Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
Читать онлайн книгу.eintrat, und schabte ruhig fort. Rosa setzte sich an den Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände und schaute ins Feuer. Endlich versetzte Agnes: »Da ist noch ein Messer, Kind. Wenn du näherkommen willst, kannst du mir bei den Erdäpfeln helfen. Nicht?«
»Ja – Agnes.«
»Gut, so komm! Sieh, die Schale kratzt du so ab, diese schwarzen Augen müssen herausgeschnitten werden.«
»Ja, ja, ich verstehe!«
Eine angenehme, beruhigende Beschäftigung war es, so mit der Messerklinge über das harte, kühle Fleisch der Erdäpfel hinzufahren.
»Gut sind diese Erdäpfel nicht – weiß es Gott! Und teuer noch dazu«, berichtete Agnes. »Aber heute habe ich auf dem Markte schon fast Streit gehabt, weil ich noch immer herunterhandeln wollte. Gott, sie ist auch zu grob – die Frau Kaute.«
»So!« Rosa blickte auf. »Was sagte sie denn?«
»Die! Was kann die anderes als Grobheiten sagen!« Agnes übertrieb ihren Zorn gegen die Kaute, um Rosa Vergnügen zu machen. »Sie sagt: ›So billig können Sie nur Erdäpfel haben, die so vertrocknet sind wie Sie.‹ So was!«
Rosa lachte. »Was sagtest du darauf?«
»Ich sagte nichts, ich ging fort.«
»Wo kommt denn die Kaute her?«
»Sie wohnt dort – jenseits des Flusses – auf dem Lande. Dort haben sie ja nichts anderes als Erdäpfel.«
»Und jeden Morgen kommt sie in die Stadt?«
»Freilich! Mit ihrem Wagen, ihrem Pferde, ihren Erdäpfeln und ihrem Jungen kommt sie jeden Morgen um vier Uhr in die Stadt und setzt sich auf den Marktplatz.«
»Um vier Uhr?«
»Gewiss! Was glaubst denn du? Ich bin auch so gefahren, als ich jung war – zu Hause, nicht weit von Tiglau. Jeden Morgen, wenn es draußen noch ganz schwarz war, habe ich hinaus müssen in den Ort, ich und der Bruder. Wir hatten einen Wagen, ein altes Pferd und eine Laterne.«
»Das muss hart gewesen sein!«
»Leicht war’s nicht! Aber wir schliefen im Wagen. Das Pferd fand den Weg schon allein, nur die Laterne musste brennen, sonst blieb es stehen. Ja, und einmal«, Agnes stemmte den Griff ihres Messers auf ihr Knie und blickte Rosa lustig an, »einmal, da haben wir’s gut gemacht. Ich schlief, und der Hans schlief, die Laterne war erloschen und das Pferd stehengeblieben. Nun – und so schliefen wir und standen wir auf der Landstraße, bis die Sonne aufging. Da weckte mich der Hans. ›Resi!‹ sagte er. ›Um Himmels willen! Die Sonne kommt schon herauf‹ Das war ein Schreck!«
»Schalt dein Vater?«
»Wir sagten’s ihm nicht.«
Rosa hatte aufgehört zu arbeiten. Bilder gelber Ebenen tauchten vor ihr auf – graue, kühle Morgendämmerung; in der Ferne ein Kirchturm und Häuser; ein schläfriges Pferd, struppig und nass vom Morgentau; eine trübe brennende Laterne, die unter dem Wagen baumelt. Ja, sie sah das ganz deutlich vor sich und dachte: »Es muss behaglich sein, so im Halbschlummer über freies, stilles Land zu fahren. Der Morgenwind streift eilig über den Schläfer hinweg, die Erdäpfel duften nach feuchter Erde – und die Welt, ein friedlicher Traum, dämmert in den Schlaf hinein – ohne Gedanken, ohne Qual; eine große, sorglose Ruhe.« Rosa schloss halb die Augen; es war ihr, als spürte sie die Bewegung des Wagens.
