Gesammelte Werke. Alfred Adler
Читать онлайн книгу.zu wenig soziales Interesse entwickelt hat, um sich an andere anzuschließen, ist auch aus diesem Falle klar genug zu sehen. Kurz vor Vollendung seiner Studien, als die Frage einer selbständigen Existenz an ihn herantrat, erkrankte er an Melancholie, so daß er auch jetzt wieder den Rückzug antrat. Als Kind war er, wie alle verwöhnten Kinder, ängstlich und zog sich vor fremden Leuten zurück. Später von Kameraden und Kameradinnen. Ebenso vor seinem Beruf, was in wenig gemildertem Grade bis jetzt andauert.
Ich begnüge mich mit dieser Darstellung und übergehe die Begleitakkorde, die »Gründe«, die Ausreden, die anderen Krankheitssymptome, mit denen er seinen Rückzug »sicherte«. Klar ist eines: Dieser Mann hat sich zeitlebens nicht geändert. Er wollte immer der erste sein und zog sich immer zurück, wenn er am Erfolge zweifelte. Seine Meinung vom Leben läßt sich (wie wir erraten können, was ihm aber verborgen war) in die Formel fassen: »Da die Welt mir meinen Triumph vorenthält, ziehe ich mich zurück.« Man kann nicht leugnen, daß er als ein Mensch, der seine angestrebte Vollendung im Triumph über die anderen sieht, nur darin richtig und intelligent gehandelt hat. Es ist nicht »Vernunft«, nicht »common sense« in seinem Bewegungsgesetz, das er sich gegeben hat, wohl aber, was ich »private Intelligenz« genannt habe. Würde jemandem dies Leben tatsächlich jeden Wert verweigern, könnte er nicht viel anders handeln.
Ähnlich, nur mit anderen Ausdrucksformen, mit geringerer Ausschaltungstendenz behaftet, erscheint folgender Fall: Ein 26jähriger Mann wuchs zwischen zwei von der Mutter vorgezogenen Geschwistern auf. Mit großer Eifersucht verfolgte er die überlegenen Leistungen seines älteren Bruders. Der Mutter gegenüber nahm er sehr bald eine kritische Haltung ein und lehnte sich � immer eine zweite Phase im Leben eines Kindes � an den Vater an. Seine Abneigung gegen die Mutter griff infolge unleidlicher Gewohnheiten seiner Großmutter und einer Kinderfrau bald auf das ganze weibliche Geschlecht über. Sein Ehrgeiz, nicht von einer Frau beherrscht zu werden, dagegen Männer zu beherrschen, wuchs riesengroß. Die Überlegenheit seines Bruders suchte er auf alle mögliche Weise zu unterbinden. Daß der andere an Körperkraft, im Turnen und auf der Jagd überlegen war, machte ihm die körperlichen Leistungen verhaßt. Er schloß sie aus der Sphäre seiner Wirksamkeit aus, wie er auch schon im Begriffe war, die Frauen auszuschalten. Leistungen lockten ihn nur an, wenn sie für ihn mit einem Triumphgefühl verbunden waren. Eine Zeitlang liebte und verehrte er ein Mädchen so recht aus der Ferne. Dem Mädchen gefiel offenbar diese Zurückhaltung nicht, und so entschied sie sich für einen anderen. Daß sein Bruder eine glückliche Ehe führte, erfüllte ihn mit Furcht, nicht so glücklich zu sein und in der Meinung der Welt, wieder wie in der Kindheit bei seiner Mutter, eine schlechtere Rolle zu spielen. Ein Beispiel für viele, wie es ihn drängte, dem Bruder den Vorrang streitig zu machen. Einst brachte der Bruder von der Jagd einen prächtigen Fuchspelz nach Hause, auf den er sehr stolz war. Unser Freund schnitt heimlich die weiße Schwanzspitze ab, um den Bruder um seinen Triumph zu bringen. Sein Sexualtrieb nahm jene Richtung an, die ihm nach Ausschaltung der Frau übriggeblieben war und wurde in Anbetracht seiner im kleineren Rahmen stärkeren Aktivität homosexuell. Seine Meinung vom Sinn des Lebens war leicht zu entziffern: Leben heißt: ich muß in allem, was ich beginne, der Überlegene sein. Und er suchte diese Überlegenheit zu erreichen, indem er Leistungen ausschloß, deren triumphale Erfüllung er sich nicht zutraute. Daß im homosexuellen Verkehr auch der Partner sich den Sieg seiner magischen Anziehungskraft wegen zusprach, war die erste störende bittere Erkenntnis im Laufe unserer aufklärenden Gespräche.
