Leo Tolstoi: Briefe. Leo Tolstoi
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Leo Tolstoi
Leo Tolstoi: Briefe
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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0999-6
Inhaltsverzeichnis
Brief an die Frau Baronin Rosen
Brief an die Redaktion der Londoner Zeitung » Daily Chronicle«
I.
Brief an die Frau Baronin Rosen.
Folgende drei Fragen haben Sie, gnädige Frau, an mich gerichtet:
1 Sollen auch geistig nicht besonders Begabte einen Ausdruck in Worten für die von ihnen erkannten Wahrheiten des inneren Lebens suchen?
2 Soll man in seinem inneren Leben nach voller Erkenntnis streben?
3 Wonach sollen wir uns in Augenblicken des Kampfes und des Schwankens richten, um zu erfahren, ob in unserem Inneren wirklich unser Gewissen spricht oder unser Verstand, der in unserer Schwachheit befangen ist?
Die dritte Frage habe ich der Kürze wegen in anderen Worten ausgedrückt, glaube aber, deren Sinn getroffen zu haben.
Diese drei Fragen stießen nach meiner Ansicht zu einer einzigen zusammen, – der zweiten, denn wenn man nicht nach voller Erkenntnis seines inneren Lebens streben soll, so ist es unnötig und unmöglich, die von uns erkannten Wahrheiten in Worten auszudrücken, und man hat nichts, woran man sich in Augenblicken des Schwankens halten könnte, um zu erfahren, ob in uns das Gewissen spricht oder der trügerische Verstand. Wenn man aber nach der höchsten dem menschlichen Verstand (welcher Art auch dieser Verstand sein mag) zugänglichen Erkenntnis streben soll, so sollen wir auch die von uns erkannten Wahrheiten in Worten ausdrücken, und eben an diese bis zur vollen Erkenntnis gebrachten und ausgesprochenen Wahrheiten sollen wir uns halten in Augenblicken des Kampfes und des Schwankens. Und deshalb habe ich Ihre zweite und Grundfrage bejahend zu beantworten, nämlich daß jeder Mensch zur Erfüllung seiner Bestimmung auf Erden und zur Erreichung des wahren Glücks (was immer zusammenfällt) immer alle seine Geisteskräfte darauf richten soll, sich selbst jene religiösen Grundlagen, durch die er lebt, das heißt den Sinn des Lebens, klarzustellen.
Unter ungebildeten Arbeitern, welche Erde ausgruben und dabei kubische Maße auszurechnen hatten, habe ich oft die weit verbreitete Ansicht getroffen, die mathematische Berechnung sei trügerisch und man dürfe ihr nicht trauen. Vielleicht deshalb, weil sie die Mathematik nicht kennen, oder weil die Leute, welche mathematische Berechnungen für sie machten, sie absichtlich oder unabsichtlich oft betrogen haben, hat sich bei ihnen die Überzeugung festgesetzt, die Mathematik sei unglaubwürdig und untauglich zur Bestimmung der Maße und ist für die Mehrzahl der ungebildeten Erdarbeiter zu einer unzweifelhaften Wahrheit geworden, für welche jeder Beweis überflüssig sei. Eine ähnliche Ansicht hat sich bei Menschen festgesetzt, die ich offen irreligiös nenne, – nämlich die Ansicht, der Verstand könne religiöse Fragen nicht lösen, die Anwendung des Verstandes auf solche Fragen sei eine Hauptursache von Irrtümern – der Versuch, religiöse Fragen durch den Verstand zu lösen, sei frevelhafter Hochmut. Ich sage das deshalb, weil der in Ihren Fragen liegende Zweifel daran, ob man nach Erkenntnis in seinen religiösen Überzeugungen streben solle, nur auf der Voraussetzung beruhen kann, daß der Verstand zur Lösung religiöser Fragen nicht angewendet werden könne. Eine solche Voraussetzung ist aber ebenso sonderbar und offenbar falsch, wie die Meinung, mathematische Probleme können nicht durch Ausrechnung gelöst werden.
