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einen wech­seln­den Rhyth­mus, der im­mer noch et­was wie Freu­de er­war­ten ließ: nach der Ar­beit eine Stun­de Spa­zier­gang oder die Zufrie­den­heit über einen frisch ge­wa­sche­nen Kör­per.

      Auch Anna Quan­gel hat­te es ge­lernt, nachts aus dem Zel­len­fens­ter zu lau­schen. Aber sie stand nicht nur manch­mal an ihm, sie tat es all­nächt­lich. Und sie flüs­ter­te, sie sprach am Fens­ter, sie er­zähl­te ihre Ge­schich­te, sie frag­te im­mer wie­der nach Otto, nach Otto Quan­gel … O Gott, wuss­te denn wirk­lich hier nie­mand, wo Otto war, wie es ihm ging, Otto Quan­gel, ja doch, ein äl­te­rer Werk­meis­ter, aber noch rüs­tig, sah so und so aus, drei­und­fünf­zig Jah­re – sie muss­ten es doch wis­sen!

      Sie merk­te es nicht, oder sie woll­te es nicht mer­ken, dass sie den an­de­ren läs­tig fiel mit ih­ren ewi­gen Fra­gen, ih­rem hem­mungs­lo­sen Er­zäh­len. Hier hat­te jede ihre ei­ge­nen Sor­gen.

      »Halt doch end­lich mal dei­ne Klap­pe, du da, Num­mer 76, das wis­sen wir nun al­les, was du quatschst!«

      Oder auch: »Ach, das ist die wie­der mit ih­rem Otto, von hin­ten und von vor­ne Otto, was?«

      Oder ganz scharf: »Wenn du nicht end­lich die Klap­pe hältst, ver­pfei­fen wir dich! Jetzt wol­len auch mal and­re dran­kom­men!«

      Kroch dann Anna Quan­gel end­lich tief in der Nacht un­ter ihre De­cke, schlief sie noch viel spä­ter ein, so fand sie am nächs­ten Mor­gen nicht recht­zei­tig her­aus. Die Auf­se­he­rin schalt mit ihr und droh­te ihr einen neu­en Ar­rest an. Spät setz­te sie sich an die Ar­beit, zu spät. Sie muss­te sich het­zen und mach­te al­len Er­folg ih­rer Het­ze­rei wie­der zu­nich­te, weil sie ein Geräusch auf dem Flur ge­hört zu ha­ben glaub­te und nun an der Tür lausch­te. Eine hal­be Stun­de lang, eine Stun­de lang. Sie, die eine ru­hi­ge, freund­li­che, müt­ter­li­che Frau ge­we­sen war, ver­än­der­te sich durch die Ein­zel­haft so, dass alle sich an ihr är­ger­ten. Da die Auf­se­he­rin­nen stets Mühe mit ihr hat­ten und un­freund­lich mit ihr wa­ren, fing sie Streit mit ih­nen an; sie be­haup­te­te, ihr gebe man am we­nigs­ten und am schlech­tes­ten zu es­sen, aber die meis­te Ar­beit. Schon ein paar­mal hat­te sie sich bei die­sem Wort­ge­fecht so er­hitzt, dass sie zu schrei­en an­fing, ein­fach sinn­los zu schrei­en.

      Dann hielt sie selbst er­schro­cken inne. Sie be­dach­te den Weg, den sie ge­gan­gen war, bis in die­se kah­le To­des­zel­le hin­ein, sie dach­te an ihr Heim in der Ja­blons­ki­stra­ße, das sie nie wie­der­se­hen wür­de, sie er­in­ner­te sich des Soh­nes Otto, wie er grö­ßer wur­de, sei­nes kind­li­chen Ge­plau­ders, der ers­ten Schul­sor­gen, der klei­nen grau­en Hand, die mit un­ge­schick­ter Zärt­lich­keit ihr ins Ge­sicht ge­fasst hat­te – ach, die­se Kin­der­hand, die sich in ih­rem Lei­be, aus ih­rem Blut zu Fleisch ge­bil­det hat­te, sie war längst wie­der zu Erde zer­fal­len, sie war ihr auf ewig ver­lo­ren. Sie dach­te an die Näch­te, da die Tru­del bei ihr im Bett ge­le­gen hat­te, wenn sie flüs­ternd, den blü­hen­den jun­gen Leib nahe dem ih­ri­gen, sich stun­den­lang un­ter­hal­ten hat­ten, über den stren­gen Va­ter, der drü­ben im Bett schlief, über Ot­to­chen und über ihre Zu­kunfts­aus­sich­ten. Aber auch die Tru­del war ver­lo­ren.

