Tagebuch des Verführers. Søren Kierkegaard

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Tagebuch des Verführers - Søren Kierkegaard


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Fräulein, Sie suchen gewiss Ihre Familie hier? Sie sind mehrmals an mir vorbeigegangen, und indem mein Auge Ihnen folgte, bemerkte ich, Sie blieben immer im vorletzten Zimmer stehen. Vielleicht wissen Sie nicht, dass noch ein Zimmer drinnen ist, vielleicht treffen Sie dort die, welche Sie suchen.« Sie verbeugt sich vor mir, es steht ihr sehr gut. Die Gelegenheit ist günstig, es freut mich, dass der Mensch nicht kommt, man angelt am besten im unruhigen Wasser. Wenn ein junges Mädchen aufgeregt ist, kann man vieles wagen, was sonst misslich wird. Ich habe mich vor ihr so fremd als möglich verbeugt, ich sitze wieder auf meinem Stuhl und betrachte die Landschaft und halte mein Auge auf sie gerichtet. Sie sofort zu begleiten war zu viel gewagt, man könnte glauben, ich wäre aufdringlich; und dann ist sie auf der Hut; jetzt meint sie, ich hätte sie aus Teilnahme angeredet und ich bin gut bei ihr angeschrieben.

      Ich weiss, dass keine Seele in dem letzten Zimmer ist. Die Einsamkeit wird günstig auf sie wirken; so lange sie viele Leute um sich sieht, ist sie unruhig, wenn sie etwas allein ist, wird sie still. Ganz richtig, sie bleibt drinnen. Nach einer Weile komme ich nach, so ganz en passant. Ich habe noch zu einer Anrede Recht. Sie ist mir beinahe einen Gruss schuldig. Sie hat sich gesetzt. Armes Mädchen, sie sieht so wehmütig aus. Sie hat geweint, glaube ich, oder wenigstens Thränen im Auge gehabt. Es ist empörend, – ein solches Mädchen zu Thränen zu bringen. Aber sei ruhig, Du sollst gerächt werden, ich werde Dich rächen. Er soll zu wissen bekommen, was es heisst, zu warten. – Wie schön sie ist, jetzt wo die Windstösse sich gelegt haben, und sie ruht in einer einzigen Stimmung aus. Ihr Wesen ist Wehmut und Harmonie der Schmerzen. Sie ist wirklich hinreisend. Sie sitzt da in ihrem Reisekleid, und doch sitzt sie nicht da, als ob sie wegreisen will. Sie zog es nur an, um in die Freude hinauszuziehen, jetzt ist es ein Symbol für ihren Schmerz. Sie ähnelt der, von der die Freude fortzieht. Sie sieht aus, als nehme sie für immer vom Geliebten Abschied. Lass ihn laufen! – Die Situation ist günstig, der Augenblick winkt. Jetzt gilt es, mich so auszudrücken, dass es aussieht, als wäre ich der Meinung, sie suche ihre Familie oder eine Gesellschaft hier, und doch muss ich es auch so warm sagen, dass jedes Wort mit ihren Gefühlen sich deckt. Dabei bekomme ich Gelegenheit, mich in ihre Gedanken einzuschleichen. – – Der Teufel hole den Schlingel. Kommt da nicht jetzt ein Individuum angestiegen, welches ohne Zweifel er selbst ist. Hat man je solch einen Esel gesehen. Jetzt, wo eben die Situation so ist, wie ich sie mir wünschte. Ja, ja, etwas wird wohl doch noch dabei herauskommen. Ich muss ihr Verhältnis tangieren, eine Rolle in der Situation mitspielen. Wenn sie mich wiedersieht, wird sie unwillkürlich über mich lachen, mich, der glaubte, sie suche ihre Familie hier, während sie etwas ganz anderes suchte. Dieses Lächeln macht mich zu ihrem Vertrauten, das ist doch etwas. . . . . Tausend Dank, mein Kind, dies Lächeln ist mir viel mehr wert, als Du glaubst, das ist der Anfang, und der Anfang ist immer das Schwerste. Jetzt sind wir Bekannte, und unsere Bekanntschaft ist auf einer pikanten Situation gegründet. Für mich ist das allenfalls im Augenblick genug. Mehr als eine Stunde bleibt Ihr nicht hier. In zwei Stunden weiss ich, wer Sie sind. Warum, glauben Sie sonst, hielte die Polizei Volkszählung?

