Auch jetzt war es wieder so. Ohne jeden Übergang strömte von ihr ein gesunder Protest in ihn über. Nimmermehr hätte Josefine sich heut von ihm abgewandt, bloß weil der Bruder es wünschte! Nimmermehr! Wenn sie es so aufgefaßt hätte, dann hätte sie gerade entgegengesetzt gehandelt. Nein – weil er ein Schwächling war, wandte sie sich von ihm ab, einzig deswegen. Vielleicht auch, weil sie sich nicht gern in einen Streit mischen mochte; sie war so scheu. Sie wandte sich ja eigentlich auch nicht dem Bruder zu. Sie hatte mitten unter den andern auf dem Hügel gesessen und später, beim Essen, mit einigen Freundinnen an einem besonderen Tisch. Und auch beim Aufbruch hatte sie sich nicht an den Bruder gehalten, der doch fast alle um sich sammelte.... Warum hatte er denn daran nicht eher


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