Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
Читать онлайн книгу.Bericht. »Wir werden alle unsere Kräfte nötig haben.«
Am Vormittage des folgenden Tages saß Rosa, wie sie es liebte, im Garten auf der Schaukelbank und betrachtete die sonnenbeschienenen Narzissenbeete. Am geöffneten Fenster des Wohnzimmers saßen Frau Böhk und Agnes, steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Ab und zu drang ein lauter gesprochenes Wort bis zu Rosa – eine Zahl oder Frau Böhks mit süßer Stimme abgegebener Protest. »Nein, Schwester, nein. Ich hab’s so wohlfeil wie möglich eingerichtet.« – »Sie berechnen sich«, dachte Rosa.
Jetzt erzählte Agnes etwas, nickte mit dem Kopfe, wischte sich die Augen. »Wenn wir die Sachen auch verkaufen«, hörte Rosa sie sagen, »wieviel kann denn doch dabei herauskommen? Bei all diesen Krankheiten können wir Gott danken, dass wir nicht in Schulden hineingeraten sind. Nun – und wenn ich auch mit ihr hierherziehe – dort kann sie natürlich nicht bleiben –, auch dann reicht das Geld nicht. Ich habe nicht viel, sie hat wenig. Gott – Gott, wie soll das werden!«
»Wie ist das?« sagte sich Rosa, bog den Kopf zurück, blinzelte in die Sonne und überlegte: »Ich habe kein Geld, und Agnes will mich erhalten, so meint sie es doch? Ja, das darf aber nicht sein; natürlich nicht!… Was dann?« Die Bonne der Schank war die einzige Aushilfe, das war klar. »Morgen fahren wir heim«, beschloss Rosa. Ein Bedürfnis zu handeln ergriff sie. Sie ging in das Wohnzimmer und sagte: »Morgen, Agnes, fahren wir heim.«
»Morgen?« riefen die beiden Schwestern erstaunt aus.
»Ja, Agnes – es muss etwas geschehen.«
Da blickten sich die beiden Frauen verständnisinnig an und meinten: »Recht hat das Kind.«
Siebentes Kapitel
Rosa hatte geglaubt, die Rückkehr in ihre Heimatstadt würde sie ergreifen. Als sie jedoch bei einbrechender Dunkelheit durch die wohlbekannten Straßen fuhr, fühlte sie keinerlei Erregung. Alles war unverändert. Ein jedes stand auf seinem alten Platz, und Rosa schaute ruhig darauf hin, als wäre sie nie fort gewesen.
In der Herzschen Wohnung war eine dumpfe, heiße Luft eingeschlossen. Der Lehnstuhl am Tisch stand ein wenig schief, als hätte jemand ihn eben verlassen, auf dem Fensterbrett lag ein Taschentuch. Nur eins war ungewöhnlich. Im Flur und im Wohnzimmer lagen Tannennadeln über den Fußboden verstreut. Agnes hatte vergessen, sie nach der Leichenfeier fortzukehren, nun verbreiteten sie einen scharfen Duft, der Rosa mit Unbehagen erfüllte. Sie ging in ihr Zimmer hinüber. Auf dem Tisch, dem Bett, dem Rosenstock am Fenster lag Staub; der traute Raum schaute sie heute so tot und nichtssagend an und machte sie traurig; es war jedoch keine Traurigkeit, die uns weinen lässt, sondern ein missmutiges, ödes sich in sich selbst Verkriechen. Agnes war viel gerührter. Mit feuchten Augen sah sie Rosa an und klagte: »Ach Kind, wenn ich denke, dass du wieder hier bist und dass dein Papa das nicht mehr erlebt! Wie hübsch hätten wir drei wieder beieinander gelebt. Nun ist alles aus!«
»Ach ja!« erwiderte Rosa, aber der Schmerz um ein anderes Gut war noch zu mächtig in ihr, als dass sie um die stillen Tage der Vergangenheit trauern konnte.
Denselben Abend noch schrieb Rosa an Fräulein Schank und bat sie, ihr beizustehen. Fräulein Schank antwortete, sie wolle sich nach etwas Passendem umschauen und es Rosa dann melden.