      Und dann dach­te sie an die ge­mein­sa­me Ar­beit mit Otto, an den Kampf, den sie bei­de über zwei Jah­re in al­ler Stil­le ge­führt hat­ten. Die Sonn­ta­ge ka­men ihr in Erin­ne­rung, wenn sie ge­mein­sam am Tisch in der Stu­be sa­ßen, sie in der So­fae­cke, St­rümp­fe stop­fend, und er auf sei­nem Stuhl, sein Schreib­zeug vor sich, ge­mein­sam Sät­ze for­mu­lie­rend, ge­mein­sam Träu­men von großem Er­folg nach­hän­gend. Ver­lo­ren, vor­bei, al­les ver­lo­ren, al­les vor­bei! Ein­sam in der Zel­le, nur noch den na­hen, ge­wis­sen Tod vor sich, ohne Wort von Otto, viel­leicht nie wie­der sein Ge­sicht – al­lein zum Ster­ben, al­lein im Gra­be …

      Sie geht stun­den­lang in der Zel­le auf und ab, sie er­trägt es nicht. Sie hat ihre Ar­beit ver­ges­sen, die Bind­fa­den­knäu­el lie­gen noch im­mer ver­kno­tet und ver­wirrt auf der Erde, sie stößt sie mit dem Fuße fort, un­ge­dul­dig – und als die Wär­te­rin die Zel­le am Abend auf­schließt, ist nichts ge­tan. Es gibt har­te Wor­te, aber sie hört gar nicht hin, mö­gen die doch mit ihr ma­chen, was sie wol­len, mö­gen die sie doch schnell hin­rich­ten – umso bes­ser!

      »Passt auf, was ich euch sage«, sagt die Auf­se­he­rin ih­ren Kol­le­gin­nen. »Die fängt bald an zu spin­nen, hal­tet im­mer schon eine Tob­ja­cke be­reit. Und seht oft nach ihr rein, die ist im­stan­de und bau­melt sich am hel­ler­lich­ten Tage, im Handum­dre­hen bau­melt sie sich auf, und wir ha­ben nach­her die Sche­re­rei­en!«

      Aber dar­in hat die Auf­se­he­rin un­recht: an Auf­bau­meln denkt Anna Quan­gel nicht. Was sie am Le­ben er­hält, was selbst die­ses nie­de­re Da­sein ihr le­bens­wert er­schei­nen lässt, das ist der Ge­dan­ke an Otto. Sie kann doch nicht so von hier fort­ge­hen, sie muss war­ten, viel­leicht be­kommt sie eine Nach­richt von ihm, viel­leicht wird ihr so­gar er­laubt, ihn noch ein­mal vor ih­rem Tode wie­der­zu­se­hen.

      Und dann, ei­nes Ta­ges un­ter die­sen trü­ben Ta­gen, scheint das Glück ihr zu lä­cheln. Eine Wär­te­rin öff­net plötz­lich die Zel­len­tür: »Mit­kom­men, Quan­gel! Be­such!«

      Be­such? Wer soll mich hier be­su­chen? Ich habe doch kei­nen, der mich hier be­su­chen kann. Es wird Otto sein! Es muss Otto sein! Ich füh­le es, das ist Otto!

      Sie wirft einen Blick auf die Wär­te­rin, sie möch­te ihr so ger­ne die Fra­ge nach dem Be­su­cher stel­len, aber es ist ge­ra­de eine Wär­te­rin, mit der sie stän­dig Streit ge­habt hat, sie kann die­se Frau nicht fra­gen. Sie folgt ihr, am gan­zen Lei­be zit­ternd, sie sieht nichts, sie weiß nicht, wo­hin sie ge­hen, sie er­in­nert sich nicht mehr, dass sie bald ster­ben muss – sie weiß nur, sie geht zu Otto, zu dem ein­zi­gen Men­schen auf der gan­zen Welt …

      Die Wär­te­rin über­gibt die Ge­fan­ge­ne 76 ei­nem Wacht­meis­ter, sie wird in eine Stu­be ge­führt, die durch ein Git­ter in zwei Hälf­ten ge­teilt ist, auf der an­de­ren Sei­te des Git­ters steht ein Mann.

      Und alle Freu­de fällt von Anna Quan­gel ab, als sie die­sen Mann sieht. Es ist nicht Otto, es ist nur der alte Kam­mer­ge­richts­rat Fromm. Da steht das Männ­lein, sieht ihr ent­ge­gen mit sei­nen blau­en Au­gen, die von ei­nem Fält­chen­kranz um­ge­ben sind, und sagt: »Ich woll­te doch mal nach Ih­nen se­hen, Frau Quan­gel.«

      Der Auf­sichts­be­am­te hat sich ans Git­ter ge­stellt, er be­trach­tet nach­denk­lich die bei­den. Dann wen­det er sich ge­lang­weilt ab und geht ans Fens­ter.

      »Schnell!«, flüs­tert der Rat und hält ihr durchs Git­ter et­was hin.

      In­stink­tiv fasst sie zu.

      »Ste­cken Sie es weg!«, flüs­tert er.

      Und sie ver­birgt das wei­ße Röll­chen.

      Ein Brief von Otto, denkt sie, und ihr Herz klopft wie­der frei­er. Die Ent­täu­schung ist über­wun­den.

      Der Be­am­te hat sich wie­der um­ge­dreht und sieht vom Fens­ter her auf die bei­den.

      End­lich fin­det Anna ein paar Wor­te. Sie be­grüßt den Kam­mer­ge­richts­rat nicht, sie sagt kei­nen Dank, sie stellt die ein­zi­ge Fra­ge, die sie noch auf der Welt in­ter­es­siert: »Ha­ben Sie Otto ge­se­hen, Herr Kam­mer­ge­richts­rat?«

      Der alte Herr wiegt den klu­gen Kopf hin und her. »Nicht in der letz­ten Zeit«, ant­wor­tet er. »Aber ich habe durch Freun­de ge­hört,


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