Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.Schein von hundertundfünfzig Pechfackeln, marschiert der Alte mit uns zurück nach Nippenburg, hinein in den glänzend illuminierten Goldenen Pfau, und die Alte und Lina weinen uns von der Gartentüre aus die hellen Freudentränen nach. Ach, Leonhard, weshalb warest du nicht bei uns, weshalb hatte ich dich nicht mitgenommen nach Nippenburg? Wo warest du, als er sich in seinem Sessel zurücklegte und der Stadtphysikus, der ihm gegenübersaß, bestürzt aufsprang, die Tischmusik abbrach und der Stadtchirurg, obgleich er sein Besteck bei sich trug und seine Lanzette schnell genug brauchte, doch den Kopf schüttelte?«
»Ich ließ mir von dem Herrn van der Mook und dem Leutnant Kind Geschichten erzählen«, murmelte Leonhard; allein der Vetter fuhr in aller Hast fort:
»Wir brachten ihn zurück in sein Haus, diesmal ohne Fackeln, Schützengilde und Stadtmusik, und der Herr von Bumsdorf lief vorauf zu den Weibern. Gestern, den ganzen Tag, hat er still gelegen, bis gegen neun Uhr am Abend. Bei Gott, er war doch ein anständiger, wackerer Gesell in seiner Art, und es tut mir leid, sehr leid, und viel, viel würde ich drum geben, wenn ich ihn ruhig in seinen Grillen und Schrullen hätte sitzenlassen. Ach, Leonhard, das habe ich dir nicht versprochen, als ich am Dienstag vor dem Hotel de Prusse in den Wagen stieg und dir versprach, den Alten herumzubringen!«
Vierundzwanzigstes Kapitel
Leonhard Hagebucher hatte den Vetter Wassertreter sprechen lassen, ohne ihn zu unterbrechen, doch ohne mehr als die Hauptzüge, den Kern des Berichtes, aufzufassen; am Schlusse desselben drückte er ihm nichtsdestoweniger die Hand und seufzte:
»Es war wohlgemeint, Vetter, und daran wollen wir uns halten, alles übrige ist nicht in unsere Hände gelegt. Ich danke Euch herzlich, Vetter, Ihr habt Euer Bestes getan, wenngleich auf Eure Weise. Was aber wird jetzt das nötigste sein? Ist schon in irgendeiner Art für die nächsten Tage vorgesorgt, oder –«
Ein schnarrender Ton bewog den Afrikaner, sich schnell umzuwenden: der Vetter Wassertreter hatte die Hände im Schoß zusammengelegt und schlief fest auf seinem Stuhle neben dem Bette; er musste mit dem letzten Worte seiner Erzählung eingeschlafen sein. Auf den Zehen ging Leonhard zu den Fenstern und schloss sie leise nach einem letzten Blick in die Morgendämmerung. Er wollte wachen, er musste wachen, doch auch er nahm einen Sessel zu Häupten der Leiche und versuchte es, seine Gedanken so klar zu halten wie seinen Willen.
Das war schwer und erwies sich bald sogar als eine Unmöglichkeit. Es hätte eine übermenschliche Kraft dazu gehört, unter den Aufregungen der letzten Woche ad sidera tollere vultus, d.h., die Nase so zu tragen, wie es die Naturgeschichte vom Menschen verlangt.
Fünf Minuten noch behielt Leonhard das starre Gesicht des Vaters unverwandt im Auge; dann füllte sich das Gemach mit einem Nebel und dieser Nebel mit einem Hexentanz alles dessen, was die Woche so bunt gemacht hatte. Der gaslichterhellte, menschengefüllte Saal der Vorlesung, der Herr von Betzendorff, der Herr von Glimmern, die Frau von Glimmern, der Professor Reihenschlager und Serena Reihenschlager, der Herr van der Mook – die Stube des Leutnants Kind und der Leutnant Kind selbst – der Weg nach der Katzenmühle, die Mühle und die Frau Klaudine – der Weg nach Bumsdorf – das verstörte Vaterhaus, der tote Vater, die Erzählung des Vetters Wassertreter und, seltsamerweise, aus dem Bericht des Vetters vorzugsweise der Onkel Schnödler purzelten in seiner Seele durcheinander gleich den Tönen eines Klaviers, auf welchem eine Kinderhand Musik macht, bis – ja, bis Mutter Natur endlich Ruhe gebot und dem wildesten Lärm die tiefste Stille, dem angestrengtesten Denken die völlige Bewusstlosigkeit folgte.
