Gesammelte Werke. Alfred Adler
Читать онлайн книгу.Kapitel: Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben
VI. Kapitel: Die Vorbereitung auf das Leben
VII. Kapitel: Das Verhältnis der Geschlechter
II. Kapitel: Charakterzüge aggressiver Natur
III. Kapitel: Charakterzüge nicht aggressiver Natur
IV. Kapitel: Sonstige Ausdrucksformen des Charakters
Anhang:Allgemeine Bemerkungen zur Erziehung
Vorwort
Dieses Buch versucht dem breitesten Leserkreis die unerschütterlichen Grundlagen der Individualpsychologie und ihren Wert für die Menschenkenntnis, zugleich auch ihre Bedeutung für den Umgang mit Menschen und für die Organisation des eigenen Lebens zu zeigen. Es ist aus Jahresvorlesungen hervorgegangen, die im Volksheim in Wien vor einem vielhundertköpfigen Publikum gehalten wurden. Die Hauptaufgabe dieses Buches wird demnach darin zu suchen sein, die Mängel unseres Wirkens und Schaffens in der Gesellschaft aus dem fehlerhaften Verhalten des Einzelnen zu verstehen, seine Irrtümer zu erkennen und eine bessere Einfügung in den gesellschaftlichen Zusammenhang zu bewerkstelligen.
Irrtümer im Erwerb, in den Wissenschaften sind gewiß bedauerlich und schädlich. Irrtümer in der Menschenkenntnis sind meist lebensgefährlich. Die fleißigen Mitarbeiter an unserer Wissenschaft werden, so hoffe ich, weit über unseren Kreis hinaus die vorliegenden Feststellungen und Erfahrungen ebensowenig übersehen wollen wie unsere früheren.
Ich fühle mich gedrängt, an dieser Stelle Herrn Dr. jur. Broser meinen innigsten Dank auszusprechen. Er hat aus meinen Vorlesungen nahezu alles in emsiger Arbeit festgehalten, geordnet und gesichtet. Ich sage nicht zu viel, wenn ich feststelle, daß ohne seine Hilfe dieses Buch kaum zustande gekommen wäre.
Ebenso danke ich meiner Tochter, Dr. med. Ali Adler, für die Durchsicht der Korrekturen und für den Abschluß des Buches in einer Zeit, in der ich bestrebt war in England und Amerika der Individualpsychologie neue Freunde zu gewinnen.
Der Verlag S. Hirzel hat in vorbildlicher Art das Erscheinen des Buches gefördert und in umsichtiger Weise die Öffentlichkeit vorbereitet. Die Individualpsychologie ist ihm hierfür zu besonderem Dank verpflichtet.
Diese Vorträge und dieses Buch sollen dem Zwecke dienen, den Weg der Menschheit zu beleuchten.
London, am 24. November 1926
Dr. Alfred Adler
Einleitung
Des Menschen Gemüt
ist sein Geschick.
(Herodot)
Die Grundlagen der Menschenkenntnis sind derart, daß sie allzuviel Überhebung und Stolz nicht zulassen. Im Gegenteil, wahre Menschenkenntnis muß geeignet sein, eine gewisse Selbstbescheidung eintreten zu lassen, indem sie uns lehrt, daß hier eine ungeheure Aufgabe vorliegt, an der die Menschheit seit den Uranfängen ihrer Kultur arbeitet, ein Werk, das sie bloß nicht zielbewußt und systematisch angegangen hat, so daß man immer nur einzelne große Menschen auftauchen sieht, die über mehr Menschenkenntnis verfügten als der Durchschnitt. Damit berühren wir einen wunden Punkt. Wenn man nämlich die Menschen unvoreingenommen auf ihre Menschenkenntnis hin prüft, so findet man, daß sie meistens versagen. Wir besitzen alle nicht viel Menschenkenntnis. Das hängt mit unserem isolierten Leben zusammen. Nie dürften die Menschen so isoliert gelebt haben wie heutzutage. Schon von Kindheit an haben wir wenig Zusammenhänge. Die Familie isoliert uns. Auch unsere ganze Art des Lebens gestattet uns keinen so intimen Kontakt mit unseren Mitmenschen, wie er zur Entfaltung einer Kunst, wie es Menschenkenntnis ist, unumgänglich notwendig ist. Das sind zwei Momente, die voneinander abhängig sind. Denn wir können wieder den Kontakt mit den anderen Menschen nicht finden, weil sie uns mangels eines besseren Verständnisses allzulange fremd anmuten.
