In Nacht und Eis. Fridtjof Nansen
Читать онлайн книгу.die Oberfläche ganz vorzüglich für Schlittenfahrten geeignet. Auf solchem Eis könnte man täglich viele Meilen fahren.
Montag, 15. Januar. Je länger ich hier umherstreife und dieses Eis nach allen Richtungen hin ansehe, desto stärker erfasst mich ein Plan, mit dem ich in Gedanken schon lange umgegangen bin.
Mit Hunden und Schlitten musste es möglich sein, auf diesem Eis den Pol zu erreichen. Den Rückweg würde man dann in der Richtung auf Franz-Joseph-Land, Spitzbergen oder die Westküste von Grönland nehmen. Für zwei Leute könnte man es fast als eine leichte Expedition bezeichnen.
Allein, es würde voreilig sein, im Frühjahr aufzubrechen. Erst müssen wir sehen, welche Drift der Sommer bringt. Und wenn ich darüber nachdenke, halte ich es doch für zweifelhaft, ob es richtig wäre, mich zu entfernen und die anderen zu verlassen. Man denke sich nur, wenn ich nach Hause käme und sie nicht!
Und doch bin ich hierher gekommen, um die unbekannten Polargebiete zu erforschen; dafür haben die Norweger ihr Geld hergegeben und es ist sicher meine erste Pflicht zu tun, was ich kann. Ich muss die Drift noch einer längeren Probe unterziehen. Wenn wir aber nach einer verkehrten Richtung geführt werden, dann bleibt nichts anderes übrig, als den Polmarsch anzutreten, komme danach, was da wolle!
Dienstag, 16. Januar. Ist es die Ruhelosigkeit des Frühlings, die über den Menschen kommt? Der Wunsch nach Tätigkeit, nach etwas, was sich von diesem Leben unterscheidet? Ist die Menschenseele nichts weiter als eine Aufeinanderfolge von Stimmungen und Gefühlen, die sich so unberechenbar verändern wie der Wind? Vielleicht ist mein Gehirn übermüdet; Tag und Nacht sind meine Gedanken auf den einen Punkt gerichtet gewesen, auf die Möglichkeit, den Pol zu erreichen und wieder nach Hause zu kommen. Vielleicht ist es Ruhe, was ich brauche, um zu schlafen, zu schlafen! Fürchte ich mich, das Leben zu wagen? Nein, das kann es nicht sein.
Aber was hält mich sonst zurück? Vielleicht ein geheimer Zweifel, dass der Plan durchzuführen ist? Mein Geist ist verwirrt; alles ist in Unordnung geraten, ich bin mir selbst ein Rätsel. Ich bin abgenutzt und fühle doch keine besondere Ermüdung. Alles um mich herum ist Leere und mein Gehirn ist ein weißes Blatt. Ich schaue die Bilder aus der Heimat an und sie langweilen mich; ich blicke in die Zukunft und es kommt mir vor, als sei es mir ziemlich einerlei, ob ich in diesem oder im nächsten Herbst zurückkomme. Wenn ich schließlich überhaupt nur zurückkomme, scheinen mir ein oder zwei Jahre fast nichts zu sein.
So habe ich früher nie gedacht. Ich habe jetzt keinerlei Neigung zum Lesen, zum Zeichnen oder zu irgendeiner anderen Tätigkeit. Torheit! Soll ich versuchen, einige Seiten Schopenhauer zu lesen? Nein, ich will zu Bett gehen, obwohl ich nicht müde bin.
Das Einzige, was mir hilft, ist Schreiben, der Versuch, mich auf diesen Blättern auszusprechen und dann mich selbst gleichsam von außen her zu betrachten. Ja, das Leben des Menschen ist nichts als eine Aufeinanderfolge von Gemütsstimmungen, halb Erinnerung, halb Hoffnung.
Wenn ich auf das Bild blicke, das mein Haus in Lysaker im Abendlicht zeigt, meine Frau im Garten, so halte ich es für unmöglich, es hier noch viel länger auszuhalten. Aber nur die unbarmherzigen Schicksalsmächte wissen, wann wir dort wieder beisammen sein, die ganze Süße des Lebens wieder fühlen, wann wir über den lächelnden Fjord blicken werden und …
Wir stehen jetzt auf 80° n.B., im September waren wir auf 79° das ist – sage und schreibe – ein Grad in fünf Monaten. Wenn es mit dieser Geschwindigkeit weitergeht, werden wir in 45 Monaten oder vielleicht in 50 Monaten am Pol und in 90 Monaten oder 100 Monaten auf 80° n.Br. auf der anderen Seite des Pols sein, vermutlich mit der Aussicht, dass wir in weiteren zwei Monaten aus dem Eis heraus und nach Hause gelangen. Im besten Falle würden wir in acht Jahren wieder zu Hause sein!
Mir fällt ein, dass ich vor meiner Abreise in meinem Garten Büsche und Bäume für zukünftige Geschlechter pflanzte. Professor Brögger schrieb dazu, niemand wisse, wie lange Schatten diese Bäume werfen würden, wenn ich zurückkäme. Nun, sie liegen jetzt unter dem Winterschnee, werden aber im Frühjahr wieder sprießen und wachsen – wie oft wohl?
