Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Max Weber
Читать онлайн книгу.formal geworden, das Amt des »tipao« hatte sich vielfach – es scheint nach chinesischen Autoren: der Regel nach – einfach in eine unklassische, deshalb minder bewertete, staatliche Stellung verwandelt. Die Kräfte, mit denen der Staatsapparat eigentlich zu rechnen hatte, waren die eventuell nach Art einer Veme in Funktion tretenden, im Fall von Konflikten gefährlichen Sippenältesten, die hinter der Dorfverwaltung standen.
Dabei darf man sich das Leben des Bauern in einem chinesischen Dorf, allen Anzeichen nach, keineswegs als eine harmonische patriarchale Idylle vorstellen. Nicht nur die Fehden nach außen bedrohten den Einzelnen recht oft. Nein: vor allem fungierte die Sippenmacht und auch die Verwaltung des Dorftempels überaus oft in gar keiner Weise genügend, um Besitz: zumal überragenden Besitz, zu schützen. Die, sozusagen, »effektiven« Bauern (»lao schih« genannt) waren dann in sehr typischer Art der Willkür der »Kung kun:«, der »Kulaki« (»Fäuste«), wie man in russischer Bauernterminologie sagen würde, einfach ausgeliefert. Und zwar nicht, wie in Rußland, der Herrschaft einer »Dorf-Bourgeoisie« von Wucherern und ihren Interessenverwandten (wie es die dortigen »Kulaki« waren): dagegen hätte sich, sahen wir, leicht göttliche und menschliche Hilfe gefunden. Sondern umgekehrt den von jenem Kung kun organisierten Besitzlosen[222], also der »bjednata« (»Dorfarmut«) im Sinn der Terminologie des Bolschewismus, der darin seine Anziehungskraft auf China begründet finden dürfte. Gegen diese Organisation war jeder einzelne (oder auch eine Gruppe einzelner) größerer Besitzer oft völlig schutz- und machtlos[223]. Und wenn in den letzten Jahrhunderten größere Besitzungen in China zu den Ausnahmen gehörten, so hat dazu sicher dieser Umstand: eine Art von ethisch und durch die Sippenmacht stark temperiertem naivem »Bauernbolschewismus«, der einfach die Folge mangelnder Garantien des Besitzes durch die Zwangsgewalt des Staates war, das Seinige beigetragen. – Unterhalb des hsien-Bezirks, der immerhin etwa die Größe einer englischen »county« hatte, existierten nur solche autochthon: offiziell: im Ehrenamt, tatsächlich oft: als »Kulaki«, funktionierende Selbstverwaltungsinstan zen. Aber auch neben der offiziellen Verwaltung der Bezirke, bis zur Provinz hinauf, existierten sehr vielfach Personengremien, welche durch jederzeit wiederrufliche, auf 3 Jahre begrenzte, »Delegierung« – tatsächlich: durch anerkanntes oder usurpiertes Charisma – bestellt waren und die Beamten »berieten«[224]. Ihre Struktur soll uns hier nicht interessieren.
Mit jenem Gremium einer fest zusammenhaltenden lokalen Honoratiorenschicht innerhalb des Dorfes, die ihm gegenüberstand, mußte man dort bei jedem Versuch etwa einer Erhöhung der traditionellen Abgaben, aber auch bei allen sonstigen Aenderungen irgendwelcher Art paktieren, um irgend etwas durchzusetzen. Denn andernfalls war der Beamte hartnäckiger Renitenz ebenso sicher, wie, im gleichen Fall, der Grundherr, Vermieter, Arbeitgeber, überhaupt jeder außerhalb der Sippe stehende »Vorgesetzte«. Wie ein Mann stand die Sippe des sich benachteiligt Fühlenden zu ihrem Sippengenossen[225], und ihr geschlossener Widerstand wirkte naturgemäß ungleich nachhaltiger als etwa bei uns ein Streik einer freigebildeten Gewerkschaft. Schon dadurch wurde jede »Arbeitsdisziplin« und freie Marktauslese der Arbeiterschaft, wie sie modernen Großbetrieben eignet, ebenso durchkreuzt wie jede rationale Verwaltung okzidentaler Art. Gegenüber der literarisch gebildeten Beamtenschaft war das aliterarische Alter also solches das stärkste Gegengewicht. Dem absolut bildungslosen Aeltesten seiner Sippe hatte sich innerhalb der durch die Tradition festgelegten Sippenangelegenheiten auch der durch noch so viele Examina gegangene Beamte bedingungslos zu fügen.
Ein praktisch erhebliches Maß von ursurpierter und konzessionierter Selbstverwaltung stand jedenfalls einerseits: in Gestalt der Sippen, andererseits: dieser Organisationen der Armut, der Patrimonialbureaukratie gegenüber. Deren Rationalismus befand sich hier gegenüber einer im ganzen und auf die Dauer ihm weit überlegenen, weil stetig und vom engsten persönlichen Verbande gestützt wirkenden, entschlossen traditionalistischen Macht. Jede Neuerung, welcher Art immer, konnte ja überdies bösen Zauber stiften. Sie erschien aber vor allem des Fiskalismus verdächtig und stieß auf scharfen Widerstand. Keinem Bauern würde es je eingefallen sein, dabei an »sachliche« Motive zu glauben, – darin ganz wie die russischen Bauern in Tolstoys »Auferstehung«. Die Sippenältesten waren es auch: – das geht uns hier besonders an –, deren Einfluß für die Annahme oder Verwerfung religiöser Neuerungen meist entscheidend war und, selbstverständlich, fast ausnahmslos in die Wagschale der Tradition fiel, insbesondere wo sie Bedrohung der Ahnenpietät witterten. Diese gewaltige Macht der streng patriarchal geleiteten Sippen war in Wahrheit der Träger jener vielberedeten »Demokratie« in China, welche nur der Ausdruck 1. des Fortfalls feudaler Ständebildung, 2. der Extensität der patrimonial-bureaukratischen Verwaltung und 3. der Ungebrochenheit und Allgewalt der patriarchalen Sippen andererseits war und mit »moderner« Demokratie gar nichts gemein hatte.