»So!« meinte Agnes und wischte das Messer an ihrer Schürze ab. »Nun gehe ich ans Kochen.«
»Und wenn ihr nach Hause kamt, was aßt ihr dann?« fragte Rosa.
»Was gerade da war. Erdäpfel – Hering; manches Mal hatte die Mutter Speck für meine Erdäpfel aufgehoben, aber das war selten.«
»Aßt du das gern?«
»Freilich! Ich schnitt ein Loch in jeden Erdapfel und legte den Speck hinein. Sehr gut war das!«
»So? Ich würde das heute gern essen.«
»Das gerade?« – »Ja.« – »Nun, das kann man bald haben.«
Während Agnes in der Küche ab und zu ging, dachte Rosa an Agnes’ Erzählung. Wie ein Ausweg war’s, den sie gefunden – ein friedliches Feld, auf dem ihr nichts begegnen konnte, das wie ein Vorwurf aussah.
Herr Herz kam auch in die Küche. »Ah! Ihr seid hier beisammen!« sagte er ein wenig erstaunt. »Ja, hier ist’s besser«, meinte Rosa und lächelte ihren Vater matt an. »Hm!« dachte Herr Herz, »diese Agnes versteht den Fall zu behandeln. Nun lacht das Kind schon.« – »Schön – schön«, sagte er und rückte einen Stuhl vor das Feuer.
»Bist du einmal in Tiglau gewesen, Papa?« fragte Rosa.
»In Tiglau? Ja – mir ist so.« Herr Herz dachte ernstlich nach, besorgt, dieser so unerwartet sich einfindende, unverfängliche Gesprächsstoff könnte an seiner Unwissenheit scheitern. »Warte! Vor sehr langer Zeit bin ich dort durchgefahren. Ich glaube, es war ein verteufelt unscheinbares Nest. Wir wollten dort etwas essen, aber ein Gasthaus war nicht aufzutreiben.«
»Sie hätten nur fragen sollen. Jedes Kind in Tiglau zeigt Ihnen den ›Roten Hirsch‹ – dort bekommt man genug zu essen«, versetzte Agnes gereizt. Herr Herz rieb sich verwirrt die Waden. Er begriff nicht recht, warum Rosa ihn nach Tiglau fragte und warum Agnes diesen Marktflecken, an den sonst niemand dachte, so streng in Schutz nahm. »Das ist möglich«, sagte er schnell, weil er fürchtete, Rosa verletzt zu haben. »Es ist lange her, dass ich dort war – wie gesagt.«
»Agnes hat mir von Tiglau erzählt«, erklärte Rosa. »Du weißt, sie ist aus jener Gegend.«
»Richtig!« Herr Herz entsann sich jetzt. Seine Schwester Ina hatte davon gesprochen. »Eine Schwester von dir lebt dort, nicht wahr? Die Frau Böhk. Sie schrieb mir nach dem Tode des Fräuleins.«
»Freilich«, bestätigte Agnes, »das selige Fräulein hat meine Schwester noch unverheiratet gekannt.«
»So, so! Und wie geht es der Frau Böhk? Hat sie viel zu tun?«
»Zu tun gibt es genug. Sie ist die einzige Hebamme der Gegend.«
»Hat sie selbst auch Kinder?« Herr Herz war entschlossen, dieses Thema nicht fallen zu lassen. Agnes musste erzählen: Frau Böhk hatte einen Sohn, dann hatte sie noch zwei Waisen – Töchter jenes Hans, mit dem Agnes zu Markte gefahren war – zu sich genommen. Gute Mädchen, ein wenig wild.
Auf Rosas Wunsch wurde das Nachtmahl in der Küche eingenommen, und während sie ihre Erdäpfel mit Speck aß, drängte sie Agnes, von Tiglau zu erzählen. Agnes hatte bisher nie von ihrem Geburtsort, von ihrer Jugend, von ihren Verwandten gesprochen, heute aber wollten Rosa und ihr Vater von nichts anderem hören, alles mussten sie