Zuzeiten erdrückt diese Untätigkeit geradezu den Geist. Das Leben erscheint so dunkel wie die Winternacht draußen; nirgends Sonnenschein, höchstens in der Vergangenheit und in der weit, weit entfernten Zukunft. Mir ist, als müsse ich diesen Bann der Erstarrung, diese Trägheit durchbrechen und Raum finden für meine Tatkraft. Kann nicht etwas geschehen? Könnte nicht ein Orkan kommen, dieses Eis aufreißen und es in hohen Wogen in Bewegung setzen wie das offene Meer? Lasst uns in Not kommen, lasst uns um unser Leben kämpfen – aber lasst uns nur vorwärtskommen!
Den untätigen Zuschauer spielen zu müssen, keine Hand rühren zu können, um uns selbst vorwärtszuhelfen, das ist grauenhaft. Es bedarf zehnmal größerer Geistesstärke still zu sitzen, seinen Theorien zu vertrauen und die Natur walten zu lassen, als auf seine Kräfte zu bauen – das ist nichts, wenn man ein Paar starke Arme hat.
Hier sitze ich und jammere wie ein altes Weib. Habe ich das alles nicht gewusst, bevor ich aufbrach? Die Dinge sind nicht schlimmer gegangen, als ich erwartet habe; im Gegenteil eher besser. Wo ist nun die Hoffnungsfreudigkeit, die mit dem Tag und der Sonne wuchs? Wo sind die stolzen Fantasien, die jungen Adlern gleich zu einer glänzenden Zukunft emporstiegen? Wie flügellahme, nasse Krähen verlassen sie das sonnenbeleuchtete Meer und verbergen sich in den nebligen Sümpfen der Verzagtheit. Vielleicht wird mit dem Südwind alles wiederkommen – ich muss einen der alten Philosophen durchstöbern …
Montag, 19. Februar. Heute ging der Wind nach Süden herum. Er erreichte 4 Meter Geschwindigkeit in der Sekunde.
Am Morgen nahmen wir Eisbohrungen vor. Das Eis war an der Backbordseite 1,875 Meter dick und mit einer Schneeschicht von ungefähr 4 Zentimetern bedeckt. Am Bug war es 2,08 Meter dick und ebenfalls mit mehreren Zentimeter Schnee überzogen. Man kann das für einen ganzen Monat kein großes Wachstum nennen, wenn man bedenkt, dass die Temperatur bis 50°C unter null gesunken war.
Heute und gestern haben wir wieder das Spiegelbild der Sonne gesehen; heute stand es hoch über dem Horizont, beinahe so rund wie eine Scheibe. Einige Kameraden behaupteten, sie hätten den oberen Rand der Sonne selbst gesehen; Peder und Bentsen wollten mindestens die Hälfte der Sonnenscheibe beobachtet haben, und Juell und Scott-Hansen erklärten, sie sei ganz über dem Horizont gewesen. Ich fürchte, es ist schon so lange her, seit sie die Sonne gesehen, dass sie ganz vergessen haben, wie sie aussieht.
Dienstag, 20. Februar. Großer Sonnenfesttag heute. Aber ohne Sonne. Wir müssten sie sehen, wenn keine Wolken am Horizont wären. Wir lassen uns jedoch nicht um unser Fest betrügen und können ja, wenn wir die Sonne wirklich zum ersten Mal sehen, nochmals feiern.
Mit einem großen Scheibenschießen fingen wir morgens an; dann hatten wir ein Mittagessen von vier Gängen und »Fram-Wein« alias Zitronensaft, Kaffee und später »Fram-Kuchen«; abends Ananas, Kuchen, Feigen, Bananen und Konfekt.
Großes Gesichtswaschen aus Anlass des Tages. Guter Gott, wohin soll das noch führen? Einige sehen aus wie Masttiere und die Backen von Juell machen geradezu Sorge. Als ich ihn im Profil betrachtete, dachte ich darüber nach, wie er es wohl machen würde, einen solchen Körper über das Eis zu schleppen, wenn wir eines Tages das Schiff verlassen müssten. Ich beschließe, eine Zeit lang schmalere Rationen zu geben. Abends kletterten wir mit dem Gefühl in die Kojen, dass wir uns beim Essen übernommen hatten. Draußen halber Sturm aus Südosten.
Gründonnerstag, 22. März. Noch immer starker südöstlicher Wind und gute nördliche Drift. Unsere Stimmung hebt sich. Der Wind pfeift durch die Takelung; er tönt wie ein Siegessang durch die Luft.
Am Vormittag hatte ein junger Hund schwere Krämpfe; er hatte Schaum vor dem Maul und biss wütend um sich. Als der Anfall mit Starrkrampf endete, brachten wir das Tier auf das Eis. Es hüpfte wie eine Kröte umher, die Beine steif ausgestreckt, Hals und Kopf aufwärts gebogen, während der Rücken wie ein Sattel eingedrückt war. Da es Tollwut oder eine andere ansteckende Krankheit sein konnte, erschoss ich den Hund.
Karfreitag, 23. März. Die Mittagsbeobachtung ergibt 80° n.Br. In vier Tagen und Nächten sind wir ebenso schnell nach Norden getrieben wie in drei Wochen nach Süden. Auf alle Fälle ist es ein Trost,