Auch in diesem Falle dürfen wir behaupten, daß die »private Intelligenz« ungestört ist und daß vielleicht die meisten den gleichen Weg betreten würden, wenn die Zurückweisung von seiten der Mädchen allgemeine Wahrheit wäre. In der Tat findet sich die große Neigung zur Verallgemeinerung als grundlegender Fehler im Aufbau des Lebensstils ungemein häufig. »Lebensplan« und »Meinung« ergänzen sich gegenseitig. Sie beide haben ihre Wurzel in einer Zeit, in der das Kind unfähig ist, seine Schlußfolgerungen aus seinem Erleben in Worte und Begriffe zu fassen, aber in der es bereits beginnt, aus wortlosen Schlußfolgerungen, aus oft belanglosen Erlebnissen oder aus stark gefühlsbetonten wortlosen Erfahrungen allgemeinere Formen seines Verhaltens zu entwickeln. Diese allgemeinen Schlußfolgerungen und die entsprechenden Tendenzen, gebildet in einer Zeit der Wort- und Begriffslosigkeit, sind nun, allerdings verschiedentlich gemildert, weiter wirksam in der späteren Zeit, in der der common sense mehr oder weniger korrigierend eingreift und Menschen davon abhalten kann, sich allzusehr auf Regeln, Phrasen und Prinzipien zu stützen. Wie wir später sehen werden, ist diese Befreiung von zuweitgehenden Stütz- und Sicherungsversuchen, Ausdrücken eines schweren Unsicherheits- und Minderwertigkeitsgefühls, dem durch das Gemeinschaftsgefühl gesteigerten common sense zu verdanken. Daß derselbe fehlerhafte Vorgang auch bei Tieren vorkommt, zeigt unter anderem folgender, häufig zu beobachtende Fall: Ein junger Hund wurde abgerichtet, seinem Herrn auf der Straße zu folgen. Er hatte es in dieser Kunst schon ziemlich weit gebracht, als es ihm eines Tages einfiel, ein im Fahren begriffenes Automobil anzuspringen. Er wurde von diesem weggeschleudert, ohne Schaden erlitten zu haben. Dies war sicherlich eine singuläre Erfahrung, für die er kaum eine angeborene Antwort bereit haben konnte. Man wird auch schwerlich von einem »conditioned reflex« sprechen können, wenn man erfährt, daß dieser Hund weiter in seiner Dressur Fortschritte machte, nur an den Ort des Unfalles nicht mehr hinzubringen war. Er fürchtete nicht die Straße, nicht die Fuhrwerke, sondern den Ort des Geschehnisses und kam zu einem allgemeinen Schluß, wie ihn auch manchmal Menschen ziehen: Der Ort, nicht die eigene Unachtsamkeit und Unerfahrenheit ist schuld. Und immer an diesem Orte droht Gefahr. Er sowohl, wie auch manche, die ähnlich vorgehen, halten an solchen Meinungen fest, weil sie wenigstens das eine dadurch erreichen, »an diesem Orte« nicht mehr geschädigt werden zu können. Ähnliche Strukturen finden sich häufig in der Neurose, in der ein Mensch sich vor einer drohenden Niederlage, einem Verlust seines Persönlichkeitsgefühls fürchtet und sich dadurch zu schützen trachtet, daß er die aus seiner seelischen Erregung vor einem als unlösbar mißverstandenen Problem stammenden körperlichen oder seelischen Symptome in Kauf nimmt und ausnützt, um den Rückzug antreten zu können.
Daß wir nicht von »Tatsachen«, sondern von unserer Meinung über Tatsachen beeinflußt sind, liegt klar auf der Hand. Unsere größere oder geringere Sicherheit, den Tatsachen entsprechende Meinungen gebildet zu haben, liegt ganz, insbesondere bei unerfahrenen Kindern und gemeinschaftsfremden Erwachsenen, in der immer unzulänglichen Erfahrung und in der Widerspruchslosigkeit unserer Meinung und dem Erfolg unseres Handelns entsprechend unserer Meinung. Daß diese Kriterien häufig unzulänglich sind, weil der Kreis unseres Handelns oft eingeschränkt ist, auch weil kleinere Fehlschläge und Widersprüche oft mühelos oder mit Hilfe anderer mehr oder weniger glatt erledigt werden können, ist leicht zu ersehen und hilft mit, den einmal erfaßten Lebensplan dauernd einzuhalten. Erst größere Fehlschläge erzwingen ein schärferes Nachdenken, das aber nur bei Menschen fruchtbar ausfällt, die an der mitmenschlichen Lösung der Lebensfragen beteiligt sind, die frei sind von persönlichen Zielen einer Überlegenheit.
Wir kommen so zum Schlüsse, daß jeder eine »Meinung« von sich und den Aufgaben des Lebens in sich trägt, eine Lebenslinie und ein Bewegungsgesetz, das ihn festhält, ohne daß er es versteht, ohne daß er sich darüber Rechenschaft gibt. Dieses Bewegungsgesetz entspringt in dem engen Raum der Kindheit und entwickelt sich in wenig eingeschränkter Wahl unter freier, durch keine mathematisch formulierbare Aktion beschränkter Ausnützung von angeborenen Kräften und Eindrücken der Außenwelt. Die Richtung und die gerichtete Ausnützung von »Instinkten«, »Trieben«, Eindrücken der Außenwelt und der Erziehung ist das künstlerische Werk des Kindes, das nicht »besitzpsychologisch«, sondern »gebrauchspsychologisch« verstanden werden kann. Typen, Ähnlichkeiten, annähernde Übereinstimmungen sind oft nur Befunde, zu denen die Armut unserer Sprache Vorschub leistet, weil sie die immer vorhandenen Nuancen nicht einfach auszudrücken vermag, oder Ergebnisse einer statistischen Wahrscheinlichkeit. Ihre Feststellung darf nie zur Aufstellung einer Regel ausarten; sie kann niemals den Einzelfall dem Verständnis näher bringen, sondern nur zur Beleuchtung eines Gesichtsfeldes Verwendung finden, in dem der Einzelfall in seiner Einmaligkeit gefunden werden muß. Die Feststellung eines verschärften Minderwertigkeitsgefühls zum Beispiel sagt noch nichts aus über Art und Charakteristik des Einzelfalles, ebensowenig der Hinweis auf irgendwelche Mängel der Erziehung oder der sozialen Verhältnisse. Sie zeigen sich im Verhalten des Individuums zur