Utopia. Thomas Morus
Читать онлайн книгу.von denen ich nichts verstehe und auch nichts verstehen möchte, als mit den segensreichen Künsten des Friedens, und weit größer ist ihr Eifer, sich durch Recht oder Unrecht neue Reiche zu erwerben als die schon erworbenen gut zu verwalten. Ferner ist von allen Ratgebern der Könige jeder entweder in Wahrheit so weise, daß er den Rat eines anderen nicht braucht, oder er dünkt sich so weise, daß er ihn nicht gutheißen mag. Dabei pflichten sie unter schmarotzerischen Schmeicheleien den ungereimtesten Äußerungen derer bei, die bei dem Fürsten in höchster Gunst stehen und die sie sich deshalb durch ihre Zustimmung verpflichten wollen. Und gewiß ist es ganz natürlich, daß einem jeden seine eigenen Einfälle zusagen. So findet der Rabe ebenso wie der Affe am eigenen Jungen seinen Gefallen. Wenn aber jemand im Kreise jener Leute, die auf fremde Meinungen eifersüchtig sind oder die eigenen vorziehen, etwas vorbringen sollte, das, wie er gelesen hat, zu anderer Zeit vorgekommen ist oder das er anderswo gesehen hat, so benehmen sich die Zuhörer gerade so, als ob der ganze Ruf ihrer Weisheit gefährdet wäre und als ob man sie danach für Narren halten müßte, wenn sie nicht imstande sind, etwas zu finden, was sie an dem von den anderen Gefundenen schlecht machen können. Wenn sie keinen anderen Ausweg wissen, so nehmen sie ihre Zuflucht zu Redensarten wie: So hat es unseren Vorfahren gefallen; wären wir doch ebenso klug wie sie! Und nach einem solchen Ausspruch setzen sie sich hin, als hätten sie damit die Sache völlig und trefflich erledigt. Gerade als ob es eine große Gefahr bedeutete, wenn sich jemand dabei ertappen läßt, in irgend etwas gescheiter zu sein als seine Vorfahren! Und doch lassen wir alle ihre guten Einrichtungen mit großem Gleichmut gelten; wenn sie aber bei irgend etwas hätten klüger zu Werke gehen können, so ergreifen wir sofort gierig diese Gelegenheit und halten hartnäckig daran fest. Das ist auch die Quelle dieser hochmütigen, sinnlosen und eigensinnigen Urteile, auf die ich schon oft gestoßen bin, besonders aber auch einmal in England.«
»Hör einmal!« rief ich da, »du bist auch bei uns gewesen?«
»Allerdings«, antwortete er, »und zwar habe ich mich dort einige Monate aufgehalten, nicht lange nach jener Niederlage, die den Bürgerkrieg Westenglands gegen den König durch eine beklagenswerte Niedermetzelung der Aufständischen gewaltsam beendete. In jener Zeit hatte ich dem ehrwürdigen Vater Johannes Morton, dem Erzbischof von Canterbury, Kardinal und damals auch noch Lordkanzler von England, viel zu danken, einem Manne, lieber Peter – dem Morus erzähle ich damit nichts Neues –, den man nicht weniger wegen seiner Klugheit und Tüchtigkeit als wegen seines Ansehens verehren muß. Er war von mittlerer Statur, sein Rücken war von seinem, wenn auch hohen Alter noch nicht gebeugt; seine Miene flößte Ehrfurcht, nicht Scheu ein. Im Verkehr war er nicht unzugänglich, aber doch ernst und würdevoll. Er fand ein Vergnügen daran, Bittsteller bisweilen etwas schroffer anzureden, aber nicht etwa in böser Absicht, sondern um die Sinnesart und Geistesgegenwart eines jeden auf die Probe zu stellen. Über letztere Eigenschaft, die ihm ja selber gleichsam angeboren war, freute er sich stets, wofern keine Unverschämtheit damit verbunden war, und sie schätzte er als geeignet zu der Führung der Geschäfte. Seine Rede zeugte von feiner Bildung und Energie; seine Rechtserfahrung war groß, seine Begabung unvergleichlich, sein Gedächtnis geradezu fabelhaft stark. Diese ausgezeichneten Naturanlagen vervollkommnete er noch durch Studium und Übung. Seinen Ratschlägen schenkte der König, wie es schien, während meiner Anwesenheit das größte Vertrauen, und sie waren eine starke Stütze für den Staat. Denn in frühester Jugend und gleich von der Schule weg an den Hof gebracht, war er sein ganzes Leben lang in den wichtigsten Geschäften tätig gewesen und von mannigfachen Schicksalsstürmen beständig hin und her geworfen worden, und dadurch hatte er sich unter vielen großen Gefahren eine Lebensklugheit erworben, die nur schwer wieder verlorengeht, wenn sie auf diese Weise gewonnen wird.
Als ich eines Tages an seiner Tafel saß, wollte es der Zufall, daß einer von euren Laienjuristen zugegen war. Dieser begann – ich weiß nicht, wie er darauf kam –, eifrig jene strenge Justiz zu loben, die man damals in England Dieben gegenüber übte. Wie er erzählte, wurden allenthalben bisweilen zwanzig an einem Galgen aufgehängt. Da nur sehr wenige der Todesstrafe entgingen, wundere er sich, so meinte er, um so mehr, welch widriges Geschick daran schuld sei, daß sich trotzdem noch überall so viele herumtrieben. Da sagte ich – vor dem Kardinal wagte ich es nämlich, offen meine Meinung zu äußern –: »Da brauchst du dich gar nicht zu wundern; denn diese Bestrafung der Diebe geht über das, was gerecht ist, hinaus und liegt nicht im Interesse des Staates.
