Seefahrt ist not!. Gorch Fock

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Seefahrt ist not! - Gorch  Fock


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Gräben und Wischen wallte, ohne eines Weges oder Steges zu bedürfen, der durch die von selbst sperrweit aufgehenden Türen drängte und die Kirche füllte. Lautlos und gespenstisch besetzte er alle leeren Plätze und alle Gänge. Kopf an Kopf standen sie, die gekommen waren, die gebliebenen Fahrensleute, die alten und die jungen, die Schiffer und die Knechte. Mit weitgeöffneten, wasserleeren Augen sah der Segelmacher sie an. Wie sie über Bord gespült waren, standen und gingen sie, das Wasser leckte ihnen von den Südwestern, glänzte auf den Ölröcken und quoll aus den Seestiefeln. Der Spökenkieker sah sie und lugte, ob sie einen unter sich hatten, dessen Untergang am Deich noch nicht bekannt geworden war. Dabei blieb er ruhig, denn er war an Spuk gewöhnt: nur, wenn einer der Toten ihn ansah, schüttelte er den Kopf, als wenn er sagen wollte: an den Segeln hat es nicht gelegen, daß ihr geblieben seid: die Segel waren gut! Wobei er allerdings voraussetzte, daß er sie auch wirklich gemacht hatte.

      Endlich — ein erlösendes Husten unten im Schiff, ein befreiendes Scharren oben auf dem Chor, ein dreistes Sperlingsgeschrei draußen in den Erlen und Eschen. Da vergingen Gespenster und Gedanken, die Sonnenstrahlen fingen wieder an zu spielen und Alt-Bodemann bekam seine Sprache zurück. Und als er dann bei seinem Herrgott um den Hausstand anhielt und alle, die dazugehörten, um gottesfürchtige Eheleute, Eltern und Herren, gehorsame Kinder und frommes und getreues Gesinde, da war die große Stille vorüber: die Konfirmanden machten wieder ihre verstohlenen Zeichen, die Mädchen kicherten und stießen einander im geheimen an, Gesine Külper dachte an den ersten Schnellwalzer, Thees Segelmacher stützte die Ellbogen auf die Brüstung und hörte so nipp zu, als wenn er noch Pastor werden wollte, und die Fahrensleute rollten die Prüntjer geruhig wieder hinter die Kusen.

      Klaus Mewes, der junge Seefischer, der in der Nähe der Orgel auf dem Chor saß, war von der Erinnerung an seinen Vater freigekommen, die ihn jäh befallen hatte, und konnte sich wieder seines guten Platzes freuen. Denn er hatte sich so zu Anker gehen lassen, daß er nicht allein recht in der Sonne saß, sondern auch aus dem Fenster sehen konnte. Hinter den Wischen und Gräben sah er den hohen Deich aufragen und über den Stroh- und Pfannendächern der Häuser gewahrte er die Masten der Fischerfahrzeuge, die auf den Schallen und am Bollwerk lagen, und die Rauchwolken der Dampfer, die im Fahrwasser, hart am holsteinischen Elbufer, auf und ab fuhren: Dinge, die ihm Hirn und Herz mit Mut und Freude füllten!

      Wenn er dieses Mal gleichwohl nicht sonderlich darauf achtete, so konnte nur sein Junge schuld daran sein, der unter seinen Augen unermüdlich neben der Kirche im Gras auf und ab ging. Er freute sich wie ein Stint, daß er ihn nicht mit hereingenommen hatte, wie es eigentlich seine Absicht gewesen war, als der Junge ihm mit dem Hund nachgekommen war und gesagt hatte, sie wollten das Gesangbuch tragen und ihn bis an die Kirchentür bringen. Denn hätte der Vogel Bunt so lange ruhig gesessen und geschwiegen? Sicherlich nicht — er wäre bald aufgestanden und umhergelaufen und hätte geguckt und gezeigt und gefragt und getan: beim stillen Eingangsgebet in der Fensternische hätte er gefragt, wie jener Bauerjunge vom Osterende getan hatte, als er seinen Vater in den Hut gucken sah: Du Vadder, lot mi ok mol innen Hot kieken! Den Klingelbeutel hätte er in den Händen gewogen und ausgerufen: Junge, Junge, Vadder: dor is ober plenni Monne in! Und Geeschen Witten hätte er laut gefragt: Diern, Geeschen, wat schreest du? Hest du dien Ontjen woll nix to freten geben? Wenn er aber zur Ruhe ermahnt worden wäre, hätte er geantwortet: ick bün vörn Pastur ne bang, Vadder! — oder eingewendet: de lebe Gott is ne bi Hus, Vadder, de kann mi nix seggen!

      Es war weder vorwärts noch rückwärts aufzuzählen, was er alles angerichtet hätte, und es war besser, daß er draußen seine Wache abreißen mußte.

      Der Seefischer lachte in sich hinein.

