Gesammelte Werke. Alfred Adler
Читать онлайн книгу.in Fehlern einzelner Organe, geringer Widerstandskraft des Organismus, so daß das Kind vielfach Krankheiten ausgesetzt ist.
Die Ursache von Schwierigkeiten muß aber nicht immer in der Unfertigkeit des kindlichen Organismus gelegen sein, sie kann auch in der Schwere der Aufgaben liegen, die dem Kind durch eine unverständige Umgebung gesetzt werden, oder in einer Unvorsichtigkeit bei der Stellung dieser Aufgaben, kurz, in einer Mangelhaftigkeit der Umgebung des Kindes, die als eine Erschwerung der Außenwelt entstammt. Denn das Kind, das sich seiner Umgebung anpassen will, findet auf einmal Hindernisse, die diese Anpassung erschweren. Das ist z. B. der Fall, wenn das Kind in einer Umgebung aufwächst, die selbst schon den Mut verloren hat und von Pessimismus erfüllt ist, der leicht auf das Kind übergehen kann.
2. Einwirkung von Schwierigkeiten
Angesichts der Schwierigkeiten, die dem Kinde von verschiedenster Seite und aus den verschiedensten Ursachen entgegentreten, insbesondere wenn man bedenkt, daß das kindliche Seelenleben noch nicht lange Gelegenheit hatte sich zu entwickeln, ist es klar, daß man mit fehlerhaften Antworten zu rechnen hat, wenn sich beim Kind die Notwendigkeit einstellt, sich mit den unabweislichen Bedingungen der Außenwelt auseinanderzusetzen. Überblickt man eine Anzahl von Verfehlungen, dann drängt sich der Gedanke auf, man hat es hier mit einer Entwicklung des Seelenlebens zu tun, die während des ganzen Lebens nicht aufhört und in fortwährenden Versuchen besteht, vorwärts zu kommen und eine richtigere Antwort zu geben. Was wir insbesondere in den kindlichen Ausdrucksbewegungen zu erblicken haben, ist die Form einer Antwort, die ein werdender, sich der Reife nähernder Mensch in einer bestimmten Situation gibt. Diese Antwort, die Haltung eines Menschen wird uns Anhaltspunkte für die Artung seiner Seele bieten. Dabei ist wohl ins Auge zu fassen, daß die Ausdrucksformen eines Menschen — und auch die einer Masse — nicht ohne weiteres nach einer Schablone beurteilt werden dürfen.
Die Schwierigkeiten, mit denen das Kind in der Entwicklung seines Seelenlebens zu kämpfen hat und die fast regelmäßig zur Folge haben, daß es sein Gemeinschaftsgefühl nur äußerst mangelhaft entwickeln kann, können wir einteilen in solche, die aus der Mangelhaftigkeit der Kultur stammen und sich in der ökonomischen Situation der Familie und des Kindes äußern werden. Ferner in solche, die sich aus Mängeln körperlicher Organe ergeben. Einer Welt gegenüber, die eigentlich nur für vollwertige Organe geschaffen ist und wo alle Kultur, die das Kind umgibt, mit der Kraft und Gesundheit vollentwickelter Organe rechnet, haben wir dann ein Kind, das hinsichtlich wichtiger Organe mit Fehlern behaftet ist und infolgedessen den Anforderungen des Lebens nicht recht nachkommen kann. Hierher gehören z. B. Kinder, die später gehen lernen oder überhaupt Schwierigkeiten bei der Vornahme von Bewegungen haben, oder solche, die später sprechen lernen, die längere Zeit hindurch ungeschickt sind, weil bei ihnen die Entwicklung der Gehirntätigkeit länger dauert als bei jenen Kindern, mit denen unsere Kultur rechnet. Es ist bekannt, wie solche Kinder fortwährend anstoßen, schwerfällig sind, körperliche und seelische Leiden auf sich nehmen müssen. Sie sind sichtlich nicht angenehm berührt von einer Welt, die nicht recht für sie geschaffen ist. Derlei durch Unterentwicklung bedingte Schwierigkeiten sind außerordentlich häufig. Es besteht wohl die Möglichkeit, daß sich im Laufe der Zeit von selbst ein Ausgleich einstellt, ohne daß ein dauernder Schade zurückbleibt, wenn nicht schon in der Zwischenzeit die Bitternis des seelischen Notstandes, in dem solche Kinder aufwachsen und zu dem sich meist auch ein ökonomischer Notstand hinzugesellt, in ihrem Gemüt einen Niederschlag erzeugt, der sich oft im späteren Leben dieser Kinder fühlbar macht. Es ist leicht zu verstehen, daß die absolut gegebenen Spielregeln der menschlichen Gesellschaft von diesen Kindern schlecht befolgt werden. Sie werden mit Mißtrauen auf das Getriebe sehen, das sich um sie entwickelt, den Hang haben, sich abzusondern und sich ihren Aufgaben zu entziehen. Mit ganz besonderer Schärfe wittern und empfinden sie eine Feindseligkeit des Lebens und übertreiben sie. Ihr Interesse für die Schattenseiten des Lebens ist viel größer als das für die Lichtseiten. Meist überschätzen sie beides, so daß ihnen zeitlebens eine Kampfstellung anhaftet, bei der sie ein besonderes Maß von Aufmerksamkeit für sich beanspruchen und geneigt sind, mehr an sich selbst als an die andern zu denken. Da sie die Forderungen des Lebens mehr als Schwierigkeiten aufnehmen und nicht als Anreiz, da sie als Kämpfer mit zu weit getriebener Vorsicht allen Erlebnissen gegenüberstehen, klafft zwischen ihnen und ihrer Umwelt ein tiefer Abgrund. Sie entfernen sich immer mehr von der Wahrheit, von der Wirklichkeit und verwickeln sich immer von neuem in Schwierigkeiten.
