Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.ist furchtbar, furchtbar!« rief Leonhard tief erschüttert. »Aber noch schlimmer fast ist der Ton, in welchem Sie das alles erzählen!«
»O nein«, sagte der Leutnant kopfschüttelnd, »der Ton ist ganz richtig; wo soll ich einen anderen dazu herkriegen? Auch das Schlimmste kommt eigentlich noch nach. Der Adolf war tot, so tot, wie es ihm nur sein ärgster Feind oder sein bester Freund wünschen mochte; den Herrn von Glimmern aber hub man wieder auf vom Boden, und es fand sich, dass ihn eine Wendung des Körpers oder die Vergoldung der Uniform oder sonst so etwas besser vor einem solchen Mordanfall und vorzeitigen Ende geschützt hatte als sein Gewissen, sein Herz und seine Ehre. Natürlich wurde ein Gericht über die Sache zusammenberufen und –«
»Lassen Sie mir jetzt die Fortsetzung und was sonst noch zu sagen und zu erklären sein wird«, sprach der Herr van der Mook und wendete sich von seinem Lager an Leonhard Hagebucher: »Ich bin sehr beteiligt, und mein Vater ist als Rechtsbeistand zugezogen worden.«
Der Afrikaner griff mit bebender Hand nach der Lehne seines Stuhles:
»O Frau Klaudine!«
Einundzwanzigstes Kapitel
Der wilde Jäger, der, um Affen und junge Meerkatzen einzuhandeln, nach Abu Telfan gekommen war und sich damals Kornelius van der Mook nannte, saß jetzt aufrecht auf dem Feldbett des Leutnants Kind, rieb sich die Stirne, kratzte sich hinter den Ohren, fuhr durch das wirre Haar und sagte, während Leonhard Hagebucher ihn nicht mit den zärtlichsten Gefühlen anstarrte:
»Es würde vergeblich sein, es länger abzuleugnen; ja, Compagno, ich bin der Sohn jener alten Dame, welche Sie eben nannten, ich bin der Sohn des Rats Fehleysen, welcher mit über den Leutnant zu Gericht saß. Bleibt ruhig, Kind, Ihr habt mich gerufen, und hier bin ich, nun habt Ihr mich aber auch zu nehmen, wie ich bin – etwas insalvaticato, wie wir es in der Lingua franca nennen; etwas verwaldmenscht, he, Hagebucher? Nun, Herr Leonhard, wie erscheine ich Euch? Das ist ein Aufsteigen aus dem Boden, behängt mit Wurzeln und Erdklößen, mit Moos und vermodernden Blättern? Würde es nicht besser sein, wenn wir den Kopf wieder zurückzögen und von neuem in die Tiefe versänken? Noch steht es bei Euch, in dieser Nacht schon kann die Bestie verschwinden, wie sie kam: – was ist Ihre Meinung, Freund Hagebucher?«
Leonhard nagte kurz atmend an der Oberlippe: Das also war die Hoffnung der Frau Klaudine? Also davon sangen die Tropfen an dem stillen Mühlrade in dem zauberhaften Waldfrieden? Wie tückisch-falsch, wie verlogen, verlogen! – Der Afrikaner sah den Wald um die Mühle, wie er ihn so oft gesehen hatte in zwei Frühlingen und Sommern, er sah die wilden Rosen den edleren Geschwistern über den Zaun des kleinen Gartens die Hände reichen, er hörte die Drossel und den Vogel Fink fern im Gebüsch und sah das feine Haupt der Greisin an dem niedern Fenster. Er blickte tief in das ruhige Herz der Mutter und vernahm seinen leisen Schlag: er lebt und wird wiederkommen, und dann erst ist alles gut, und dann erst sind der wahre Friede und die wahre Schönheit zurückgekehrt!… Verdammt, da qualmte die Lampe des Leutnants Kind auf dem leeren Tische und stellte die Welt in das rechte Licht, hier grinste die Wahrheit von den kahlen Wänden, und die schwarze Winternacht, die in das Fenster sah, die log nicht, und der Degen des Leutnants über dem zerwühlten Bett log auch nicht. Ein Tropfen Blut zog sich langsam an der Klinge abwärts und hing an der Spitze, dicht hinter dem Haupte des Sohnes der Frau Klaudine, und Leonhard Hagebucher sah auf die Klinge, sah auf den Leutnant und sah auf den Herrn van der Mook und sprach:
»Herr von Fehleysen, ich habe in Abu Telfan wenig Gelegenheit gehabt, die alten europäischen, gesellschaftlichen Lügenhaftigkeiten zu üben und auszubilden, und so sage ich Ihnen, wenn ich die Macht hätte, so würde ich Ihnen auf allen Wegen, die zu Ihrer Mutter führen, entgegentreten, ehe Sie Ihr volles Recht an jene heilige Stelle mir klar und deutlich bewiesen hätten. Ich bin Ihnen unendlichen Dank schuldig, aber Ihre Mutter tat doch noch ein Größeres an mir, und ich will sie in ihrem Frieden schützen, solange ich kann. Viktor, wo ist Ihr Recht an Ihre Mutter? Wo ist nach so langen Jahren der Abwesenheit Ihr Geleitsbrief zu ihr? Sie haben eine Frage an mich gestellt, welche ich nur beantworten kann, wenn ich die Geschichte Ihres Lebens ganz kenne. Reden Sie also, und ich werde Ihnen sagen, was Sie zu tun und was Sie zu lassen haben.«
»Hört Ihr es, Leutnant!« rief der Herr van der Mook. »Der dort ist seiner Sache nicht so gewiss als Ihr, und da er doch mehr als wir über den Parteien steht, so wollen wir auf seine Stimme im Rate hören und den Besen nicht ohne seinen Konsens aus der Ecke holen.«
»Wir haben ihn dazu gerufen«, sprach der Leutnant Kind mürrisch, »erzählen Sie ihm das Nötige, und lassen Sie uns weitergehen.«
»Höret und ergötzt Euch, Don Leonardo«, rief Viktor von Fehleysen. »Meine Mutter kennt Ihr, mein Vater war ein Mann der römischen virtus, und was ich bin, das will ich Euch jetzt klarzumachen suchen. Reden wir aber zuerst von den Toten! Mein Vater war ein strenger Mann der Arbeit, der peinlichsten Rechtlichkeit, ein Hypochonder der Pflichterfüllung, und bis auf seine Handschrift war alles an ihm fest und stark. In Athen würde ihn das Scherbengericht in die Verbannung geschickt haben; in Rom hätte ihm der Imperator durch den Zenturionen die Wahl der Todesart freistellen lassen; hierzulande zuckte man die Achseln über ihn, und als man ihn glücklich aus der Luft gelächelt hatte, da waren Tausende, welche ihn mit Vergnügen einen Halunken nannten, ohne ihn zu kennen; und Hunderte, welche ihn kannten, glaubten sehr milde zu sein, wenn sie ihn einen Narren hießen. Aus meinen frühesten Kinderjahren habe ich eine Erinnerung an nächtliche Schritte, die das Gemach neben meiner Kammer durchmaßen von Mitternacht bis zu der Morgendämmerung; da ging mein Vater, welchen seine hohe, ernste Lebensgöttin, die sehr wohlgeborene Dame Gerechtigkeit, nicht schlafen ließ, welchem die Arbeit des Tages zu seinem Lager folgte, um ihn immer von neuem von demselben aufzujagen. Am Tage saß er in Eisen gerüstet zu Gericht, und seine Starrheit gehörte zu ihm wie der Panzer zum Kriegsmann. Natürlich machte er sich nach den verschiedensten Seiten hin missliebig, und das schlimmste für ihn ist gewesen, dass er längst über seinen kleinen Staat hinausgewachsen war und seine Ansichten nicht verhehlte. Er hatte sich als Abgeordneter sehr verhasst gemacht, aber so recht individuell wurde der Hass erst nach jener Kriegsgerichtssitzung, von welcher der Leutnant soeben Bericht gab. In derselben und infolge derselben zerfiel er gänzlich mit einer gewissen Partei, welche von diesem Augenblick kein Mittel scheute, ihm überall die Wurzeln abzugraben. Kränkungen, Zurücksetzungen, Verleumdungen folgten einander in ununterbrochener Reihe; man benützte eine langwierige Krankheit, in welche er verfiel, um während derselben ihn überall zu verdrängen, sogar aus dem Vertrauen seiner eigensten Gesinnungsgenossen,