Heimatkinder Staffel 4 – Heimatroman. Kathrin Singer

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Heimatkinder Staffel 4 – Heimatroman - Kathrin Singer


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Mann, der seine Zukunft mit einer Frau plant, geht wahrscheinlich ungern ein Risiko ein. Bahring ist ja kein Jüngling mehr. Vielleicht wollte er sich deiner Liebe sicher sein.«

      »Aber wir haben hier eine gemeinsame Nacht verbracht! Hier in meiner Wohnung! Ist das nicht genug Beweis meiner Liebe?« Sie schrie es fast. Der Schmerz musste sehr, sehr tief sitzen.

      »Dann musst du ihm erst recht eine zweite Chance geben!«, riet er ihr.

      »Eine zweite Chance? Ich gebe keinem eine zweite Chance! Nicht mal dir! Ich lebe nur noch für meine Schüler und will außerhalb der Schule keinen mehr sehen!«

      »Und der Chor?!«

      »Marie soll sehen, woher sie einen fünften Sopran und die Partituren für die dritte Stimme bekommt. Von mir nicht! Ich mag keine glücklichen Menschen! Dich auch nicht! Ein Baron, der sein Ehrenwort nicht hält, ist doch nichts wert!«

      »Na reizend! Danke, Anette.«

      Er rührte sich nicht von der Stelle. Wenn sie ihn schon so fertig machte, wie war sie dann mit dem netten Münchner Kardiologen umgesprungen? Konnte der Liebesschmerz aus einer Frau so eine Furie machen? Wie Marie das wohl sah?

      Da brummte sein Handy. Maries Namen erschien auf dem Display, und sofort nahm er das Gespräch an.

      »Wo bist du, Stefan?« Ihre Stimme bebte, und er schoss Anette einen Blick wie ein Giftpfeil zu. Ob ihr klar wurde, dass er immer tiefer in die Falle rutschte, die sie ihm gestellt hatte?

      »Bei Anette!«, gab er zu.

      »Fahr sofort in die Klinik nach Traunstein, Stefan! Reserl hat einen Unfall gehabt!«, presste Marie hervor.

      »Reserl?« Er sprang schon auf. »Reserl? Mein Reserl?!«

      »Ja, mit dem Fahrrad. Sie war auf dem Weg nach Altendorf …« Ihre Stimme erstickte wie unter großem Druck und verhallte gleich darauf.

      »Marie!«, schrie Stefan. »Marie!«

      Wie durch einen Schleier nahm er noch Anettes fragenden Blick wahr. Aber der interessierte ihn nicht. Jetzt ging es nur um Reserl, sein kleines Reserl, das sich noch an diesem Morgen zu erwachsen fühlte, um bunte Schleifen im Haar zu tragen.

      Er schob Anette, die sich ihm in den Weg stellte, beiseite und rannte hinunter zu seinem Wagen. Wild hupend, wie er es eigentlich verachtete, bahnte er sich einen Weg aus der kleinen Stadt hinaus und preschte die fünfzehn Kilometer nach Traunstein, ohne auf Geschwindigkeitsbegrenzungen Rücksicht zu nehmen.

      »Reserl, mein Reserl!«, flüsterte er und versuchte, sich abwechselnd ihre Verletzungen und den Vorgang des Unfalls vorzustellen. »Mit dem Rad!«, fluchte er leise vor sich hin. »Mit dem Rad!« Und dann schlug er mit einer Hand aufs Steuer und wischte sich mit der anderen die Tränen aus den Augen.

      Vor dem Klinikum parkte bereits Maries Wagen. Stefan sprang heraus und stürmte direkt in die Arme eines Polizeibeamten. »Meine Tochter wurde eingeliefert!«, rief er ihm entgegen. »Ich habe jetzt keine Zeit! Ich gebe alles zu! Schicken Sie mir die Anzeige!«

      »Baron …, die kleine Baroness war ohne Helm unterwegs! Aber sie lebt!«

      Stefan rannte weiter. Die Dame in der Pförtnerloge schickte ihn in den ersten Stock. Er nahm drei Stufen auf einmal, und als er den Gang erreichte, sah er Marie. Sie stand mit hochgezogenen Schultern am Fenster des Ganges, als fröstele sie. Er zog sie in die Arme.

      »Sie lebt, Marie! Wo ist sie?« Aber dann lehnte er seine Stirn an ihre und stöhnte nur noch auf.

      »Du siehst sie gleich, Stefan.« Er fühlte ihre kühle Hand an seiner Stirn. »Sie hat einen Schutzengel gehabt. Er hat die Polizei benachrichtigt, und die riefen bei Wilma an …«

      Da atmete er tief durch. Reserl hatte einen Schutzengel gehabt! Seine Älteste, die Aufmüpfige, die sich über ihre Eltern beklagte und nur noch Haarspangen tragen wollte, blieb ihnen erhalten.