Rosa wartete geduldig mehrere Tage. Eines Abends ging sie zum Friedhof hinaus, um das Grab ihres Vaters zu besuchen. Die Stadt hatte das bunte, lustige Aussehen der Sommerabende. In der Lindenallee, die zum Friedhof führte, begegnete Rosa vielen Menschen, die langsam mit bestaubten Schuhen, die Hände voller Feldblumen, heimzogen. Auch das Ehepaar Toddels ging an Rosa vorüber. Sally trug ein helles Sommerkleid und einen rosaseidnen Hut. Sie schielte zu Rosa hinüber und drängte sich schüchtern an ihren Mann heran, als fürchtete sie sich. Dieser wusste nicht recht, was er tun sollte, und küsste flüchtig und linkisch den rosaseidnen Hut.
Auf dem Friedhof war es so still, dass man die Schritte der wenigen Besucher deutlich auf dem Kies knirschen hörte. Über dem Grabe des Ballettänzers erhob sich ein schwarzes Kreuz, und viele Astern blühten dort. Nachdenklich stand Rosa davor. Endlich kniete sie nieder und betete; sie konnte aber nicht weinen, und das missfiel ihr. Hatte sie denn ihren Vater nicht geliebt? Wie sie jedoch so vor dem Grabhügel kniete, ergriff sie ein tiefes Mitleid ihrer selbst, sie beugte ihre Stirn in die Astern hinein und weinte bitterlich über sich selbst. –
Endlich eines Tages beschied Fräulein Schank Rosa zu sich. Rosa fand sich pünktlich ein. Fräulein Schank hatte soeben zu Mittag gegessen und eilte ihrer früheren Schülerin mit roter Nase und gerötetem Kinn entgegen.
»Guten Tag. Komm, bitte, hier herein«, sagte sie hastig und aufgeregt und führte Rosa in das Wohnzimmer.
In einer Ecke dieses Zimmers saß auf einem geräumigen Lehnsessel Fräulein Schanks Mutter, eine sehr alte, gelähmte Frau. Mit trüben gelben Augen starrte sie vor sich hin und verzog die Unterlippe, was ihrem Gesicht einen bösen, höhnischen Ausdruck verlieh.
»Rosa Herz, Mutter«, meldete Fräulein Schank. »Nimm Platz, Rosa«, fuhr sie in strengem Gouvernantenton fort, ihre gelblichen Wangen wurden jedoch ganz rot, und sie wollte die Unterredung durch eine zwecklose Geschäftigkeit noch hinausschieben. Das Erscheinen ihrer früheren Schülerin machte sie verlegen. Statt der durchtriebenen Rosa stand eine Frau vor ihr, die weder zerknirscht noch demütig aussah, sondern nur ernst und sehr schön, mit ihrer vollen Gestalt im schwarzen Kleide, mit den leuchtendroten Lippen im bleichen Gesicht und den feuchten großen Augen, die tiefer in das Leben hineingeschaut hatten als Fräulein Schank – trotz ihrer dreißig Jahre keuscher Schulweisheit.
»So – so! Du sitzt schon? Ich bin auch da«, sagte sie und setzte sich gerade auf ihrem Stuhl; dabei versuchte sie die betrübte, missbilligende Miene anzunehmen, die sie aufzusetzen pflegte, wenn eine Schülerin »wieder nicht präpariert« war; sie gelang ihr jedoch nicht. Mit ihren spitzen roten Bäckchen sah Fräulein Schank so befangen und hilflos aus, dass Rosa sich fragte: Was hat sie nur?
»Du siehst angegriffen aus«, begann Fräulein Schank und strich sich ihr Bandeau glatt. »Nicht wahr, Mutter, die Rosa sieht angegriffen aus?«
»Ja – ja«, erwiderte die Alte, »das ist die Streber.«
»Rosa Herz, Mutter – Herz –« verbesserte Fräulein Schank, die wieder ihre scharfe Art fand.
»Gute Tochter«, entgegnete die Alte und verzog höhnisch die Unterlippe, »ich weiß ja, dass der Streber weglief. Als ob ich das nicht wüsste!«
Fräulein Schank zuckte die Achseln, sie wollte ihre Mutter lieber