Die Verwirrungen des Zöglings Törless. Robert Musil

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Die Verwirrungen des Zöglings Törless - Robert Musil


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Und ebenso jenes Abgestumpftsein, für das es nicht einmal mehr eine Frage bedeutet, wenn wieder ein Tag zu Ende geht. Sein Leben war auf jeden Tag gerichtet. Jede Nacht bedeutete für ihn ein Nichts, ein Grab, ein Ausgelöschtwerden. Das Vermögen, sich jeden Tag sterben zu legen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, hatte er noch nicht erlernt.

      Deswegen hatte er immer etwas dahinter vermutet, das man ihm verberge. Die Nächte erschienen ihm wie dunkle Tore zu geheimnisvollen Freuden, die man ihm verheimlicht hatte, so daß sein Leben leer und unglücklich blieb.

      Er erinnerte sich an ein eigentümliches Lachen seiner Mutter und sich wie scherzhaft fester an den Arm ihres Mannes Drücken, das er an einem jener Abende beobachtet hatte. Es schien jeden Zweifel auszuschließen. Auch aus der Welt jener Unantastbaren und Ruhigen mußte eine Pforte herüberführen. Und nun, da er wußte, konnte er nur mit jenem gewissen Lächeln daran denken, gegen dessen böses Mißtrauen er sich vergeblich wehrte – – – –

      Božena erzählte unterdessen weiter. Törleß hörte mit halber Aufmerksamkeit hin. Sie sprach von einem, der auch fast jeden Sonntag kam . . . »Wie heißt er nur? Er ist aus deinem Jahrgang«.

      »Reiting?«

      »Nein.«

      »Wie sieht er aus?«

      »Er ist beiläufig so groß wie der da«, Božena wies auf Törleß, »nur hat er einen etwas zu großen Kopf.«

      »Ah, Basini?«

      »Ja, ja, so nannte er sich. Er ist sehr komisch. Und nobel; er trinkt nur Wein. Aber dumm ist er. Es kostet ihn eine Menge Geld und er tut nichts als mir erzählen. Er renommiert mit den Liebschaften, die er zu Hause haben will; was er nur davon hat? Ich sehe ja doch, daß er zum erstenmal in seinem Leben bei einem Frauenzimmer ist. Du bist ja auch noch ein Bub, aber du bist frech; er dagegen ist ungeschickt und hat Angst davor, deswegen erzählt er mir lang und breit, wie man als Genußmensch, – ja, so hat er gesagt, – mit Frauen umgehen müsse. Er sagt, alle Weiber seien nichts anderes wert; woher wollt ihr denn das schon wissen?!«

      Beineberg grinste sie zur Antwort spöttisch an.

      »Ja lachʼ nur!« herrschte ihn Božena belustigt an, »ich habe ihn einmal gefragt, ob er sich denn nicht vor seiner Mutter schämen würde. ›Mutter?. . Mutter?‹ sagte er drauf, ›was ist das? Das existiert jetzt nicht. Das habe ich zu Hause gelassen, bevor ich zu dir ging‹ . . . Ja, mach nur deine langen Ohren auf, so seid ihr! Nette Söhnchen, ihr feinen jungen Herren; eure Mütter könnten mir beinahe leid tun! . . . . . . .«

      Bei diesen Worten bekam Törleß wieder die frühere Vorstellung von sich selbst. Wie er alles hinter sich ließ und das Bild seiner Eltern verriet. Und nun mußte er sehen, daß er damit nicht einmal etwas fürchterlich Einsames, sondern nur etwas ganz Gewöhnliches tat. Er schämte sich. Aber auch die anderen Gedanken waren wieder da. Sie tuen es auch! Sie verraten dich! Du hast geheime Mitspieler! Vielleicht ist es bei ihnen irgendwie anders, aber das muß bei ihnen das gleiche sein: eine geheime, fürchterliche Freude. Etwas, in dem man sich mit all seiner Angst vor dem Gleichmaß der Tage ertränken kann. . . . Vielleicht wissen sie sogar mehr . . .?!. . . Etwas ganz Ungewöhnliches? Denn sie sind am Tage so beruhigt; . . und dieses Lachen seiner Mutter?. . als ob sie mit ruhigem Schritte ginge, alle Türen zu schließen. – – – – – – – – – –

      In diesem Widerstreite kam ein Augenblick, wo Törleß sich aufgab und sich mit erwürgtem Herzen dem Sturme überließ.

      Und gerade in diesem Augenblicke stand Božena auf und trat zu ihm hin.

      »Warum spricht denn der Kleine nichts? Hat er Kummer?«

      Beineberg flüsterte etwas und lächelte boshaft.

      »Was, Heimweh? Ist wohl die Mama weggefahren? Und der garstige Bub läuft gleich zu so einer!«

      Božena vergrub zärtlich ihre Hand mit gespreizten Fingern in sein Haar. »Geh, sei nicht dumm. Da gib mir einen Kuß. Die feinen Menschen sind auch nicht von Zuckerwerk«, und sie bog ihm den Kopf zurück.

