Gesammelte Werke. Alfred Adler
Читать онлайн книгу.die sich damit befassen, festzustellen, was ein Mensch auf die Welt mitbringt und besitzt, die aus diesem Besitz alles Seelische ableiten wollen. Vom Standpunkt des Common sense ist das eine fatale Angelegenheit. Sonst ist man im Leben nicht geneigt, alle Folgerungen aus dem Besitz zu ziehen, sondern daraus, welchen Gebrauch einer von dem Besitz machen kann. Uns interessiert der Gebrauch viel mehr als der Besitz. Wenn einer ein Schwert besitzt, so ist damit nicht gesagt, daß er davon den richtigen Gebrauch macht; er kann es wegwerfen, kann dreinhauen, es schleifen usw. Uns interessiert der Gebrauch. Deshalb möchte ich sagen: es gibt andere Richtungen der Psychologie, die man als Gebrauchspsychologien betrachten müßte. Die Individualpsychologie, die die Stellungnahme eines Menschen zu den Lebensfragen berücksichtigt, um ihn zu verstehen, berücksichtigt den Gebrauch. Für richtig denkende Menschen brauche ich nicht hinzuzufügen, daß niemand einen Gebrauch machen kann, der über seine Fähigkeiten hinausgeht, daß er immer im Rahmen menschlicher Fähigkeiten bleibt, über deren Tragweite wir nichts Endgültiges aussagen können. Es ist bedauerlich und zeugt von dem triumphalen Einzugsmarsch des Ignorantentums in das Feld der Psychologie, daß man über Gemeinplätzliches noch reden muß.
Bezüglich des Gebrauchs der Fähigkeiten ist zu sagen: es war eigentlich der stärkste Schritt, den die Individualpsychologie gemacht hat, daß sie das Bewegungsgesetz im Seelenleben eines Menschen als das Ausschlaggebende für seine Eigenart erklärt hat. Obgleich es notwendig war, die Bewegung einfrieren zu lassen, um sie als Form zu sehen, haben wir immer alles von dem Gesichtspunkt aus, daß alles Bewegung ist, gesehen, und gefunden, daß es so sein muß, um zur Lösung von Fragen, zur Überwindung von Schwierigkeiten zu gelangen. Da kann man nicht sagen, daß das Lustprinzip dem widersprechen würde; auch das Streben nach Lust ist eine Überwindung eines Mangels oder einer Unlustempfindung. Wenn das richtig ist, dann werden wir die sexuellen Perversionen auch in diesem Licht sehen müssen. So wird erst einmal das Feld der Bewegung beleuchtet, wie es die Individualpsychologie verlangt. Ich möchte betonen, daß, wenn wir dabei zu Formeln, Grundanschauungen der Struktur der Perversionen kommen, für den einzelnen Fall damit lange nicht genug getan ist. Jeder einzelne Fall stellt etwas Einmaliges dar, etwas nie Wiederkehrendes. Wenn man z. B. an eine Therapie geht, sind allgemeine Redensarten zu verwerfen. Aus der Tatsache der Gebrauchspsychologie folgt, daß das Individuum, losgelöst aus dem normalen, sozialen Verband, nichts von seiner Eigenart verraten könnte. Wir werden erst dann über seine Eigenart etwas aussagen können, wenn wir es einer Prüfung unterwerfen und nun den Gebrauch, den es von seinen Fähigkeiten macht, beobachten. In diesem Sinne ist die Individualpsychologie der viel engeren Experimentalpsychologie angenähert, nur daß das Leben da die Experimente anstellt. Die exogenen Faktoren, die sich vor das Individuum stellen, sind für unsere Betrachtung von größter Bedeutung, wir müssen verstehen lernen, welche Bezogenheit gerade dieses einmalige Individuum zu dem bevorstehenden Problem hat. Wir müssen zwei Seiten betrachten und lernen, in welcher Art dieses Individuum sich gegenüber dem äußeren Problem bewegt. Wir suchen, wie es Herr über das Problem zu werden trachtet. Die Gangart, das Bewegungsgesetz des Individuums einer stets sozialen Aufgabe gegenüber ist das Beobachtungsfeld der Individualpsychologie. Wir stehen hier vor millionenfachen Verschiedenheiten. Man kann sich in der ungeheuren Verschiedenheit nur zurechtfinden, wenn man vorläufig etwas Typisches annimmt, im sicheren Bewußtsein, daß das, was man als typisch annimmt, immer Varianten zeigt, die in der Folge sichergestellt werden müssen. Das Verständnis für das Typische beleuchtet nur das Untersuchungsfeld, und nun beginnt die schwierige Aufgabe, das Individuelle herauszufinden. Dazu gehört eine feine Epidermis; man kann sie erwerben. Ferner muß die individuell erfaßte Schwere und Wucht des vorliegenden Problems richtig verstanden werden, was nur gelingt, wenn man genug soziale Erfahrung besitzt und ein feines Einfühlungsvermögen in den richtig erfaßten Lebensstil des Individuums, d. h. in das Ganze seiner Eigenart. In diesem Bewegungsgesetz, das wir wahrnehmen, können wir vier typische Formen unterscheiden, die ich in meinen zwei letzten Arbeiten in der Zeitschrift für Individualpsychologie beschrieben habe.
