Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке. Варлам Шаламов

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Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке - Варлам Шаламов


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Schatz wegwerfen. Ich sammelte alle auf und aß sie.

      Im »Vitaminkombinat« kocht man einen Krummholz-Extrakt aus den Nadeln der Zirbel. Vorbereitet werden die Nadeln an sogenannten »Vitaminaußenstellen«, wo es eine Hungerration gibt, wo »dochodjagi« die Nadeln »zupfen« und in Säcke stopfen und die Geschickteren Steine in den Sack stecken für das Gewicht. Hunderte hungriger Sammler, die den Plan erfüllen oder nicht erfüllen. Das Scheußlichste ist, man wird überall mit Gewalt genötigt, das Krummholz, eine äußerst bittere widerwärtige Flüssigkeit, zu trinken, und Vitamin C ist in dem Extrakt überhaupt nicht enthalten. Jahrzehntelang quälte man die Leute, in den Kantinen war es verboten, das Mittagessen auszugeben, bevor die »gesundheitsfördernde« Dosis getrunken war – um später zu sagen, das war keine Arznei. Die Therapie selbst wurde in eine Folter verwandelt. Die klügeren, gewissenhafteren Ärzte verstanden das.

      Als Kind spielte er Pistonkornett, und das führte zu seiner Karriere als Militär.

      Es schüttete im Sommer 1938. Platzregen den dritten Tag. Alle Brigaden saßen zu Hause, und nur die »Trotzkisten« wurden im Regen herausgeführt. Der Begleitposten kroch unter den Pilz, und wir bohrten. Mein Nachbar im Schurfgraben (Poljanskij) schrie los:

      »Hör mal! Hör mal! Ich habe begriffen, dass das Leben keinen Sinn hat. Keinen Sinn.«

      Ich schwieg.

      Am nächsten Tag legte sich Poljanskij unter einen Förderwagen, der von der Halde den steilen Hang hinabfuhr, der Förderwagen sprang über Poljanskijs Beine und schrammte sie ein wenig. Er stand auf und drohte dem Förderwagen mit der Faust.

      Orlow, einer der Referenten Kirows*, mein Partner bei »leichter Arbeit« – Holzsägen für den Boiler.

      »Kannst du die Säge schärfen[82]?« Das frage ich Orlow.

      »Ich denke, jeder Mensch mit Hochschulbildung kann eine Quersäge schärfen.«

      Kliwanskij zu mir:

      »Unsere Brigade hat die Norm zu 40 % erfüllt – Strafration! Außerdem gibt es die Produktions-, die Stoßarbeiter- und die Stachanowration. Und zwei aus unserer Brigade haben die höchste Bewertung erhalten. Das sind die Stachanowarbeiter der Krankheit«, schrie Kliwanskij, »sie haben einen Rabatt.«

      Den ganzen Krieg (vier Jahre) gab es amerikanisches Brot aus weißem kanadischen Weizen mit Maismehl. Die Häftlinge liebten dieses üppige Brot, die gewaltigen »Rationen«, aber Skeptiker sagten:

      »Was ist das für ein Brot – keinerlei Scheiße, schon den zehnten Tag kann ich nicht austreten.«

      Die Verteiler hassten dieses Brot. Das Brot bekamen sie nach Gewicht am Vorabend aus der Bäckerei, und über Nacht trocknete es ein. Wenn sie es nachts zu Rationen schnitten, zu 300, zu 400 Gramm, waren am Morgen, im Moment der Verteilung, 20–30 Gramm in jeder solchen »Ration« verloren. Eine große Tragödie mit Tränen, und manchmal auch mit Blut. Mit Fluchen und Eingaben und Schlägen auf jeden Fall. Nach den vier Jahren seufzten die Verteiler erleichtert.

      Der Bauch des Dampfers[83] »Kulu« in Wladiwostok. Serjosha Kliwanskij, Wawilow und ich – möglichst nah ans Licht, möglichst nah an die Treppe. Mit uns lässt sich auch ein älterer, gefängnishaft bleicher Mann nieder, mit grünlichgelbem Gesicht. In der Hand hält er ein Buch, das einzige im Schiffsbauch. Und dazu noch etwas wie die »rothäutige Passportina«*, der Majakowskij-Band im roten Kartoneinband.

      »Wir sind die-und-die.«

      »Und ich Chrenow. Erinnern Sie sich bei Majakowskij«, er blättert in dem rothäutigen Band, »Chrenows Erzählung von Kusnezkstroj«.

      »Steht hier die Gartenstadt?« Wawilow lacht laut.

      »Genau, genau.«

      »Die rothäutige Passportina wird Sie hier nicht retten«, erklärt Kliwanskij.