      Törleß wollte etwas sagen, sich zu einem derben Scherze aufraffen, er fühlte, daß jetzt alles davon abhänge, ein gleichgültiges, beziehungsloses Wort zu sagen, aber er brachte keinen Laut heraus. Er starrte mit einem versteinten Lächeln in das wüste Gesicht über dem seinen, in diese unbestimmten Augen, dann begann die Außenwelt klein zu werden, . . . sich immer weiter zurückzuziehen. . . . Für einen Augenblick tauchte das Bild jenes Bauernburschen auf, der den Stein gehoben hatte, und schien ihn zu höhnen. . . . dann war er ganz allein. – – – – – – – – – – –

      »Du, ich habʼ ihn«, flüsterte Reiting.

      »Wen?«

      »Den Spielladendieb.«

      Törleß war eben mit Beineberg zurückgekommen. Es war knapp vor der Zeit des Nachtmahls und das diensthabende Aufsichtsorgan schon weggegangen. Zwischen den grünen Tischen hatten sich plaudernde Gruppen gebildet und ein warmes Leben summte und surrte durch den Saal.

      Es war das gewöhnliche Schulzimmer mit weißgetünchten Wänden, einem großen schwarzen Kruzifix und den Bildnissen des Herrscherpaares zu seiten der Tafel. Neben dem großen eisernen Ofen, der noch nicht geheizt war, saßen, teils auf dem Podium, teils auf umgelegten Stühlen, die jungen Leute, welche nachmittags das Ehepaar Törleß zur Bahn begleitet hatten. Außer Reiting waren es der lange Hofmeier und Dschjusch, unter welchem Spitznamen ein kleiner polnischer Graf verstanden wurde.

      Törleß war einigermaßen neugierig.

      Die Spielladen standen im Hintergrunde des Zimmers und waren lange Kästen mit vielen versperrbaren Schubfächern, in denen die Pfleglinge des Institutes ihre Briefe, Bücher, Geld und allen möglichen kleinen Kram aufbewahrten.

      Und bereits seit geraumer Zeit klagten einzelne, daß ihnen kleinere Geldbeträge fehlten, ohne daß sie jedoch bestimmte Vermutungen hätten aussprechen können.

      Beineberg war der erste, der mit Gewißheit sagen konnte, daß ihm – in der Vorwoche – ein größerer Betrag gestohlen worden sei. Aber nur Reiting und Törleß wußten darum.

      Sie hatten die Diener im Verdachte.

      »So erzähl doch!« bat Törleß, aber Reiting machte ihm rasch ein Zeichen: »Pst! Später. Es weiß noch niemand davon.«

      »Ein Diener?« flüsterte Törleß.

      »Nein.«

      »So deute doch wenigstens an, wer?«

      Reiting wandte sich von den übrigen ab und sagte leise: »B.« Niemand außer Törleß hatte etwas von diesem vorsichtig geführten Gespräche verstanden. Aber auf diesen wirkte die Mitteilung wie ein Überfall. B.? – das konnte nur Basini sein. Und das war doch nicht möglich! Seine Mutter war eine vermögende Dame, sein Vormund Exzellenz. Törleß wollte es nicht glauben und dazwischen schnitt der Gedanke an Boženas Erzählung hindurch.

      Er konnte kaum den Augenblick erwarten, da die anderen zum Speisen gingen. Beineberg und Reiting blieben zurück, indem sie vorgaben, noch vom Nachmittage her übersättigt zu sein.

      Reiting machte den Vorschlag, doch lieber vorerst »hinauf« zu gehen.

      Sie traten auf den Gang hinaus, der sich endlos lang vor dem Lehrsaale dehnte. Die flackernden Gasflammen erhellten ihn nur auf kurze Strecken und die Schritte hallten von Nische zu Nische, wenn man auch noch so leise auftrat . . . .

      Vielleicht fünfzig Meter von der Türe entfernt, führte eine Stiege in das zweite Stockwerk, in welchem sich das Naturalienkabinett, noch andere Lehrmittelsammlungen und eine Menge leerstehender Zimmer befanden.

      Von hier aus wurde die Treppe schmal und stieg in kurzen, rechtwinklig aneinander stoßenden Absätzen zum Dachboden empor. Und – wie alte Gebäude oft unlogisch, mit einer Verschwendung von Winkeln und unmotivierten Stufen gebaut sind – führte sie noch um ein beträchtliches über das Niveau des Bodens hinaus, so daß es jenseits der schweren, eisernen, versperrten Türe, durch welche sie abgeschlossen war, eigens einer Holzstiege bedurfte, um zu ihm hinab zu gelangen.

      Diesseits aber entstand auf diese Weise


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