Die schwerwiegendste Folge dieses Mangels ist die, daß wir in der Behandlung unserer Mitmenschen und im Zusammenleben mit ihnen meist versagen. Es ist eine oft hervorgehobene und empfindliche Tatsache, daß die Menschen aneinander vorübergehen und vorüberreden, den Zusammenschluß nicht finden können, weil sie sich fremd gegenüberstehen, nicht nur im weiteren Rahmen einer Gesellschaft, sondern sogar im engsten Kreis der Familie. Nichts tritt uns öfter entgegen, als Klagen von Eltern, die ihre Kinder nicht verstehen, und von Kindern, daß sie von den Eltern nicht verstanden würden. Und doch liegt in den Grundbedingungen des menschlichen Zusammenlebens so viel Zwang, einander zu verstehen, weil unsere gesamte Haltung zum Nebenmenschen davon abhängt. Die Menschen würden viel besser zusammenleben, wenn die Menschenkenntnis größer wäre, weil gewisse störende Formen des Zusammenlebens wegfielen, die heute nur deshalb möglich sind, weil wir einander nicht kennen und so der Gefahr ausgesetzt sind, uns durch Äußerlichkeiten täuschen zu lassen und auf Verstellungen anderer hineinzufallen.
Wir wollen nun erklären, wieso gerade von seiten der Medizin die Versuche ausgehen, in diesem ungeheuren Gebiet eine Disziplin festzulegen, die sich Menschenkenntnis nennt, und welche Voraussetzungen diese Wissenschaft hat, welche Aufgaben ihr zufallen und welche Ereignisse von ihr erwartet werden können.
Vor allem ist die Nervenheilkunde selbst schon eine Disziplin, welche Menschenkenntnis in dringendster Weise erfordert. Der Nervenarzt ist genötigt, sich so rasch wie möglich einen Einblick in das Seelenleben nervös erkrankter Menschen zu verschaffen. Auf diesem Gebiet der Medizin kann man sich nur dann ein brauchbares Urteil bilden, man ist nur dann imstande, Eingriffe und Kuren vorzunehmen oder vorzuschlagen, wenn man sich darüber klar ist, was in der Seele des Patienten vorgeht. Hier gibt es keine Oberflächlichkeit, hier folgt auf den Irrtum sofort die Strafe und auf das richtige Erfassen zumeist auch der Erfolg. Hier wird also ziemlich strenge und sofortige Prüfung abgehalten. Im gesellschaftlichen Leben darf man sich in der Beurteilung eines Menschen schon eher irren. Auch hier folgt zwar jedesmal die Strafe, doch kann die Reaktion darauf so spät erfolgen, daß wir meist nicht mehr in der Lage sind, die Zusammenhänge zu erfassen und staunend davor stehen, wie ein Irrtum in der Beurteilung eines Menschen vielleicht Jahrzehnte später zu schweren Mißerfolgen und Schicksalen geführt hat. Solche Umstände belehren uns immer wieder über die Notwendigkeit und die Pflicht der Gesamtheit Menschenkenntnis zu erwerben und zu vertiefen.
Bei unseren Untersuchungen erkannten wir bald, daß jene seelischen Anomalien, Verwicklungen und Fehlschläge, die man in Krankheitsfällen so oft wahrnimmt, im Grunde genommen, ihrer Struktur nach nichts enthalten, was dem Seelenleben der sog. normalen Menschen fremd wäre. Es sind dieselben Elemente und Voraussetzungen, nur tritt alles krasser und deutlicher hervor und ist leichter erkennbar. Und so gestattet uns