Menschen, die die Welt bewegen. Nicola Vollkommer

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Menschen, die die Welt bewegen - Nicola Vollkommer


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hätten unterschiedlicher nicht sein können. Jack sorgte liebevoll und geduldig für seinen älteren Bruder während der langen Wochen, in denen Warnie immer wieder von seiner Alkoholsucht heimgesucht wurde. Warnie seinerseits feuerte Jack an, der immer wieder mitten in den Fehden und Zänkereien der akademischen Welt zwischen die Fronten geriet.

      „Irgendwas ist mit dir, Jack“, begrüßte ihn sein Bruder, als er vom Briefkasten zurückkam.

      Jack zog den Brief wieder aus seiner Tasche. Die Brüder unterhielten sich bis tief in die Nacht.

      Irgendwann in dieser Zeit setzte Lewis sich an seinen Schreibtisch und zog ein Blatt Briefpapier in die Schreibmaschine ein. „Wie recht du doch hast, liebe Frau Lockley“, schrieb er, „das Wichtigste im Leben ist, aufzuhören, sich mit dem eigenen Glück zu beschäftigen. Das Beste am wahren Glück ist, dass es einen davon befreit, an das Glück überhaupt zu denken.“3 Gerade in den Tiefen des Lebens das Vertrauen auf Gott setzen, in bescheidenem Gehorsam die richtigen Dinge tun, anstatt versäumtem Ansehen und verpasstem Glück nachzutrauern – wie oft hatte er andere schon angewiesen, wie es geht. Aber weh tat es allemal. Aufgewühlte Gefühle gleich in Worte umzusetzen, Emotionen in die richtigen Bahnen zu lenken, der Verzweiflung ja nicht nachzugeben – das war gar nicht so einfach.

      Er zog ein zweites Blatt in die Maschine. Eine Hausfrau hatte gefragt, wie sie mit ihren Depressionen umgehen soll. „Da bist du gerade der Richtige“, sagte er grimmig zu sich selbst, als er sie ermahnte, sich nicht zu sehr mit ihren Gefühlsschwankungen zu beschäftigen. Für demütige, liebende, tapfere Gefühle dankbar sein. Und wenn sie von selbstsüchtigen, feigen, eitlen Gefühlen heimgesucht wurde, sollte sie Gott einfach um Hilfe bitten. Wichtig seien Absichten und Beschlüsse, das Streben, den Herrn zu suchen.

      „Gott flüstert in unseren Freuden, er spricht in unserem Gewissen; in unseren Schmerzen aber ruft er laut. Sie sind sein Megafon, eine taube Welt aufzuwecken.“ Der Kernsatz von Lewis’ Klassiker „Über den Schmerz“ war seit Langem zu einem Lieblingszitat vieler Theologen geworden, die sich mit dem Thema Leid befassten. Theoretisch war Lewis alles klar. Enttäuschungen im Leben machen einen Menschen entweder verbittert oder fruchtbar. Der ernsthafte Christ hat die Option, Leid als Chance der Neuorientierung zu erleben, Gottes Prioritäten neu zu beherzigen, die Ewigkeit in die Kalkulation einzubeziehen; sich trösten zu lassen, um danach, gemäß der Aufforderung des Apostels Paulus, andere dadurch aufzurichten, dass wir „ihnen den gleichen Trost spenden, wie Gott ihn uns geschenkt hat“ (2. Korinther 1,4); zu lernen, dass Gottes Auszeichnungen andere sind als die, die von Institutionen dieser Welt verliehen werden. So sind selbst die schlimmsten Rückschläge nicht mehr Hindernisse, sondern werden zu Sprungbrettern in eine tiefere und vertrauensvollere Beziehung zu Gott hinein.

      Lewis’ Stammtisch im Eastgate Hotel, sein Schreibtisch im College, der Esstisch in „The Kilns“ – alle drei Kulissen wurden Zeugen der regelrechten Schreibwut, die Lewis in den darauffolgenden Wochen überkam. Eine Schreibwut, die ihn immer dann besonders einholte, wenn seine Seele mit irgendwelchen Lebenswidrigkeiten am Ringen war. War es eine Flucht vor der unbequemen Realität des Lebens oder die Lenkung aufgewühlter Energien in neue Bahnen?

      Geschichten für den Glauben

      Screwtape war auf jeden Fall nur der Vorbote gewesen. Narnia ließ grüßen. Die Schranktür, die in eine andere Welt führte, sollte nach und nach Millionen von Kindern, auch Generationen später, in ihren Bann ziehen. Das neue Land wurde mit bezaubernden Figuren bevölkert, deren Namen wie Tumnus der Faun, Reepicheep die Maus und Trauerpfüzler der Moorwackler Fantasien in Kinderzimmern überall in Großbritannien und den USA beflügelten. Die Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt. Eine Geschichte folgte auf die andere. Angestauter Schmerz wurde in fesselnden Erzählungen verarbeitet, hart erprobten Lebensprinzipien wurden Gesichter, Emotionen und Biografien verliehen.