      Als sie vor der Kirche angelangt waren, hatte Jochen Rolf sich zu ihnen gesellt und schalkhaft-ernst gemeint: wenn der Junge mit hinein wolle, müßten ihm wohl erst die Taschen durchsucht werden, damit er keine Steine bei sich behalte und sie dem Küster an den Kopf werfe. Solle er aber draußen bleiben, dann wäre nur zu wünschen, daß der Pastor es kurz und knapp mache, damit der Junge nicht die Geduld verliere und alles in Brand stecke. Worauf der Vogel Bunt die Kirche von oben bis unten angeguckt und dann ernsthaft erwidert hatte, die brenne ja gar nicht, weil sie ganz aus Stein gemacht sei. — Da war dem Seefischer ein köstlicher Einfall gekommen, er hatte den Jungen bei der Hand genommen und neben die Kirche gelotst, ihm dort einen Apfelbaum und einen Birnbaum gezeigt und ihm gesagt, der eine sei der Großmast und der andere der Besansmast und zwischen ihnen sei der Fischerewer und rechter Hand sei Steuerbord und linker Hand sei Backbord. Dat brukst mi ne to vertillen, hatte der Junge geeifert, dat weet ik jo all lang! Na, dann solle er aufpassen, war des Seefischers Entgegnung gewesen, er wolle einmal ausfindig machen, ob der Junge schon etwas könne, ob er schon zu etwas zu brauchen sei: darum solle er auf dem Ewer zwischen den Bäumen eine Wache nehmen, wie auf See in der Schollenzeit, zwei Stunden hindurch. Der Kompaß läge Nordwest an: er solle darauf achten, daß er nicht aus dem Kurs komme, solle aufpassen, daß die Segel immer voll Wind seien und nicht klapperten, und guten Ausguck halten, damit er keine Haverei mit andern Fischerewern habe. Der Junge hatte wie ein Großer genickt und war von Herzen damit einverstanden gewesen, er hatte sogleich das Deck mit großen Schritten ausgemessen, hatte Großmast und Besan mit den wirklichen Masten verglichen und den Kopf in den Nacken geworfen und die Äste auf ihre Eignung zu Giekbaum und Gaffel geprüft.

      „Van Burd dött ik ober doch ne gohn, ne, Vadder?“ hatte er noch gefragt.

      „Och du Dösbattel,“ war des Seefischers Erwiderung gewesen, „kannst du ok van Burd gohn? Büst doch up See, is doch all Woter üm di rüm.“

      „Is ok jo wohr! Wat is Seemann denn?“

      „Seemann?“ Klaus Mewes hatte den struppigen Hund ergriffen und an den Birnbaum gesetzt. „Sitten blieben, Seemann! Dat is dat witte Nachthus, Störtebeker, un sien Nüff, dat is de Kumpaß.“ Nun wisse er wohl alles: er brauche nicht immer am Ruder zu stehen und das Helmholz festzuhalten, sondern könne geruhig auf Deck hin und her gehen, wie die Fischerleute es täten, hatte der Seefischer geschlossen und war in die Kirche getreten, während der Junge unter dem Geläut der Glocken und dem Gebraus der Orgel an seine erste Schiffswache gegangen war.

      Jetzt war Bodemann schon mitten in der Predigt, und der Junge ging immer noch ernst und wachsam zwischen Apfel- und Birnbaum auf und nieder, als ob er wirklich an Bord sei, denn er wollte beweisen, daß er schon groß genug wäre und allein die Wache gehen könne. Er wollte zeigen, daß er schon mit der See klar kommen könne, damit sein Vater ihn im Sommer mit auf den Ewer nahm, wie er ihm versprochen hatte. Wie nach Segeln blickte er nach den Zweigen hinauf. Einen Buchfink, der im Wipfel des Apfelbaumes saß, ließ er sich als Flögel gefallen. Er hatte die Hände nach Fischerart tief in die Hosentaschen gesteckt und pfiff gefühlvoll vor sich hin, spuckte auch einmal großartig in die See hinein, als wenn er bange sei, daß er kein Wasser genug habe und aufs Trockne komme.

      Es schien stürmisch zu sein, denn alle Augenblicke wehte ihm das weiße Nachthaus über Bord, sei es, weil eine Ratte über den Graben schwamm oder weil sich eine Katze auf der Wurt des nahen Bauernhofes sonnte. Junge, was war das für ein Stück Arbeit! Was sollte der Wachhabende tun? Nachlaufen konnte er nicht, denn ringsherum war Wasser, das keine Balken hatte: er verlegte sich deshalb auf Rufen und Pfeifen, und wenn das nicht half, dachte er schließlich: och wat, nu jump ik eenfach ober Burd: ik kann jo swümmen — und lief nach der Wurt oder nach dem Graben, ergriff sein Nachthaus und schleppte es zurück, wobei er pustete, als wenn er wirklich im Wasser sei, stellte es wieder an den Birnbaum und sagte: „Du müß sitten blieben, Seemann, ans hebb ik keen Kumpaß!“ Dann guckte er verstohlen nach den Kirchenfenstern hinauf, denn er war sich nicht ganz sicher, ob er über Bord springen durfte.

      Klaus Mewes sah es wohl und högte sich über ihn, während ihm das Blut, das die Sonnenstrahlen geweckt hatten, heftig und stark in den Schläfen klopfte. Das war sein Junge, der kleine Mann mit den hellen Haaren, den blauen, nordischen Augen und dem wettergebräunten Gesicht, der eine graue, wollene Matrosenmütze aufhatte, um den Hals ein schottischbuntes Tuch trug, einen weißblauen Buscherump und eine marineblaue Büx anhatte und auf braunen Segeltuchschuhen ging, wie ein Janmaat, der auf Freiwache ist und sich landfein gemacht hat. Das war sein Junge! Wer den so gehen und stehen sah, dem mochte wohl das Gedicht von Uhland einfallen: Jung Siegfried war ein stolzer


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