      Chrenow fürchtet sich, er ist schwerer Herzpatient. Doch das Paradox – die Krankheit hat Chrenow gerettet. Er schaffte es, seine Haftzeit zu beenden und als freier Bergwerkschef zu arbeiten, doch aufs »Festland« zurückzukehren schaffte er nicht. Er war »lebenslänglich«* ortsgebunden und starb, glaube ich, bald nach dem Krieg.

      Die Brotausgabe im Durchgangslager in Sussuman. Eine Riesenschlange. Die Bude des Brotschneiders steht im Freien. Um sie herum vier Soldaten mit gefälltem Gewehr. Jeder Häftling kommt heran, erhält aus dem Fenster einen »Sechshunderter« und verschlingt ihn gleich, würgend, eilig – wenn er es nicht schafft, ihn aufzuessen, dann rauben, dann entreißen ihn ihm die Ganoven, die unweit sich drängen. Die vier Begleitposten bewachen ebendiesen Stehimbiss. Man hat versucht, das Brot in der Baracke auszuteilen – die Ganoven rauben es. Ohne Begleitposten zu verteilen – sie rauben es. Jetzt schafft es jeder, seine Tagesration hinunterzuschlingen.

      Erziehungsarbeit unter den Ganoven. Ein Bergwerk, »Partisan«, 1938, im Winter – Januar – Februar, der Erzieher der Kultur- und Erziehungsabteilung Scharow:

      »Der Staat sieht in euch seine Freunde, seine Helfer. Helft uns in unserem Kampf gegen die Faschisten, die Trotzkisten. Diese Volksfeinde wollen nicht arbeiten. Es sind die Leute, die euch in Freiheit verhöhnt haben.«

      »Darf ich austreten?«

      »Geh!«

      Nach einer halben Stunde:

      »Darf ich austreten?«

      »Geh.«

      Der Begleitposten erhebt sich von seinem Platz und kommt hinter die Halde:

      »Zeig deine Scheiße vor, Dreckskerl! Ihr drückt euch hier.«

      Ich liege im Krankenhaus, 1958, mit einem Neuropathologen. Ich erzähle:

      »Vor meinen Augen empfing während des Kriegs ein Begleitposten eine Etappe von fünfundzwanzig Mann, setzte sie in ein Auto, stieg auf die Seitenwand und erschoss mit Salven aus der Maschinenpistole alle bis auf den letzten Mann.«

      »Ein typischer epileptischer Anfall.«

      Schilow 1942 (?) in Arkagala. Schilow ist ein junger Kerl von 25 Jahren, ehemaliger Häftling.

      »Junggesellensteuer[84]? Verstehe ich nicht, das ist ungerecht. Denk doch selbst: hier gibt es überhaupt keine Weiber. Ich quäle mich und leide und soll auch noch Steuer zahlen für meine Quälerei. Auf dem ›Festland‹ ist es was anderes. Da lebt einer mit Frau, legt sich Kinder, eine Familie zu – und zahlt keine Junggesellensteuer. Ich kann mir keine Frau zulegen – und zahle Steuer. Das ist ungerecht.«

      Das schrecklichste Jahr an der Kolyma ist 1938. 1939 sagte mir Iwan Bossych (ein Freier, ehemaliger Häftling), der Topograph, in der Kohleerkundung am Schwarzen See:

      »Wir beide haben überlebt, weil wir Reporter, Journalisten sind. Verstehst du? Ich werde leben, obwohl ich Dinge gesehen habe, dass man danach nicht mehr leben sollte, aber ich werde leben, ich werde meinen jüngeren Bruder treffen – er glaubt an mich wie an Gott, und ich sage ihm die ganze Wahrheit über Stalin.«

      Die Adresse von Iwan Nikolajewitsch Bossych – Ischim, Woroschilow-Str. 16.

      Die einzige Möglichkeit zu überleben für einen »Trotzkisten« ist, Brigadier zu werden. Aber wie kann man kommandieren, jemandes Befehle ausführen, über jemandes Willen verfügen und nicht nur den Willen, auch über Leben und Tod von Menschen – es bedeutet, jemand wird sterben, und du bleibst am Leben. Nein, schon 1937 habe ich mir das Wort gegeben, niemals Brigadier zu werden, mich niemals mit Bitten oder Klagen über mein Schicksal an die Chefs zu wenden, nicht zu bitten und Pakete vom Festland abzulehnen – nur auf mich selbst zu zählen, auf mein »Glück«. Der einzige für mich mögliche Posten war die Tätigkeit als Feldscher, doch das erschien neun Jahre lang als Phantasie, und im zehnten wurde es plötzlich Wirklichkeit.

      Die drei großen Lagergebote:

      Glaube nicht – glaube niemand.

      Fürchte nicht – fürchte


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<p>82</p>

die Säge schärfen – точить пилу

<p>83</p>

der Bauch des Dampfers – трюм парохода

<p>84</p>

der Junggesellenssteuer – налог на холостых