      Junge Leser zittern mit, während die Pevensiekinder am Küchentisch des Biberehepaars zum ersten Mal von der Existenz des Löwen Aslan erfahren, dem rechtmäßigen Herrscher Narnias, der „nicht zahm“ ist, aber „gut, sehr gut“. Die starre Schneedecke, Symbol der Tyrannei einer bösen Hexe, die das Land Narnia jahrhundertelang in ihrem frostigen Griff festgehalten hat, fängt zu schmelzen an, sobald der wiedergekehrte König seinen Fuß auf den eiskalten Boden setzt. Blumen blühen, Bäume tanzen, Tiere hüpfen und rennen auf den Löwen zu – Farbe, Musik und Lachen springen überall dort ins Leben, wo Aslan seine Spuren hinterlässt. Glaube als Feststimmung, Nachfolge des Königs als Freudentanz. Lewis’ Vision vom Reich Gottes hat wenig mit trockenen Ritualien oder zähneknirschender Pflichterfüllung zu tun. Sondern mit der Person eines Königs, dessen Name nur erwähnt werden muss, um Wonne und Euphorie bei allen auszulösen, die seine Nähe herbeisehnen.

      Das Erscheinen Aslans hat immer tief greifende Folgen für seine Nachfolger. Ihnen werden riskante Entscheidungen, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft abverlangt. Entweder würde ihnen ihre Aufgabe gelingen, oder sie würden in dem Versuch, den verlorenen Prinzen zu finden, sterben: So klärt Aslan den Schüler Eustace und die Schülerin Jill auf, nachdem sie aus Versehen nach Narnia gestolpert sind und feststellen müssen, dass sie von keinem Geringeren als Aslan selber hergerufen wurden. Spannung steigt, während der junge Prinz Kaspian gefragt wird, ob er sich in der Lage fühlt, König zu werden. „Überhaupt nicht“, antwortet er zitternd. „Gut“, erwidert Aslan, „hättest du dich geeignet gefühlt, wäre das der Beweis gewesen, dass du es überhaupt nicht bist.“ Lehren direkt aus Lewis’ Alltag. Es geht in erster Linie um Demut, nicht um Führungskompetenzen. Der bescheidene Leiter wird auch ein guter Leiter sein.

      In der gleichen Geschichte muss die Heldin Lucy lernen, ihre Menschenfurcht abzulegen und, wenn es sein muss, den Anweisungen von Aslan auch im Alleingang zu folgen, wenn ihre Geschwister ihr spöttisch den Rücken kehren. Die Gunst Aslans oder die Gunst ihrer Geschwister? Nicht immer kann man beides haben. Ein Nachklang jenes regnerischen Nachmittags im Eastgate Hotel?

      Von größerer Bedeutung

      Die Vorlesungssäle der Gelehrten hatten ihm eine demonstrative Abfuhr erteilt. Dafür hatten sich ganz neue Welten für Lewis geöffnet, die er wiederum für andere öffnete. Eine Generation zukünftiger Gelehrter saß ihm zu Füßen und sie sogen die unterhaltsamen, aber tiefgründigen Erzählungen in ihren noch ungeformten Seelen gierig auf. Dort bekam er unsichtbare Auszeichnungen, die eine weit größere Tragweite haben sollten als die, die ihm in der akademischen Welt Oxfords zugestanden worden wären. Bis heute liegt sein Dozentenwerk „English Literature in the Sixteenth Century, Excluding Drama“ als nützliches Nachschlagewerk für intellektuelle Fachspezialisten auf den Regalen der großen Universitäten. Die Narniabücher dagegen haben ihren Weg in Millionenauflage und in 47 Sprachen in die Bücherregale der Kinderzimmer dieser Welt gefunden. Und, nunmehr fünfzig Jahre nach dem Tod ihres Erfinders, als Mehrfach-Verfilmungen weltweit in die Kinos und TV-Kanäle.

      Die persönlichen Wünsche des bescheidenen Professors blieben bei alledem aber nicht unerfüllt. Im Jahr 1954 bekam er eine überraschende Einladung von der Universität Cambridge, Oxfords jahrhundertelanger Rivalin um die intellektuelle Weltspitze. Einen Lehrstuhl für Literatur des Mittelalters und der Renaissance sollte er besetzen, der extra für ihn eingerichtet wurde. So eine Ehrung war in der akademischen Welt erstmalig und blieb auch danach einmalig. Lewis war überwältigt. Der „Prophet“, der in der eigenen Stadt ohne Ehre blieb, wurde in einer anderen Stadt über alle Maßen für seine Mühe belohnt. Das Kreuz hatte er auf sich genommen. Gott selber hatte dem intellektuellen Stolz seines Dieners, treu der biblischen Warnung, widerstanden. Aber nach bestandener Prüfung konnte auch die Verheißung dazu geerntet werden: „Hab deine Lust am Herrn, so wird er dir geben, was dein Herz begehrt“ (Psalm 37,4).

      Ob Lewis seine Gespräche mit den Bediensteten seines Colleges oder seinem Bruder genau nach dem Wortlaut führte wie hier dargestellt, ist nicht sicher. Aber eines ist klar:

      Lewis’ Narniabücher fallen auf meinem Bücherregal dadurch auf, dass sie abgenutzt und zerfleddert sind. Und dabei ist das schon mein zweiter Satz Narniabücher. Der erste hatte sich nach wiederholten


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