      Gegenüber öffnete sich eine Tür. Ein junger Arzt trat zu ihnen. Sein gutmütig lächelndes Gesicht machte Stefan zunächst wütend, aber bevor er sich es anmerken ließ, verriet der gute Mann: »Sie hat schon nach Ihnen gefragt. Fünf Minuten vertraue ich Ihnen meine kleine Patientin an. Aber nicht länger! Der Arm wurde geröntgt und versorgt. Es ist die Gehirnerschütterung, die uns zwingt, sie noch einige Tage zur Beobachtung hierzubehalten.«

      Marie schien gefasster. Sie bedankte sich, obwohl Stefan diesem jungen Mann noch gern einige Fragen gestellt hätte. Aber seltsam, noch saß ihm der Schrecken wie ein Kloß im Hals.

      »Ja, und der Kollege, der Ihre Tochter hergebracht hat, erwartet Sie für etwaige Fragen im Klinik-Café. Vorerst steht er noch den Polizeibeamten Rede und Antwort.«

      »Warum?«, konnte Stefan da endlich keuchen. Aber Marie zog ihn schon mit sich ins Zimmer.

      »Mami … Papi!«, flüsterte Reserl. Sie lag da mit ihrem verbundenen Arm und mit einem dick ­gepolsterten Reif um den Kopf. Aber sie lächelte, wenn auch schwach.

      Stefan hatte plötzlich auch noch weiche Knie. Er setzte sich einfach auf ihr Bett, während Marie sie erst mal küsste und sich dann einen Stuhl heranschob. Und Marie bemerkte auch gleich die rote Seidenschleife, die ein humorvoller Mensch um den bandagierten Arm geschlungen haben musste.

      »Die anderen sind wieder schmutzig«, erklärte Reserl mit schwacher Stimme. »Aber Frank hat sie von der Straße eingesammelt. Wilma soll sie noch mal waschen …«

      »Frank?«, fragte Marie, ohne dass Stefan es beachtete.

      »Die Seidenbändchen für Lucie!«, fiel ihm heiß ein. »Du bist also ohne Helm losgefahren, um sie ihr zu bringen?«

      »Du hast mich ja nicht mitgenommen, Papi!«, verteidigte Reserl sich schwach. »Ich wollte doch mit nach Altendorf!«

      »Papi musste ja unbedingt zu Anette!«, verriet Marie mit einem vorwurfsvollen Blick in seine Richtung. »Da konnte er dich wohl nicht brauchen.«

      »Wusst’ ich doch, dass ihr Rabeneltern seid!«, stellte Reserl fest, verdrehte den Blick nach oben zu ihrem seltsamen Reif um den Kopf und seufzte. »Der Doktor hat mir einen Tee zum Schlafen gebracht …, damit mein Kopf Ruhe hat.« Ihre Augen wollten schon zufallen, da sah sie ihre Eltern doch noch dankbar an. »Und bitte …, nicht die Bändchen vergessen. Die hat Frank.«

      Ein Schweigen legte sich über die drei. Stefan und Marie tasteten beide nach Reserls unverbundener Hand, bis sich ihre Hände berührten. Sekundenlang verbanden sich ihre Blicke voller Erleichterung und Dankbarkeit. Reserl war eingeschlafen und atmete ganz ruhig.

      »Kannst du mir verraten, was du schon wieder bei Anette wolltest?«, flüsterte Marie plötzlich.

      Stefan bedeckte seine Augen mit der freien Hand. Das war mal wieder so typisch. Konnte sie mit diesem Verhör nicht warten, bis er sich vom Schock erholt hatte?

      »Eure Freundschaft kitten!«, murrte er kurz angebunden.

      »Und wieder hinter meinem Rücken!«

      Er nickte. »Es war sowieso sinnlos. Ich hab’s mir jetzt auch endgültig mit ihr verdorben.«

      Atmete Marie da etwa auf? »Das hätte ich mir denken können! Anette ist doch nicht glücklich, wenn sie sich und anderen keine Probleme bereiten kann!«

      In diesem Augenblick betrat die Krankenschwester den Raum, schaute prüfend nach der kleinen Patientin und bat ihre Eltern, sie nun schlafen zu lassen.

      Stefan und Marie standen auf dem Korridor. Sie sahen sich trotz allem mit einem Blick der tiefen Liebe und des innigen Vertrauens an, wie Eltern, deren Herzen in der Sorge um ihre Kinder den gleichen Rhythmus gefunden haben.

      »Rabeneltern!«, wiederholte Stefan. »Das sind wir nicht, Marie. Sowie wir Reserls Lebensretter im Café getroffen haben, fragen wir nach ihren bunten Bändern.«

      Da küsste sie ihn schnell auf die Wange. »Vorher verzeihe ich dir noch schnell, dass du wieder hinter meinem Rücken mit Anette gesprochen hast! Und nun komm!«


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