Gesammelte Werke. Odon von Horvath

Читать онлайн книгу.

Gesammelte Werke - Odon von  Horvath


Скачать книгу
wohnte in der Schellingstraße, nicht dort, wo sie bei der Ludwigskirche so vornehm beginnt, sondern dort, wo sie aufhört. Dort vermietete sie im vierten Stock Zimmer und führte parterre das Geschäft ihres verstorbenen Mannes, kaum größer als eine Kammer. Darüber stand »Antiquariat« und im Fenster gab es zerrissene Zeitschriften und verstaubte Aktpostkarten.

      Als Eugen so vor der Haustüre stand, fiel es ihm plötzlich auf, daß er eigentlich schon unglaublich oft so vor einer Haustüre gestanden ist und zugeschaut hat, wie irgendeine sie öffnete, und er fand es eigenartig, daß er es gar nicht zusammenzählen kann, wie oft er schon so dagestanden ist. Doch bald dünkte ihm das eigentlich gar nicht eigenartig, sondern selbstverständlich und er wurde stolz. In wie vielen Straßen und Ländern ist er schon so dagestanden! Mit Österreicherinnen, Böhminnen, Ungarinnen, Rumäninnen, Serbinnen, Italienerinnen und jetzt mit einer Oberpfälzerin! Um ein Haar wäre er auch mit Negerinnen, Türkinnen, Araberinnen, Beduininnen so dagestanden, nämlich in der Oase Bisra, hätte es keinen Weltkrieg gegeben. Und wer weiß, mit wem allen er noch so dastehen wird, wo und wie oft, warum und darum, denn er hat ja eigentlich keine Heimat und auch er weiß es nicht, was ihm bevorsteht.

      Und Eugen wurde sentimental und dachte, man sollte an vieles nicht denken können, aber er dürfe es nicht vergessen, daß er nun schon zwei Monate so herumlungert und keine Aussicht auf Arbeit hat, man werde ja immer älter und er denke schon lange an keine Oase Bisra mehr, er würde auch in jedem Bauernwirtshaus servieren.

      Afrika verschwand und da er nun schon mal sentimental geworden ist, dachte er auch gleich an seine erste Liebe, weil das damals eine große Enttäuschung gewesen war, da sie ihm nur ein einziges Mal eine Postkarte geschrieben hatte: »Beste Grüße Ihre Anna Sauter.« Und darunter: »Gestern habe ich drei Portionen Gefrorenes gegessen.« Das war seine erste Liebe.

      Seine zweite Liebe war das Wirtshausmensch in seinem Heimatdorfe, fern in Niederösterreich, nahe der ungarischen Grenze. Sein Vater war Lehrer, er war das neunte Kind und damals fünfzehn Jahre alt und das Wirtshausmensch gab ihm das Ehrenwort, daß er es um acht Uhr Abend in den Maisfeldern treffen wird und, daß es nur zwei Kronen kostet. Aber als er hinkam, stand ein Husar bei ihr und wollte ihn ohrfeigen. Vieles ist damals in seiner Seele zusammengebrochen und erst später hat er erfahren, daß das seiner Seele nichts geschadet hat, denn das Wirtshausmensch war krank und trieb sich voll Geschwüren und zerfressen im Land herum und bettelte. Bis nach Kroatien kam sie und in Slavonien riet ihr eine alte Hexe, sie solle sich in den Düngerhaufen legen, das heilt. Sie ist aber in die Grube gefallen, weil sie schon fast blind war, und ersoffen.

      Endlich konnte Agnes die Haustüre öffnen und Eugen dachte, wie dürfe man nur denken, daß diese Agnes da nicht hübsch ist! Er gab ihr einen Kuß und sie sagte, heute sei Dienstag und morgen sei Mittwoch.

      Sie schwieg und sah die Schellingstraße entlang, hinab bis zur Ludwigskirche.

      Dann gab sie ihm ihr Ehrenwort, am Mittwoch um sechs Uhr abends an der Ecke der Schleißheimerstraße zu sein und er sagte, er wolle es ihr glauben und sie meinte noch, sie freue sich schon auf den Spaziergang über das Oberwiesenfeld.

      »Also morgen« lächelte Agnes und überlegte sich: er hat wirklich breite Schultern und der Frack steht ihm sicher gut und sie liebte die weißen Hemden.

      Sie sah ein großes Hotel in Afrika.

      »Also morgen« wiederholte sie.

       Inhaltsverzeichnis

      Agnes stand im Treppenhaus und ihre Seele verließ die afrikanische Küste. Sie schwebte über den finsteren Tannenwäldern, lieblichen Seen und unheimlichen Eisriesen des Salzkammerguts und erblickte endlich das kleine Hotel, das sich Eugen kaufen wollte, hätte es eben nur jenen Weltkrieg nicht gegeben und hätte er in jenem großen afrikanischen Hotel dem Vanderbilt seinem Neffen serviert.