Dem Menschen ist direkt von Gott nur ein Werkzeug der Erkenntnis seiner selbst und seiner Beziehungen zur Welt gegeben worden – und kein anderes – und dieses Werkzeug ist der Verstand. Und nun sagt man ihm, er könne den Verstand zur Lösung der Fragen anwenden, welche das Haus, die Familie, die Wirtschaft, die Politik, die Wissenschaften, die Kunst betreffen, nur nicht zur Aufklärung dessen, wofür er ihm eben verliehen wurde, und zur Klarstellung der wichtigsten Wahrheiten, von deren Erkenntnis sein ganzes Leben abhängt, dürfe der Mensch durchaus nicht den Verstand anwenden, sondern er müsse diese Wahrheiten mit Umgehung des Verstandes begreifen, während der Mensch mit Umgehung des Verstandes doch überhaupt nichts begreifen kann. Man sagt ihm: »Erkenne die Offenbarung des Glaubens.« Aber auch glauben kann der Mensch nicht mit Umgehung des Verstandes. Wenn der Mensch dieses glaubt und jenes nicht, so thut er dies nur deshalb, weil ihm der Verstand sagt, an dieses müsse man glauben, an jenes nicht. Die Behauptung, der Mensch dürfe sich nicht von seinem Verstand leiten lassen, ist ebenso unsinnig, als wollte man einem Menschen in einer unterirdischen Höhle, der eine Lampe trägt, raten, um aus der Höhle den Ausweg zu finden, müsse er die Lampe auslöschen und sich nicht vom Licht, sondern von etwas anderem leiten lassen.
Aber vielleicht wird man einwenden, wie auch Sie in Ihrem Brief sagen, daß nicht alle Menschen mit großem Verstand und der besonderen Fähigkeit begabt seien, ihren Gedanken Ausdruck zu geben und daß der ungeschickte Ausdruck der Gedanken über die Religion Irrtümer hervorrufen könne. Darauf antworte ich mit den Worten des Evangeliums: »Was den Weisen verborgen ist, das ist den Kindern offenbar.« Und dieser Ausspruch ist keine Übertreibung und kein Paradox, als welche man gewöhnlich solche Aussprüche des Evangeliums ansieht, welche uns nicht gefallen, sondern das ist eine Bestätigung der einfachsten, unzweifelhaften Wahrheit, daß jedem Wesen in der Welt ein Gesetz gegeben ist, das dieses Wesen befolgen soll, und daß zur Erkenntnis dieses Gesetzes jedem Wesen dazu dienliche Organe gegeben sind. Und darum ist jeder Mensch mit Verstand begabt, und in diesem Verstand wird jedem Menschen das Gesetz, das er befolgen soll, geoffenbart. Verborgen ist dieses Gesetz nur solchen Menschen, welche es nicht befolgen wollen, und um das Gesetz nicht zu befolgen, sich vom Verstand lossagen, und anstatt zur Erkenntnis der Wahrheit sich des ihnen gegebenen Verstandes zu bedienen, den Anweisungen ebensolcher Menschen, wie sie selbst sind, folgen, welche sich vom Verstand losgesagt haben.
Das Gesetz aber, das der Mensch beobachten soll, ist so einfach, daß es jedem Kind verständlich ist, um so mehr, als der Mensch nicht nötig hat, das Gesetz seines Lebens selbst aufs neue zu entdecken. Menschen, welche vor ihm lebten, haben es entdeckt und ausgesprochen, und der Mensch hat nur nötig, es mit seinem Verstand zu prüfen, die Grundsätze anzunehmen oder nicht anzunehmen, welche er in der Überlieferung ausgesprochen findet, das heißt nicht so, wie es Menschen anraten, welche das Gesetz nicht befolgen wollen, durch die Überlieferung den Verstand zu prüfen, sondern im Gegenteil durch den Verstand die Überlieferung.
Die Überlieferungen können von Menschen kommen und falsch sein, der Verstand aber kommt sicherlich direkt von Gott und kann nicht falsch sein.
Und darum sind zur Erkenntnis und zum Ausdruck der Wahrheit keine besonderen, hervorragenden Fähigkeiten erforderlich, – man muß nur daran glauben, daß der Verstand nicht nur die höchste göttliche Eigenheit des Menschen ist, sondern auch das einzige Werkzeug zur Erkenntnis der Wahrheit.
Eine besondere geistige Begabung ist meist nicht zur Erkenntnis und Klarstellung der Wahrheit nötig, sondern zur Überlegung und Klarstellung der Irrtümer.
Wenn die Menschen einmal von den Weisungen des Verstandes abgewichen sind, ihm nicht vertrauten, sondern aufs Wort glaubten, was für Wahrheit ausgegeben wird, beginnen sie, solche falsche, unnatürliche und widerspruchsvolle Lehrsätze aufzuhäufen und gläubig anzunehmen, – gewöhnlich in Gestalt