Auf realer oder nachgeahmter persönlicher Versippung ruhten fast alle diejenigen organisatorischen Gebilde ökonomischer Art, welche über den Rahmen der Einzelwirtschaft überhaupt hinausgriffen. Zunächst die Tsung-tse-Gemeinschaft. Die in dieser Form organisierte Sippe besaß neben der Ahnenhalle und dem Unterrichtsgebäude auch Sippenhäuser für Vorräte und Geräte zur Reisverarbeitung, Konservenbereitung, Weberei und andere Hausproduktionen, eventuell mit einem dafür angestellten Verwalter, abgesehen davon, daß sie ihre Mitglieder in Notlagen durch gegenseitige Hilfe und unentgeltlichen oder billigen Kredit stützte. Sie bedeutete also: produktivgenossenschaftlich erweiterte Sippen- und kumulative Hausgemeinschaft. Andererseits bestanden neben dem gewerblichen Einzelmeisterbetrieb in den Städten spezifisch kleinkapitalistische (genossenschaftliche) Betriebsgemeinschaften in gemeinsamen Ergasterien mit oft weitgehender manueller Arbeitsteilung, oft mit durchgeführter Spezialisierung der technischen und kaufmännischen Betriebsführung und mit Verteilung des Gewinns nach Maßgabe teils (und namentlich) der Kapitalanteile, teils der spezifischen (z. ß. kaufmännischen oder technischen) Leistungen. Aehnliches hat das hellenistische Altertum und das islamische Mittelalter gekannt. Es scheint, daß solche Ergasterien sich in China namentlich in Saisongewerben zum gemeinsamen Durchhalten durch die absatzlose Zeit fanden, im übrigen natürlich zur Erleichterung der Kreditbeschaffung und zu arbeitsteiliger Produktion. Alle Diese Formen der Schaffung größerer Wirtschaftseinheiten hatten, sozial angesehen, einen spezifisch »demokratischen« Charakter. Sie stützten die Existenz des einzelnen gegen die Gefahr der Proletarisierung und kapitalistischen Unterjochung. Rein ökonomisch konnte diese sich allerdings in Gestalt von hohen Einlagen nicht mitarbeitender Kapitalisten und in der Uebermacht und den hohen Gewinnanteilen der angestellten Verkäufer einnisten. Das Verlagssystem dagegen, welches bei uns die kapitalistische Unterjochung einleitete, steckte anscheinend bis in die Gegenwart, – in welcher es quantitativ bedeutend namentlich in den Fernabsatzgewerben entwickelt ist, – organisatorisch noch in den verschiedenen Formen rein faktischer Abhängigkeit des Handwerkers vom Händler und war nur in einzelnen Gewerben bis zur Heimarbeit mit eingesprengten Zwischenmeisterwerk stätten und zentralem Verkaufsbureau vorgeschritten. Die – wie wir sahen – außerordentlich geringe Chance, Leistungen Abhängiger überhaupt und zumal in vorgeschriebener Qualität, Quantität und Frist zu erzwingen, war dafür wohl entscheidend. Privatkapitalistische Großmanufakturen sind anscheinend historisch kaum nachweisbar, für Massenartikel auch unwahrscheinlich, da der stetige Markt fehlte. Die Textilindustrie kam gegen das Hausgewerbe schwer auf; nur die Seide hatte ihren Markt, auch Fernmarkt. Aber diesen letzteren okkupierten die Seidenkarawanen des kaiserlichen Oikos. Die Metallindustrie konnte bei der großen Unergiebigkeit der Bergwerke nur bescheidene Dimensionen annehmen. Diese Unergiebigkeit ihrerseits war Folge jener allgemeinen Gründe, von denen teils schon geredet ist, teils noch zu reden sein wird. Für die Teebereitung finden sich bildliche Darstellungen großer arbeitsteiliger Werkstätten, vergleichbar den altägyptischen Bildern ähnlicher Art. Die staatlichen Manufakturen stellten (normalerweise) Luxusartikel her (wie im islamischen Aegypten); die Erweiterung der staatlichen Metallindustrie aus valutarischen Gründen war vorübergehend. Die Zünfte, von denen schon gesprochen wurde, regulierten zwar das Lehrlingswesen. Von besonderen Gesellenverbänden hören wir dagegen nichts. Die Arbeiter schlossen sich nur in Einzelfällen, gegen die Meister zu einem Streik zusammen, zeigten aber im übrigen anscheinend kaum Ansätze zur Entwicklung einer eigenen Klasse. Aus ähnlichen
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Mancherlei darüber bei
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Der Kung kun war regelmäßig gymnastisch trainiert, er erstrebte, wie der Camorrist oder Mafiusu, unoffizielle Beziehungen zum Yamen des Hsien-Beamten, der ihm gegenüber ja machtlos war. Es konnte sich ein Dorfangestellter: der Dorfvorstand oder ein Schiedsrichter oder umgekehrt: ein Bettler, zum Kung kun entwickeln; und hoffnungslos wurde die Lage der übrigen Dorfinsassen dann, wenn er literarisch gebildet und womöglich obendrein mit einem Beamten verwandt war.
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Vgl. den Bericht in der Peking Gazette vom 14. 4. 1895 über die Befreiung eines vom Steuerkollektor Festgenommenen durch zwei Sippenverbände.