Ein Stück Lebensgeschichte, und andere Erzählungen. Selma Lagerlof
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Selma Lagerlöf
Ein Stück Lebensgeschichte, und andere Erzählungen
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2021
EAN 4064066117702
Inhaltsverzeichnis
Der erste im ersten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts
Die Legende von der Christrose
Noch ein Stück Lebensgeschichte
Die erste Prophezeiung
Wie dunkel ist es doch unter der Linde
Es war einmal eine Saga, die wollte erzählt und in die Welt hinausgetragen werden. Dies war ganz natürlich, weil sie wußte, daß sie schon so gut wie fertig war. Viele hatten mitgeholfen, sie durch merkwürdige Taten zu schaffen, andre hatten ihr Teil dadurch beigetragen, daß sie diese Taten immer wieder und wieder erzählten. Ihr fehlte nur, daß einer sie notdürftig zusammenfügte, damit sie gemächlich durchs Land ziehen könne. Sie war erst ein ganzes Gewühl von Geschichten, eine formlose Wolke von Abenteuern, die hin und her flatterten wie ein Schwarm verirrter Bienen an einem Sommertag und nicht wußten, wo sie einen finden sollten, der sie in einem Korbe vereinigen könnte.
Die Saga, die erzählt werden wollte, war in Värmland entstanden, und man kann sicher sein, daß sie über so manchen Herrenhöfen und Eisenhämmern, über so manchen Pfarrhöfen und Offizierswohnungen in der schönen Provinz schwebte, zum Fenster hineinguckte und um Einlaß bat. Aber sie mußte viele vergebliche Versuche machen: überall wurde sie abgewiesen. Es konnte ja kaum anders sein. Die Leute hatten an viel wichtigere Dinge zu denken.
Endlich kam die Saga in ein altes Haus, das Mårbacka hieß. Das war ein kleines Gehöft mit niedrigen Wirtschaftsgebäuden, die von hohen Bäumen überschattet wurden. Früher einmal war es ein Pfarrhof gewesen, und es war, als hätte ihm das ein Gepräge aufgedrückt, das es nicht verlieren könnte. Man schien dort größere Liebe zu Büchern und Studien zu haben als anderswo, und immer lag ein stiller Friede über diesem Hause. Da durfte niemals ein Jagen bei der Arbeit oder ein Zank mit dem Gesinde vorkommen. Haß oder Zwietracht durfte es da auch nicht geben; und wer sich dort aufhielt, durfte das Leben nicht schwer nehmen —: die allererste Pflicht war, sorglos zu sein und zu glauben, daß der liebe Herrgott für jeden, der in diesem Hause lebte, alles zum Besten lenke.
Wenn ich heute zurückdenke, weiß ich: die Saga, von der ich spreche, muß eine ganze lange Reihe von Jahren in ihrem vergeblichen Warten, daß sie einer erzähle, hier geweilt haben. Es dünkt mich, sie müsse das Haus umschwebt haben, so wie eine Wolke einen Bergesgipfel umschwebt; und einmal ums andre ließ sie eines der Abenteuer, aus denen sie bestand, darauf hinunterregnen. Sie kamen als seltsame Gespenstergeschichten von dem Gutsherrn, der immer schwarze Stiere vor dem Wagen hatte, wenn er nachts von einem Gastmahl heimkehrte, und in dessen Heim der leibhaftige Böse selbst im Schaukelstuhl saß und sich hin und her wiegte, während die Hausfrau spielte. Sie kamen als wunderliche Geschichten aus dem Nachbarhof, wo die Elstern die Hausmutter verfolgt hatten, so daß sie nicht wagte, vor die Tür zu gehen, von der Kapitänswohnung, wo sie so arm waren, daß sie sich alles hatten ausleihen müssen, und von der kleinen Hütte unten an der Kirche, wo so viele junge und alte Mädchen gewohnt, die sich alle in den schönen Orgelbauer verliebten.
Zuweilen kamen die lieben Abenteuer gleichsam noch handgreiflicher in das Haus. Alte arme Offiziere fuhren in rumpelnden Carriols, die mit uralten Pferden bespannt waren, an der Freitreppe vor. Sie machten Halt und blieben wochenlang zu Gaste; und am Abend, wenn der Toddy ihnen Mut gemacht hatte, begannen sie von der Zeit zu erzählen, wo sie ohne Strümpfe in den Schuhen getanzt hatten, damit die Füße kleiner aussähen, und wo sie ihr Haar gebrannt und ihren Schnurrbart geschwärzt hatten. Einer von ihnen prahlte mit dem Abenteuer, wie er versucht hatte, ein schönes Mädchen zu ihrem Bräutigam zurückzuführen, und wie er auf der Heimfahrt von Wölfen verfolgt worden war, ein andrer war bei dem Weihnachtsschmause mit dabei gewesen, wo ein erzürnter Gast alle Haselhühner an die Wand warf, weil man ihm eingeredet hatte, es wären Krähen, ein dritter hatte den Alten gesehen, der dazusitzen und auf einem Holztische Beethoven zu spielen pflegte.
Aber auch auf andere Weise konnte die Saga ihre Anwesenheit kundmachen. Auf dem Dachboden hing das alte Porträt einer Dame mit gepudertem Haar; und wenn jemand daran vorüberging, mußte er sich ja erinnern, daß es die schöne Grafentochter darstellte, die den jungen Lehrer ihres Bruders geliebt hatte und einmal gekommen war, ihn zu besuchen, als sie eine alte, ergraute Dame war und er ein alter verheirateter Mann. In der Rumpelkammer lagen große Haufen von Dokumentenbündeln, die Kaufkontrakte und Pachtverträge enthielten, unterzeichnet von der mächtigen Frau, welche einst über sieben Güter geherrscht, die sie von ihrem Geliebten geerbt hatte. Kam man in die Kirche, so sah man da in einem kleinen verstaubten Schrank unter der Empore die Truhe, die mit Schriften des Unglaubens gefüllt war und nicht vor dem Beginn des neuen Jahrhunderts geöffnet werden durfte; und nicht weit davon war der Fluß, auf dessen Grunde eine Menge Heiligenbilder ruhten, die nicht auf der Kanzel und der Empore hatten bleiben dürfen, denen sie einstmals zum Schmuck gedient hatten.
Daher, daß so viele Überlieferungen das Haus umschwebten, kam es wohl schließlich, wenn eines der Kinder, die dort aufwuchsen, Lust bekam, sie zu erzählen. Es war keiner von den Jungen — die waren nicht viel zu Hause, sie hielten sich beinahe das ganze Jahr in ihren Schulen auf, also daß die Saga nicht so große Macht über sie erlangte —, sondern es war eines von den Mädchen, eines, das kränklich war, so daß es nicht so viel umherlaufen und spielen durfte wie andre Kinder, sondern seine liebste Freude daran hatte,