      9. April. Bin ich blind? Verlor das innerste Seelenauge seine Sehkraft? Ich habe sie gesehen, einen Augenblick nur, aber wie eine Offenbarung des Himmels, und jetzt ist mir ihr Bild wieder ganz verloren gegangen. Vergeblich suche ich es mir zurückzurufen. Und doch würde ich sie unter Hunderten wiedererkennen. Sie ist fort, vergeblich sucht meine Sehnsucht sie mit dem Auge der Seele. – Ich promenierte auf der »Langen Linie« scheinbar ohne auf meine Umgebung zu achten, doch zugleich blieb meinem spähenden Blick nichts unbemerkt – plötzlich sah ich sie. Ohne länger dem Willen seines Herrn zu folgen, blieb mein Blick auf ihr haften. Es war mir unmöglich, eine einzige Bewegung zu machen, ich sah nicht, ich starrte. Wie ein Fechter, der am Platz bleibt, so blieb mein Auge unverändert, versteinert, in der einmal angenommenen Richtung. Es war mir unmöglich es niederzuschlagen, es war mir unmöglich meinen Blick in mir zu verbergen, unmöglich etwas zu sehen, weil ich zu viel sah! Das einzige was ich bemerkt, habe, war ein grüner Mantel, den sie trug. Das ist das Ganze. Man muss sagen, das heisst nur die Wolke sehen anstatt Juno. Eine ältere Dame begleitete sie, ihre Mutter glaube ich. Diese kann ich ganz deutlich beschreiben, obgleich ich sie kaum angeschaut habe, höchstens en passant. So kann es einem ergehen. Das Mädchen, das Eindruck auf mich machte, habe ich vergessen. Sie ist von mir geflohen wie Joseph von der Frau des Potiphar, nur ihr Mantel blieb mir.

