Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Franz Werfel

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Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig - Franz Werfel


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nur wollen. Sein Vater lachte während der Arbeit viel und aus Herzensgrund, war beredt, behaglich, und jetzt, — jetzt zündete er sich die Pfeife mit dem Türkenkopf an und begann wohlig keuchend zu paffen.

      Die Bälle schwirrten, die haßerfüllten Fratzen tauchten auf und nieder, die schäbig würdigen Greise wandelten hoffnungslos an der Türe ihrer Erlösung vorbei.

      Auch der kleine Junge hatte mich gleich entdeckt. Wir waren die einzigen Kinder hier. Sofort spann sich eine starke Beziehung von mir zu ihm, — von ihm zu mir.

      Er winkte mir, einen Ball zu werfen, kniff bedeutsam die Augen ein, pfiff mir ein Signal zu, schnitt eine Fratze und winkte mir immer wieder.

      Oft sah ich nichts als seine Hand, die wie ein Gespenst mit Daumen und Fingern hinter dem Vorhang hervorgestikulierte.

      Ich machte schüchtern meinerseits Zeichen, deren Sinn ich selbst nicht verstand.

      Verloren starrte ich diesen hohläugigen Knaben an, der mir glücklich wie die Freiheit selbst erschien!

      Ich fuhr zusammen. Denn die kommandierende Stimme meines Vaters schnarrte: „Karl, nun zeig’, ob du eine sichere Hand hast und ob du einmal das Recht haben wirst, des Kaisers Rock zu tragen!“

      Er gab mir einen Ball in die Hand. Was sollte ich damit anfangen? Auf und nieder tauchten die Bösen; die Leichenbitter schlichen an dem Jungen vorbei, der immer wieder den Kopf vorbeugte und mir mit fünf gespreizten Fingern winkte und winkte.

      Alle Puppen hatten ihre Hüte auf — denn kein Mensch warf mehr einen Ball, so scharf war die Stimme meines Vaters gewesen. Die Leute sahen ihn erstaunt und feindlich an. Alle Blicke waren auf uns beide gerichtet. Zitternd hielt ich den Ball in meiner Hand. Alles schwieg und nur der Budenbesitzer sagte: „Nun, junger Mann!?“...

      Mein Vater richtete sich auf. Die Bedrückung, einer nur unter Tausenden zu sein, war von ihm gewichen. Er stemmte die Hand in die Hüfte, wie es der tut, der endlich das Übergewicht über andere gewonnen hat, wie der geblähte Leutnant es macht, der vor seine Rekruten tritt. Das Schweigen um uns tat ihm sichtlich wohl.

      „Wird’s bald!? Wirf!!“ sagte er mit lauter Kasernhofstimme.

      Mein ganzer Körper brannte vor Scham und Angst. Ich hob den Ball und warf ihn kraftlos ins Ungewisse hinein. Er fiel schon in der Mitte der Bude zu Boden. Nichts unterbrach das Schweigen, nichts als die kleine Lache, die der Junge aus seinem Versteck hervor anschlug.

      „Tolpatsch!“ Der Vater reichte mir streng einen zweiten Ball.

      „Wähle dir eine Figur, ziele gut, und dann erst wirf!“

      Alles tanzte vor meinen Augen! Auf und nieder tauchten die Höllensträflinge. Ich nahm alle Kräfte zusammen, meinen Blick zu sammeln. Mir war, als müßte mein Kopf sogleich in Flammen aufgehen. In den Gelenken der Hand, die den Ball hielt, spielte ein süßlich giftiges Gefühl. Immer furchtbarer wurde der Rhythmus des Auf- und Niedertauchens. Da! — Eine Gestalt löste sich aus den andern, wurde deutlicher, die Grimasse fletschte mir eindringlich entgegen, ein ewig verschlossener Mund schien mir zurufen zu wollen: „Ich! Ich!“ Es war der Offizier in Phantasieuniform.

      Ich sah ihn, — ich sah ihn! — Die Pferdezähne meines Vaters waren entblößt, seine Schnurrbartspitzen starrten, an seinen Epauletten blitzten die Messingknöpfe.

      Ich beugte mich weit über das Brett und warf, einen kurzen Schrei ausstoßend, den Ball, — der aber ganz nah von mir in irgend eine sinnlose Ecke fuhr.

      Jetzt lachte der Knabe im Hintergrund laut und höhnisch auf.

      Der Vater trat dicht an mich und zischte mir ins Ohr:

      „Rindvieh! Du blamierst mich! Jetzt wirf und triff, sonst — — — — —!“

      Ich fühlte einen neuen Ball in der Hand.