Es war heller Tag, als der zum zweiten Mal aus der Fremde heimgekehrte Sohn erwachte, und er hatte mancherlei verschlafen. Die Leiche war aus dem Bette gehoben und in einer Nebenkammer auf ein anderes Lager niedergelegt worden; es war wieder ein Feuer in dem erkalteten Ofen des Sterbegemachs angezündet, und unten in dem Familienzimmer wartete das Frühstück und empfing der Vetter Kondolenzbesuche.
Als der Schläfer hastig emporfuhr und an das Fenster taumelte, hielt ein Handwagen vor der Gartentür auf der Landstraße, und der Meister Schreiner mit seinen Gesellen lud den Sarg ab, und die Magd des Hauses, mit einem frisch geschlachteten Hahn in der linken Hand und dem Schürzenzipfel vor dem rechten Auge, sah der traurigen Arbeit schmerzlich, jedoch nicht unangenehm interessiert zu. Bestürzt wich Leonhard zurück und blickte schnell nach dem leeren Bett hinüber; mit beiden Händen griff er nach der Stirn und starrte von Wand zu Wand, von der Decke zum Boden, von dem alten Kupferstich, dem Opfer Isaaks, auf das Porträt des Großvaters in Öl. Das war Bumsdorf, das war das elterliche Haus, das war die Kammer der Eltern!… Zitternd, in namenloser Angst nochmals zwei Schritte gegen das Fenster – der schwarze Schrein wurde über des Hauses Schwelle gehoben; – bei dem klaren Winterhimmel, die Sache verhielt sich so, und es war das vernünftigste, die Treppe hinunterzusteigen, um die alte Frau in ihrer Witwenschaft in ruhiger Trauer zu begrüßen! Wie von einem Fenster unserer Erzählung treten auch wir zurück; und gleichwie recht gute Freunde ihre Besuche auszusetzen pflegen, wenn Verdrießlichkeiten über das Haus, in welchem sie aus und ein gingen, hereinbrachen, so lassen auch wir die unerquicklichen Tage, welche jetzt dem Haus Hagebucher zugemessen wurden, vorüberstreichen, ohne uns – aufzudrängen. –
Alle Wasser waren erstarrt vor dem kalten Hauche aus Norden. Die Wälder und Täler lagen da, als ob niemals ein Ton in ihnen erklungen sei. Nun war die rechte Zeit der Einsamkeit für die Katzenmühle gekommen, die ja versteckter lag als sonst eine Menschenwohnung weit umher. Mit den anderen Wassern verstummte natürlich auch das Rinnsal des Baches; auch das leiseste Klingen der vereinzelten Tropfen aus der fernen Welt des Lebens über dem zerbrochenen Rade hatte aufgehört; Mutter und Sohn in der Mühle waren allein, und niemand störte sie, selbst Leonhard Hagebucher nicht.
Wir kommen aus dem Hause des Todes, und der Tod ist eine ernste Sache; aber er hinderte uns nicht, festen Schrittes einherzugehen und verständlich, mit heller Stimme unsere Meinung zu sagen. Nun fürchten wir das Echo in den Wäldern zu erwecken – was ist das? Kann das Leben größere Mysterien haben als der Tod?
Hier war ein Wunder; die Frau Klaudine war gewachsen! Um eines Hauptes Länge war sie höher geworden über Nacht. Sie hatte beide Hände vor sich auf den Tisch gestützt und so sich langsam aufgerichtet. Mit großen, klaren, ernsten Augen blickte sie in ihr Geschick – – bis hierher und nicht weiter!
Sie hatte in der Einsamkeit und Hoffnung einen mächtigen Willen gewonnen. Sie fürchtete sich nicht; sie