      14. April. Meine Seele ist noch in denselben Widersprüchen eingeschnürt. Ich weiss, dass ich sie gesehen habe, aber ich weiss auch, dass ich sie wieder vergessen habe, und so vergessen, dass der Rest von Erinnerung, der blieb, nicht sehr erquicklich ist. Mit einer Unruhe und einer Heftigkeit, als ob mein ganzes Wohl auf dem Spiel stünde, fordert meine Seele dieses Bild. Und doch zeigt es sich nicht mehr, ich möchte mein Auge herausreissen und es strafen, dass es so leicht vergessen kann. Wenn meine Ungeduld ausgetobt hat, wenn es in mir still wird, da ist es, als ob Ahnung und Erinnerung ein Bild webten, das ich aber doch nicht zu voller Gestaltung und in ruhige Umrisse bringen kann. Es ist wie ein Muster von feinstem Gewebe, das Muster aber ist heller als der Grund und kann nicht allein gesehen werden, weil es zu hell ist. Ich befinde mich in einem sonderbaren Zustand. Doch ist er an und für sich etwas Angenehmes. Das Angenehme ist ausserdem noch das, dass er mich überzeugt, ich bin noch jung. Und noch eine andere Beobachtung an mir überzeugt mich von meiner Jugend, nämlich, dass ich meine Beute unter jungen Mädchen suche und nicht unter jungen verheirateten Frauen. Eine verheiratete Frau hat weniger Natur und mehr Koketterie, ein Verhältnis zu einer solchen ist nie schön, noch interessant, es ist pikant und das Pikante ist immer das Letzte. – Ich hatte nicht erwartet, noch einmal den Rahm erster Verliebtheit abzuschöpfen. Ich bin aber noch einmal in Verliebtheit geraten, also kein Wunder wenn ich ein bischen verwirrt bin. Um so besser, desto mehr verspreche ich mir aus dem Verhältnis. Ich kenne mich selbst kaum wieder. Mein Herz stürmt wie ein aufgewühltes Meer in leidenschaftlichem Sturm. Wenn mich ein anderer sehen könnte, würde er meinen, ein Schiff schneide mit der Spitze die hohe Mut und müsse auf dieser schrecklichen Fahrt in die Tiefe stürzen. Er sieht nicht den Matrosen, der oben im Mast sitzt und Ausschau hält. Stürmt zu, ihr wilden Elemente, wenn auch die Leidenschaftswogen Schaum in die Wolken werfen, ihr schlagt nicht über mir zusammen, ich sitze ruhig, ich bin ein Felsenkönig. Aber ich kann nur schwer Fuss fassen, wie die Wasservögel suche ich mich vergebens im wilden Meer meines Gemütes niederzulassen, und doch, solcher Aufruhr ist mein Element, ich baue darauf, wie der Eisvogel, der sein Nest auf das Meer baut. Die Truthähne brausen auf, wenn sie Rot sehen, mir geht es ebenso, wenn ich Grün sehe, jedesmal, wenn ich einem grünen Mantel begegne; und wie mein Auge mich oft betrügt, wie oft standen alle meine Erwartungen bei den grünen Trägern von Frederlis Krankenhaus.

      20. April. Sich beherrschen können, ist für jeden Genuss sehr wichtig. Mir scheint fast, ich sehe und höre nie wieder etwas von dem Mädchen, das mir Seele und Gedanken gefangen hält. Doch ich will mich ganz ruhig verhalten; diese dunkle und unklare Gemütsstimmung hat auch ihren starken Zauber. Ich liebte von jeher während einer Mondnacht auf einem oder dem andern unserer wunderbaren Seen in einem Boot zu liegen. Ich raffe die Segel, ziehe die Ruder ein, lege mich in ganzer Länge ins Boot und betrachte den Himmel über mir. Wenn die Wellen das Boot an ihrer Brust wiegen, wenn die Wolken vor dem Nachtwind hintreiben, so dass der Mond für Augenblicke kommt und geht, so giebt mir diese Unruhe Ruhe. Die Wellen schläfern mich ein, ihre Musik ist ein einförmiges Wiegenlied; das eilende Ziehen der Wolken, das Fliehen von Licht und Schatten berauscht mich und ich träume im Wachen. So liege ich auch jetzt da mit gerafften Segeln, die Ruder eingezogen, und ich lasse mich von Sehnen und ungeduldigem Erwarten hin und her treiben. Sehnsucht und Erwartung werden stiller und stiller, seliger und seliger, sie liebkosen mich wie ein Kind. Aber die Hoffnung wölbt ihren Himmel über mir, ein Bild, ihr Bild, schwebt unbestimmt wie der Mond an mir vorüber, bald mich mit seinem Licht blendend, bald mich beschattend, welch ein Genuss, sich so auf dem zitternden Wasser zu wiegen, – welch ein Genuss, bewegt zu werden!

      21. April. Die Tage vergehen und immer bin ich noch in demselben Zustand. Mehr als jemals finde ich an den jungen Mädchen Freude und habe doch zum Genuss keine Lust. Das verstimmt mich oft, umschleiert mein Auge und stört mich. Bald kommt jetzt die schöne Zeit, wo man im öffentlichen Strassenleben das aufkaufen darf, was man im Laufe des Winters im Gesellschaftsleben teuer genug bezahlt hat; denn alles kann ein junges Mädchen vergessen, aber nie eine Situation. Das Gesellschaftsleben bringt einen wohl in die Nähe


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