Abgesehen von den anderen Bewegungsformen gegenüber den Aufgaben des Liebeslebens finden wir in auffallender Weise bei den Perversionen die verengerte Aufmarschbreite. Es zeigt sich, daß die Aufmarschbreite nicht in normalem Ausmaße vorhanden ist, daß sie außerordentlich eingeengt ist, daß nur ein Teil des Problems gelöst wird, wie z. B. beim Fetischismus. Wichtig ist auch das Verständnis für die Tatsache, daß alle diese Bewegungsformen durch Ausschaltung der Norm auf ein Ziel der Überwindung von Minderwertigkeitsgefühlen gerichtet sind. Wenn wir die Bewegung betrachten, den Gebrauch, den einer von seinen Fähigkeiten macht, wobei ihn seine Meinung leitet, der Sinn, den er dem Leben unterschiebt, ohne es zu wissen, ohne es in Worte und Begriffe gebracht zu haben, wenn wir von diesem Standpunkt ausgehen, können wir erraten, welches Ziel der Überwindung ihm vorschweben muß, welche Genugtuung, die ihm als Überwindung erscheint, wenn er sich dem Liebesproblem nicht ganz hingibt, in einer Distanz bleibt oder langsamer vorgeht und die Zeit vertrödelt. Da könnte man auf das Beispiel des Fabius Maximus Cunctator hinweisen, der eine Schlacht gewann, weil er lange gezögert hatte, was aber wieder nur zeigt, daß man nicht starr an einer Regel festhalten darf. Dieses Ziel der Überwindung wird auch in den sexuellen Neurosen (Frigidität, Ejaculatio praecox usw.) klar. Das Problem wird berührt, aber in einer Distanz, in zögernder Haltung, ohne Kooperation, was nicht zur Lösung des Problems führt. In dieser Bewegungsform finden wir auch die Tendenz zur Ausschaltung, die am stärksten bei der reinen Homosexualität zutage tritt. Auch in anderen Fällen ist sie wirkend, wie beim Fetischismus und Sadismus. In letzterem finden wir eine starke Aggression, die nicht zur Lösung des Problems führt, und können eine eigenartige Form des Zögerns, der Ausschaltung wahrnehmen, in der eine Sexualerregung zur Unterdrückung des anderen führt, einen starken Ansturm, der zu einer mangelhaften, d. h. einseitigen Lösung eines Problems Anlaß gibt. Ebenso beim Masochismus, bei dem das Ziel der Überlegenheit in zweierlei Richtungen verstanden werden muß. Es ist klar, daß der Masochist seinem Partner Befehle gibt und daß er sich trotz seines Schwächegefühls als Befehlshaber des anderen empfindet. Gleichzeitig schaltet er die Möglichkeiten einer Niederlage bei normaler Aufmarschbreite aus. Er kommt durch einen Trick zur Überwindung der ängstlichen Spannung.
Wenn wir die individuelle Stellungnahme des Individuums betrachten, so finden wir folgendes: wenn einer eine bestimmte Bewegungsform einhält, ergibt es sich von selbst, daß er andere Formen der Lösung des Problems ausschaltet. Diese Ausschaltung ist keine zufällige; ebenso wie dieser Bewegungsvorgang trainiert ist, so ist auch die Ausschaltung trainiert. Es gibt keine sexuelle Perversion ohne Training. Das sieht freilich nur der, der auf die Bewegung achtet. Noch einen zweiten Gesichtspunkt werden wir scharf hervorheben müssen. Der normale Bewegungsvorgang wäre der, auf ein Problem loszugehen, um es in seiner Gänze zu lösen. Wir finden diese Vorbereitung gar nicht, wenn wir die vorhergehende Bewegung des Individuums betrachten. Wenn wir bis in die ersten Kinderjahre des Individuums zurückgehen, finden wir, daß in dieser Zeit, angeregt durch Einflüsse von außen, aus angeborenen Fähigkeiten und Möglichkeiten ein Prototyp gebildet wird. Was aber dieses Kind aus allen Einflüssen und dem Erlebnis seiner Organe macht, können wir vorher nicht wissen. Hier arbeitet das Kind im Reiche der Freiheit mit eigener schöpferischer Kraft. Man findet Wahrscheinlichkeiten in Hülle und Fülle; ich war immer bemüht, sie hervorzuheben und gleichzeitig ihre kausale Bedingtheit zu leugnen. Es ist nicht richtig, daß ein Kind, das mit einer Schwäche der endokrinen Organe zur Welt kommt, ein Neurotiker werden muß, aber es gibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß im allgemeinen gewisse Erlebnisse in annähernd ähnlicher Richtung sich manifestieren, wenn nicht die richtigen erzieherischen Einflüsse zugunsten des sozialen Kontaktes wirksam werden. Auch die Einflüsse des Milieus sind nicht derart, daß wir voraussagen könnten, was das Kind daraus machen wird. Hier gibt es tausend Möglichkeiten im Reiche der Freiheit und des Irrtums. Jeder wird einen Irrtum gestalten, weil niemand der absoluten Wahrheit habhaft werden kann. Es zeigt sich folgendes: Der Prototyp muß, um ein annähernd normaler Mensch zu werden, mit einem gewissen Impuls zur Mitarbeit versehen sein. Es hängt die ganze Entwicklung eines Menschen davon ab, wieviel Kontaktgefühl in seinem dritten, vierten, fünften Lebensjahr entwickelt ist. In dieser Zeit schon zeigt sich der Grad der Anschlußfähigkeit. Wenn man die Fehlschläge daraufhin betrachtet, so sieht man, daß alle fehlerhaften Bewegungsformen aus einem Mangel an Kontaktfähigkeit zu erklären sind. Noch mehr: wegen seiner Eigenart ist der Betreffende gezwungen, gegen jede andere Form zu protestieren,