Als Sühne für Diebstähle ist die Todesstrafe nämlich zu grausam, und, um vom Stehlen abzuschrecken, ist sie trotzdem unzureichend. Denn einerseits ist einfacher Diebstahl doch kein so schlimmes Verbrechen, daß es mit dem Tode gebüßt werden müßte, anderseits aber gibt es keine so harte Strafe, diejenigen von Räubereien abzuhalten, die kein anderes Gewerbe haben, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Wie mir daher scheint, folgt ihr in dieser Sache – wie ein guter Teil der Menschheit übrigens auch – dem Beispiel der schlechten Lehrer, die ihre Schüler lieber prügeln als belehren. So verhängt man harte und entsetzliche Strafen über Diebe, während man viel eher dafür hätte sorgen sollen, daß sie ihren Unterhalt haben, damit sich niemand der grausigen Notwendigkeit ausgesetzt sieht, erst zu stehlen und dann zu sterben.«
»Dafür ist ja doch zur Genüge gesorgt«, erwiderte er. »Wir haben ja das Handwerk und den Ackerbau. Beides würde sie ernähren, wenn sie nicht aus freien Stücken lieber Gauner sein wollten.«
»Halt, so entschlüpfst du mir nicht!« antwortete ich. »Zunächst wollen wir nicht von denen reden, die, wie es häufig vorkommt, aus inneren oder auswärtigen Kriegen als Krüppel heimkehren wie vor einer Reihe von Jahren aus der Schlacht gegen die Cornwaller und unlängst aus dem Kriege mit Frankreich. Für den Staat oder für den König opfern sie ihre gesunden Glieder und sind nun zu gebrechlich, um ihren alten Beruf wieder auszuüben, und zu alt, um sich für einen neuen auszubilden. Diese Leute wollen wir also, wie gesagt, beiseite lassen, da es nur von Zeit zu Zeit zu einem Kriege kommt, und betrachten wir nur das, was tagtäglich geschieht!
Da ist zunächst die so große Zahl der Edelleute. Selber müßig, leben sie wie die Drohnen von der Arbeit anderer, nämlich von der der Bauern auf ihren Gütern, die sie bis aufs Blut aussaugen, um ihre persönlichen Einkünfte zu erhöhen. Das ist nämlich die einzige Art von Wirtschaftlichkeit, die jene Menschen kennen; im übrigen sind sie Verschwender, und sollten sie auch bettelarm dadurch werden. Außerdem aber scharen sie einen gewaltigen Schwarm von Tagedieben um sich, die niemals ein Handwerk gelernt haben, mit dem sie sich ihr Brot verdienen könnten. Diese Leute wirft man sofort auf die Straße, sobald der Hausherr stirbt oder sie selbst krank werden; denn lieber füttert man Faulenzer durch als Kranke, und oft ist auch der Erbe gar nicht in der Lage, die väterliche Dienerschaft weiter zu halten. Inzwischen leiden jene Menschen tapfer Hunger oder treiben tapfer Straßenraub. Was sollten sie denn sonst auch tun? Haben nämlich erst einmal ihre Kleider und ihre Gesundheit durch das Herumstrolchen auch nur ein wenig gelitten, so mag sie, die infolge ihrer Krankheit von Schmutz starren und in Lumpen gehüllt sind, kein Edelmann mehr in Dienst nehmen. Aber auch die Bauern getrauen es sich nicht; denn sie wissen ganz genau: einer, der in Nichtstun und genießerischem Leben groß geworden und gewohnt ist, mit Schwert und Schild einherzustolzieren, mit von Eitelkeit umnebelter Miene auf seine gesamte Umgebung herabzublicken und jedermann im Vergleich mit sich zu verachten, eignet sich keineswegs dazu, einem armen Manne mit Hacke und Spaten für geringen Lohn und karge Kost treu zu dienen.«
»Und doch müssen wir gerade diese Menschenklasse ganz besonders hegen und pflegen«, erwiderte der Rechtsgelehrte. »Denn gerade auf diesen Männern, die mehr Mut und Edelsinn besitzen als Handwerker und Landleute, beruht die Kraft und Stärke unseres Heeres, wenn es einmal nötig ist, sich im Felde zu schlagen.«
»In der Tat«, antwortete ich, »ebenso gut könntest du sagen, um des Krieges willen müsse man die Diebe hegen und pflegen; denn an ihnen wird es euch ganz gewiß nie fehlen, solange ihr diese Menschenklasse noch habt. Und gewiß, Räuber sind keine feigen Soldaten und die Soldaten nicht die feigsten unter den Räubern: so gut passen diese Berufe zueinander. Indessen ist diese weitverbreitete Plage keine Eigentümlichkeit eures Volkes; sie ist nämlich fast allen Völkern gemeinsam. Frankreich z. B. sucht eine noch andere, verderblichere Pest heim: das ganze Land ist auch im Frieden – wenn jener Zustand überhaupt Frieden ist – von Söldnern überschwemmt und bedrängt.