Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi
Читать онлайн книгу.»Ich komme hin«, erzählte Denissow. »›Nun, wo ist euer Chef?‹ frage ich. Man wies mich zu ihm. – ›Ist es nicht gefällig, ein wenig zu warten?‹ – ›Ich bin dreißig Werst weit geritten und kann nicht warten, melde ich.‹ Gut. Da kommt dieser Oberräuber heraus und wollte mir den Text lesen: ›Das ist Raub!‹ – ›Raub?‹ sage ich. ›Der ist kein Räuber, der den Proviant nimmt, um seine Soldaten damit zu füttern, sondern der, der ihn in die Tasche steckt!‹ – ›Gut, rechnen Sie ab mit dem Kommissionär!‹ sagt er, ›Ihre Sache wird dem Kommando übergeben werden!‹ – Ich gehe zum Kommissionär, trete ein – an den Tisch … Was meinst du? Nein, du kannst es nicht erraten! Wer läßt uns vor Hunger sterben?« schrie Denissow mit einem Faustschlag, daß der Tisch beinahe umfiel. »Teljanin! – ›Was, du läßt uns verhungern?‹ rief ich. Dann gab ich ihm eins auf die Schnauze und noch eins. Es war nett! … Nun, ich habe meinen Spaß gehabt, kann ich dir sagen!« rief Denissow vergnügt und zeigte boshaft seine weißen Zähne. »Ich hätte ihn totgeschlagen, wenn man nicht dazwischengekommen wäre.«
»Was schreist du so?« sagte Rostow. »Beruhige dich! Siehst du, das Blut fließt wieder! Warte, man muß einen neuen Verband umlegen.«
Denissow wurde verbunden und schlafen gelegt. Am andern Tag erwachte er vergnügt und ruhig. Um Mittag aber kam der Regimentsadjutant mit ernster Miene in die Erdhütte und zeigte ein formelles Papier an den Major Denissow von dem Regimentskommando, in welchem Auskunft über den gestrigen Vorfall verlangt wurde. Der Adjutant sagte, die Geschichte werde eine sehr schlimme Wendung nehmen, eine kriegsgerichtliche Kommission sei ernannt, und bei der jetzigen Strenge gegen Marodeure und Eigenmächtigkeit der Soldaten werde die Sache in glücklichem Fall mit Degradation endigen.
Von Seiten der Beleidigten war der Vorfall so dargestellt, daß der Major Denissow nach Wegnahme des Transports ohne jede Aufforderung in trunkenem Zustand beim Oberproviantmeister erschienen sei, ihn Räuber genannt, mit Tätlichkeiten bedroht habe, und als er hinausgeführt worden sei, habe er sich in die Kanzlei gestürzt, zwei Beamte geschlagen und dem einen den Arm ausgerenkt.
Auf Rostows Frage sagte Denissow lachend, wahrscheinlich sei da wirklich noch ein anderer übel weggekommen, aber das sei alles Unsinn, Dummheiten, er fürchte sich vor keinem Gericht, und wenn diese Schurken es wagen sollten, ihn vor Gericht zu ziehen, so werde er ihnen antworten, daß sie daran denken werden.
Denissow sprach in übermütigem Ton, aber Rostow kannte ihn zu gut, um nicht zu bemerken, daß er heimlich sich vor dem Gericht fürchtete und die Sache ihm peinlich war, welche dem Anschein nach schlimme Folgen haben konnte. Jeden Tag kamen Papiere und Zitationen vor Gericht, und am 1. Mai erhielt Denissow den Befehl, dem nächstältesten Offizier die Schwadron zu übergeben und im Stab der Division zu erscheinen, um sich wegen der Gewalttätigkeit in der Proviantkammer zu verantworten. Am Tage vorher machte Platow einen Streifzug mit zwei Kosakenregimentern und zwei Schwadronen Husaren. Denissow ritt wie immer vor die Kette und prahlte mit seiner Tapferkeit, und eine französische Kugel traf ihn in das Fleisch des oberen Beins. Zu einer anderen Zeit hätte Denissow eine so leichte Wunde nicht beachtet, jetzt aber benutzte er diesen Zwischenfall, um nicht vor dem Divisionsstab zu erscheinen, und ging ins Hospital.
84
Im Juni wurde die Schlacht bei Friedland geschlagen, an welcher das Pawlogradsche Regiment nicht teilnahm, und darauf trat Waffenruhe ein. Rostow empfand schmerzlich die Abwesenheit seines Freundes, von dem er gar keine Nachrichten erhalten hatte, und beunruhigt über den Stand seiner Sache und seiner Wunde nahm er Urlaub und ritt nach dem Hospital, um sich zu erkundigen.
Das Hospital befand sich in einem kleinen preußischen Städtchen, das zweimal von den russischen und französischen Truppen zerstört worden war. An dem heiteren Sommertag bot das Städtchen mit seinen verbrannten Straßen, zerlumpten Einwohnern und den betrunkenen und kranken Soldaten, welche darin umherschwärmten, einen besonders traurigen Anblick. Das Hospital befand sich in einem steinernen Hause, vor dem einige verwundete und bleiche Soldaten in der Sonne saßen.