      Dort! Auf und nieder raste der Legionsoffizier. Von Mal zu Mal immer klarer offenbarte er sich. Wo stand mein Vater? Nicht neben mir!

      Dort stand er! Dort...!

      Er blies Rauch durch die Nase, so wenig ermüdete ihn die furchtbare Bewegung. Ohne Falte blaute sein Waffenrock.

      „Korporal! Korporal!“ rief er —

      Gott! Gott!

      Ich will es tun!

      Er selbst befiehlt es mir ja!

      Er selbst, — er selbst — — — — — —

      Ich spannte alle Muskeln an, und, indem ich wild aufschrie, schleuderte ich den Ball mit solcher Kraft, daß es mich umriß und ich zu Boden stürzte. — — — — —

      Sogleich erwachte ich aus meiner kurzen Bewußtlosigkeit. Menschen standen um mich, die auf mich einredeten.

      Abseits erblickte ich den Vater, ohne Hut, ein blutiges Taschentuch an die Nase pressend.

      In einem entsetzlichen Augenblick erkannte ich alles. Ich hatte nicht jenen Offizier, ich hatte meinen Vater getroffen!! Ich sah das Blut, das aus seiner Nase stürzte. Ein ungeheures Weh überspülte mich. Dieses Weh wuchs und wuchs. Das Herz vermochte es nicht mehr zu tragen. Mein letzter Blick traf das merkwürdig starrende und neugierige Gesicht des Budenbesitzersjungen, der sich über mich beugte.

      Dann versank ich in eine Ohnmacht der Träume und Fieberschreie, aus der ich erst drei Monate später zum Leben erwachen durfte. Diese drei Monate aber waren eine einzige Nacht, in der im Schein einer teuflischen Lampe verdammte Chinesen, Neger, Henker, Gehenkte, Bauern, Verbrecher riesenhaft aus Gebirgen von Schulbänken auf und nieder schwebten, gebrechliche Greise mit Fackeln in der Hand durch eine schwarze Türe davonschlichen und durch eine helle wiederkamen und steif, lang und streng der fremde Offizier, mein Vater, unbeweglich unter den bewegten Erscheinungen stand.

       Inhaltsverzeichnis

      Es waren dreizehn Jahre vergangen. Ich hatte meine Fähnrichszeit bei einem detachierten Bataillon an der Ostgrenze des Reiches abgedient und war nun zum Leutnant vorgerückt und in eine größere galizische Garnison versetzt worden.

      Daß ich es nur gleich gestehe, mein Leben, das durch keine gute Stunde, keine liebe Erinnerung, keine Wärme von mir und zu mir, keinen Besitz und keine Hoffnung erleuchtet war, ekelte mich so sehr an, daß ich mich oft ganz ernsthaft fragte: „Warum höre ich nicht einfach auf, zu atmen?“ Ich hielt dann auch, so lange es nur ging, den Atem zurück, als könnte ich so ein Ende machen. —

      Die Zeit, die hinter mir lag, war schrecklich. Nächte des angestrengtesten Studiums kalter, gleichgültiger Lehrfächer, Examen über Examen; zerrüttenden Blick des Vorgesetzten ewig in der Seele; das Vaterhaus, andern ein Asyl, mir war es nur die schärfere Wiederholung des Instituts und der Kaserne gewesen. Niemals eine freie Stunde und wenn ich mir endlich eine — unter Demütigungen, Meldungen, Bitten, Vorschriften, die Legion waren, — wenn ich mir endlich eine freie Stunde erkämpft hatte, so wußten meine zerstörten Nerven mit ihr nichts anzufangen, und ich litt unter der kleinen Freiheit noch mehr als in der Tretmühle. Nein! Ich war nicht zum Soldaten geboren! Jedes Kommandowort empfand ich wie einen Messerstich, jede Ausstellung wie eine Mißhandlung, jedes militärische Gespräch, jede dienstliche Handlung lähmte mich — so war ich viel zu elend und unglücklich, um auch nur Erbarmen mit mir selbst haben zu können. —

      Einsam wie keiner.

      Wenn ich nur einen meiner Kameraden ansah, ergriff mich Langeweile und Gleichgültigkeit wie eine Pest und ich brachte kein Wort heraus.

      Mich an eine Frau oder an ein Mädchen heranzutrauen, dieser Mut schien mir eine Gnade zu sein, die mir nicht gegeben war. Fünfzehn Jahre Einschüchterung und Angst hatten meine Seele gebrochen, die nicht so widerstandsfähig war, wie die der andern. Wenn die polnischen


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