      Und während sie die Stufen hinaufstieg, wurde auch jenes kleine Hotel immer größer und da sie den vierten Stock betrat, war das Hotel auch vier Stock hoch gewachsen. Es hatte sogar einen Turm und aus jedem Fenster hing eine Fahne und vor dem Eingang stand ein prächtiger Portier in Gold und Rot und ein Unterportier in Rot und Gold. Auch ein großer Garten war da, eine Terrasse am See, ein Autobus und das Alpenglühen. Das Publikum war elegant und plauderte. Man sah viele Pyjamas und auch die herrlichen hellbraunen Schuhe, die es beim Schlesinger in der Kaufingerstraße zu kaufen gibt.

      Überhaupt diese Schuhe!

      Sie ist mal zum Schlesinger hinein und hat bloß gefragt: »Bittschön, was kostn die hellbraunen Schuh in der Auslag?« Aber die Verkäuferin hat sie nur spöttisch angeschaut und eine zweite Verkäuferin hat gesagt: »Nur sechsundvierzig Mark« und hat dazu so grausam gelächelt, daß sie direkt verwirrt geworden ist und niesen hat müssen.

      »Nur sechsundvierzig Mark!« hörte sie jetzt im Treppenhaus wieder die Stimme der Verkäuferin, während sie sich die Schuhe auszog, denn sonst würde die Tante aufwachen und fragen: »Was glaubst du, wo du schon enden wirst, Schlampn läufiger?«

      Sie könnte nicht antworten. Sie wollte nichts glauben. Sie wußte ja nicht, wo sie enden wird.

       Inhaltsverzeichnis

      Die Wohnung der Tante bestand aus zwei Zimmern, Küche, kleinem Vorraum und stockfinsterem Klosett. Das eine Zimmer hatte die Tante an den Herrn Kastner vermietet, das andere stand augenblicklich leer, denn es war schon seit einem halben Jahr verwanzt. Die Wanzen hatte der Herr Kastner gebracht und hatte sich dann bei der Tante beschwert und hatte ihr mitgeteilt, daß er ihr die Miete schuldig bleibt, bis nicht die letzte Wanze vertilgt wäre.

      Das leere Zimmer bewohnte Agnes. Die Tante schlief in der Küche, weil sie mit der Heizung sparen wollte. Der Sommer 1928 war zwar ungewöhnlich heiß, aber die Tante war das nun einmal seit 1897 so gewöhnt und so schnarchte sie nun in der Küche neben ihrem Kanari.

      Als Agnes die Wohnung betrat, erwachte der Kanari und sagte: »Piep.«

      »Piep nur«, ärgerte sich Agnes, »wenn du die Tante aufpiepst, dann laß ich dich aber fliegen, ich weiß, du kannst nicht fliegen, so kriegt dich die Katz.«

      Erschrocken verstummte der Kanari und horchte: droben auf dem Dache saß die Katz und unterhielt sich mit dem Kater vom ersten Stock über den Kanari, während sich Agnes in ihr Zimmer schlich.

      »Man sollte alles der Tante erzählen«, dachte der Kanari. »Es tut mir tatsächlich leid, daß ich nur singen kann. Ich wollt, ich könnt sprechen!«

       Inhaltsverzeichnis

      »So ein Kanari hats gut«, dachte Agnes. »Ich wollt, ich könnt singen!« fuhr sie fort und setzte sich apathisch auf den einzigen Stuhl, der krächzte, aber sie meinte nur: »Zerbrich!« So müde war sie.

      Der Stuhl ächzte jämmerlich, er war nämlich sehr zerbrechlich, denn der Kastner hatte ihn mal aus Wut über die Tante zerbrochen und die Tante hatte ihn vor vier Wochen bloß provisorisch zusammengeleimt. Agnes zog sich aus, so langsam, als wöge jeder Strumpf zehn Pfund.

      Ihr gegenüber an der Wand hing ein heiliges Bild: ein großer weißer Engel schwebte in einem Zimmer, das auch verwanzt sein konnte, und verkündete der knieenden Madonna: »Bei Gott ist kein Ding unmöglich!« Und Agnes dachte, Eugen habe wirklich schön achtgegeben und sei überhaupt ein lieber Mensch, aber leider kein solch weißer Engel, daß man unbefleckt empfangen könnte. Warum dürfe das nur Maria, warum sei gerade sie auserwählt unter den Weibern? Was habe sie denn schon so besonderes geleistet, daß sie so fürstlich belohnt worden ist? Nichts habe sie getan, sie sei doch nur Jungfrau gewesen und das hätten ja alle mal gehabt.

      Auch sie selbst hätte das mal gehabt.

      Noch


Скачать книгу