Sobald Rostow in das Haus trat, kam ihm ein fauliger Geruch entgegen. Auf der Treppe begegnete er einem russischen Arzt mit einer Zigarre im Munde, welchem ein Feldscher folgte.
»Ich kann mich nicht zerreißen«, sagte der Arzt zu dem Feldscher, der ihn aber noch um etwas bat.
»Mach, was du willst! Ist denn nicht alles gleich? Was wünschen Sie?« fragte der Doktor, als Rostow an ihm vorüberkam. »Weil die Kugel Sie nicht getroffen hat, wollen Sie sich den Typhus holen? Dies, Väterchen, ist das Haus des Verderbens!«
»Warum?« fragte Rostow.
»Typhus, Väterchen! Wer eintritt, ist dem Tod verfallen! Nur wir zwei, ich und der Feldscher da, schlagen uns hier herum. Von uns Doktoren sind schon fünf hier gestorben. Sowie ein Neuling kommt – nach einer Woche ist er fertig«, sagte der Arzt mit sichtlichem Vergnügen. Rostow sagte ihm, er möchte den hier liegenden Husarenmajor Denissow sehen.
»Kenne ich nicht, Väterchen! Bedenken Sie, ich allein habe drei Hospitäler mit mehr als vierhundert Kranken. Es ist noch gut, daß preußische wohltätige Damen uns Kaffee und Scharpie senden, zwei Pfund monatlich, sonst wären wir verloren!« Er lachte. »Vierhundert, Väterchen! Und mir schickt man alle Neulinge. Sind es vierhundert? Wie?« fragte er den Feldscher.
Der Feldscher wartete mit finsterer Miene verdrießlich darauf, daß der schwatzhafte Doktor bald gehen werde.
»Major Denissow«, wiederholte Rostow, »er ist kürzlich verwundet worden.«
»Wahrscheinlich gestorben. Was, Makejew?« fragte der Doktor gleichmütig den Feldscher. Dieser aber bestätigte die Vermutung des Arztes nicht.
»Ist es so ein langer, ein bißchen rötlich?« fragte der Arzt.
Rostow beschrieb das Äußere Denissows.
»Richtig! So einer war da!« erwiderte der Arzt vergnügt, »aber er muß gestorben sein! Doch will ich im Verzeichnis nachsehen! Hast du es bei dir, Makejew?«
»Das Verzeichnis ist drüben«, erwiderte der Feldscher. »Aber treten Sie in das Offizierszimmer ein, dort können Sie selbst nachsehen«, sagte er zu Rostow.
»Ach, es bist besser, Sie gehen nicht hinein«, meinte der Arzt, »sonst können Sie selbst drinnen bleiben!« Aber Rostow wandte sich mit einer Verbeugung ab und bat den Feldscher, ihn zu führen.
Sie gingen den Korridor entlang. Der faule Geruch wurde so stark in diesem finsteren Korridor, daß Rostow sich die Nase zuhielt und stehenbleiben mußte, um Kräfte zu sammeln. Zur Rechten öffnete sich eine Tür, aus welcher ein hagerer, gelber Mensch im bloßen Hemd herauskam. Mit funkelnden Augen sah er die Vorübergehenden an. Als Rostow durch die Tür blickte, sah er, daß Kranke und Verwundete dort auf dem Fußboden auf Stroh und Mänteln lagen.
»Kann ich hineingehen, um nachzusehen?« fragte Rostow.
»Wozu nachsehen?« sagte der Feldscher. Aber eben weil dieser ihn augenscheinlich nicht einlassen wollte, ging Rostow in das Soldatenzimmer. Der Geruch, an dem er sich auf dem Korridor schon gewöhnt hatte, war hier noch unerträglicher.
In einem langen, hell erleuchteten Zimmer lagen in zwei Reihen, die Köpfe nach der Wand gekehrt, Kranke und Verwundete. Die meisten von ihnen lagen in Ohnmacht, die anderen erhoben sich und sahen mit demselben Ausdruck von Hoffnung auf Hilfe, von Vorwurf und Neid dem fremden, gesunden Rostow nach. Er ging in den Durchgang in der Mitte des Zimmers und hatte zu beiden Seiten immer denselben Anblick. Schweigend blieb er stehen und blickte sich um. Einen solchen Anblick hatte er nicht erwartet. Vor ihm lag quer über dem mittleren Durchgang auf dem kahlen Fußboden ein kranker Kosak auf dem Rücken, mit ausgebreiteten Armen und Beinen. Sein Gesicht war dunkelrot, die Augen ganz verdreht, so daß nur das Weiße zu sehen war, und auf seinen nackten Füßen und den noch roten Händen traten die Adern wie Stricke hervor. Er sprach etwas mit heiserer Stimme und wiederholte dieses Wort. Rostow