Ähnliche Schwierigkeiten können entstehen, wenn die Zärtlichkeit der Angehörigen des Kindes unter einem bestimmten Maß bleibt. Auch dieser Umstand kann für die Entwicklung des Kindes bedeutsame Folgen haben. Seine Haltung wird dann dadurch beeinflußt, daß es die Liebe nicht kennen lernt und keinen Gebrauch davon zu machen versteht, weil sich sein Zärtlichkeitstrieb nicht entfaltet. Und wenn sich dieser in der Familie nicht entfaltet, besteht die Gefahr, daß es in späterer Zeit nur schwer gelingen wird, einen Menschen, der in solchen Verhältnissen aufgewachsen ist, zu einem regeren Austausch von Zärtlichkeiten irgendwelcher Art zu bewegen. Es wird zum Bestand seines Wesens werden, zärtlichen Regungen und Beziehungen auszuweichen. Dieselbe Wirkung kann aber auch eintreten, wenn Eltern, Erzieher oder die sonstige Umgebung durch irgendwelche Erziehungsmaximen so auf das Kind einwirken, daß es seine Zärtlichkeitsregungen als untunlich oder lächerlich empfindet. Es pflegt nicht so selten zu geschehen, daß dem Kind nahegelegt wird, Zärtlichkeit mit dem Eindruck von Lächerlichkeit zu verbinden. Das ist besonders bei Kindern der Fall, die öfters Gegenstand des Spottes sind. Man wird sie von einer Gefühlsscheu beherrscht finden, derzufolge sie jede Regung von Zärtlichkeit, von Liebe zu einem andern als lächerlich, unmännlich, als eine Regung betrachten, die sie in die Hörigkeit des andern bringt und sie in den Augen der anderen herabsetzt. Das sind jene Menschen, die schon in ihrer Kindheit allen künftigen Liebesbeziehungen eine Grenze gezogen haben. Lieblosigkeiten, die im großen und ganzen in eine harte Erziehung übergehen, die sich über alle Zärtlichkeitsregungen hinwegsetzt, haben bewirkt, daß sie in der Kindheit solche Regungen in sich verschlossen, und sich verstimmt, verbittert und erschreckt bald von dem kleinen Kreis ihrer Umgebung allmählich zurückgezogen haben, deren Gewinnung und Einbeziehung in ihr eigenes Seelenleben von größter Wichtigkeit gewesen wäre. Findet sich noch eine Person in der Umgebung, die dem Kind den Anschluß ermöglicht, so wird es ihn ganz besonders innig vollziehen. So wachsen oft Menschen auf, die überhaupt nur zu einer einzigen Person Beziehung gefunden haben, die ihre Anschlußneigung auf mehr als einen Menschen überhaupt nicht erstrecken können. Das Beispiel von dem Knaben, der so gekränkt war, als er bemerkte, daß sich die Zärtlichkeit der Mutter dem andern Bruder zuwandte, der seither immer im Leben umherirrte, um die Wärme zu finden, die er von früher Kindheit an vermißt hatte, ist ein Fall, der die Schwierigkeiten zeigt, die solche Menschen im Leben finden können.
Das ist die Gruppe jener Menschen, deren Erziehung unter einem gewissen Druck vor sich gegangen ist.
Auch in der entgegengesetzten Richtung können Fehlschläge eintreten, wenn durch eine besondere Wärme, von der die Erziehung begleitet ist, durch eine Verzärtelung des Kindes sein Zärtlichkeitstrieb über alle Grenzen hinaus entwickelt wird, so daß es sich zu enge an eine oder mehrere Personen anschließt und von ihnen nicht mehr lassen will. Die Zärtlichkeit des Kindes wird hier durch verschiedene Mißgriffe oft so weit gesteigert, daß das Kind dahinter kommt, daß aus seiner eigenen Zärtlichkeit gewisse Verpflichtungen für die andern erwachsen, wie es leicht bewirkt werden kann, wenn Erwachsene z.B. sagen: »Weil ich dich lieb habe, mußt du dies oder jenes tun.« Es kommt oft vor, daß innerhalb einer Familie ein derartiges Gewächs wuchert. Die Neigung anderer wird von solchen Kindern leicht aufgegriffen und dazu benutzt, um nunmehr durch gleiche Mittel die Abhängigkeit des andern ihrer eigenen Zärtlichkeit entsprechend zu steigern. Ein solches Aufflammen der Zärtlichkeit zu einer der Personen der Familie ist immer im Auge zu behalten. Es ist keine Frage, daß das Schicksal eines Menschen durch solche einseitige Erziehung nachteilig beeinflußt wird. Es können dann Erscheinungen eintreten, wie z. B. die, daß ein Kind, um die Zärtlichkeit eines andern festzuhalten, zu den gewagtesten Mitteln Zuflucht nimmt, etwa einen Rivalen, meist