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Ein­sei­tig­keit oder Ver­wil­de­rung zu be­kämp­fen, war Fried­rich Vi­scher, so­lan­ge er in Tü­bin­gen leb­te und lehr­te, be­müht, die Ver­le­gung der Uni­ver­si­tät in die Lan­des­haupt­stadt durch­zu­set­zen. Da­mit wäre frei­lich zu­gleich al­ler Reiz der Über­lie­fe­rung aus dem stu­den­ti­schen Le­ben ge­schwun­den. Er fand aber mit die­sem Lieb­lings­ge­dan­ken kei­nen An­klang und konn­te nur für sei­ne ei­ge­ne Per­son die Wahl tref­fen, in­dem er end­gül­tig das Stutt­gar­ter Po­ly­tech­ni­kum dem Tü­bin­ger Lehr­stuhl vor­zog und so die Uni­ver­si­tät ei­nes ih­rer größ­ten Na­men be­raub­te.

      Wie viel man ge­gen das alte Tü­bin­gen auf dem Her­zen ha­ben moch­te, die reiz­vol­le, wun­der­li­che Stadt mit dem küh­nen Pro­fil und der ent­zücken­den Lage hat es noch al­len an­ge­tan, die dort ge­we­sen. Und so oft ich spä­ter­hin aus Ita­li­en wie­der­kehr­te, ganz durch­tränkt von der Schön­heit des Sü­dens, wenn ich wie­der ein­mal auf dem »Schänz­le« stand und die Bli­cke von der la­chen­den Neckar­sei­te mit der fer­nen Alb in das schwer­mü­ti­ge Am­mer­tal wan­dern ließ, wo, wie ein­mal eine ge­fühl­vol­le Tü­bin­ge­rin zu Fried­rich Vi­scher sag­te, »das Herz sei­nen ver­lo­re­nen Schmerz wie­der­fin­det«, im­mer habe ich den Zau­ber mei­ner Ju­gend­stadt aufs neue ver­spürt.

      In­ner­halb des Tü­bin­ger Spieß­bür­ger­tums stand nun un­ser Haus wie eine ein­sa­me In­sel. Schon beim Ein­tritt hat­te un­se­re Mut­ter die üb­li­chen An­tritts­be­su­che un­ter­las­sen. Mein Va­ter war ei­gens ein paar Wo­chen frü­her ein­ge­rückt und hat­te al­les, was die Eti­ket­te vor­schreibt, er­le­digt, um ihr die­se Prü­fung nicht auf­zu­er­le­gen, denn er sah vor­aus, dass sie sich in ih­rer frei­en, der Zeit vor­an­ge­eil­ten Wel­t­an­schau­ung eben­so ab­ge­sto­ßen füh­len wür­de wie in ih­rer ari­sto­kra­ti­schen Emp­fin­dungs­wei­se, die mit der ul­tra­ra­di­ka­len Ge­sin­nung ganz gut zu­sam­men­ging. Er wuss­te auch, dass die Ab­sto­ßung ge­gen­sei­tig ge­we­sen wäre, denn es gab da­mals in Tü­bin­gen nur we­nig Frau­en, die das Zeug hat­ten, eine so un­ge­wöhn­li­che Na­tur wie mei­ne Mut­ter zu ver­ste­hen. Au­ßer­dem war bei ih­rem ganz auf die Fa­mi­lie be­schränk­ten Da­sein ihre Gar­de­ro­be nicht im bes­ten Stand, und jede Aus­ga­be für sich sel­ber ging ihr le­bens­lang ge­gen das Ge­wis­sen. Au­ßer mit der Wit­we Uh­land und mit den Töch­tern des al­ten Dich­ters Karl Mayer, der ihr feu­ri­ger Ver­eh­rer war, woll­te sie über­haupt kei­nen Frau­enum­gang. Es lässt sich den­ken, wel­chen An­stoß wir Kin­der, auf die bis­her fast nichts als die Na­tur und der Geist der El­tern ein­ge­wirkt hat­ten, jetzt in der Tü­bin­ger Um­welt er­reg­ten. Die »Hei­den­kin­der« nann­ten sie uns auch dort. Mei­ne Brü­der wur­den oft­mals auf dem Schul­we­ge von an­de­ren Jun­gen tät­lich an­ge­grif­fen, und es ent­spann sich dann eine ge­wal­ti­ge Schlä­ge­rei; die Hei­den stan­den zu­sam­men und wehr­ten sich mann­haft, wo­durch sie ih­ren Wi­der­sa­chern all­mäh­lich die Lust zu sol­chen Un­ter­neh­mun­gen ver­lei­de­ten. Mir aber, die ich al­lein und un­be­schützt war, er­reg­te es ein schmerz­li­ches Er­stau­nen, wenn mir mein un­ge­wöhn­li­cher Ruf­na­me in ei­ner häss­li­chen Ver­ket­ze­rung nach­ge­schri­en wur­de, oder wenn gar ein Stein aus dem Hin­ter­halt ge­flo­gen kam. Ich ging da­her als Kind nur sehr un­gern durch die Stra­ßen und trieb mich lie­ber in der Nähe un­se­rer da­ma­li­gen, au­ßer­halb der Stadt ge­le­ge­nen Woh­nung an den Stein­la­chu­fern oder auf dem großen Turn- und Schieß­platz um­her, in ein­sa­me Fan­tasi­en ver­spon­nen. Für alle Zeit bleibt mir ein Sonn­tag in die See­le ge­schrie­ben, an dem ich ganz al­lein eine For­schungs­rei­se in die Gô­ge­rei un­ter­nahm. Man hat­te mir mein schöns­tes wei­ßes Mull­kleid mit blau­er Gür­tel­schlei­fe an­ge­tan, in das lan­ge of­fe­ne Haar, auf des­sen Gold­far­be die Mut­ter so stolz war, hat­te sie mir ein blaus­ei­de­nes Band ge­schlun­gen, und so zog ich un­ter­neh­mend mei­nes We­ges. Als ich nun von der Lan­gen Gass’ in das seit­li­che Ge­win­kel ein­drang, flog mir ein klei­nes Gô­gen­kind mit Ju­bel­ge­schrei ent­ge­gen und woll­te in mei­ne Arme stür­zen, denn es sah mich au­gen­schein­lich in mei­nem Putz für einen Weih­nacht­sen­gel an. Da kam eine äl­te­re Schwes­ter aus dem Haus ge­rannt und riss ent­setzt die Klei­ne von mir weg. Erst als sie sich hin­ter ei­nem nie­de­ren Zaun ge­bor­gen sah, dreh­te sie sich noch ein­mal um und sag­te, mit dem Aus­druck tiefs­ten Grau­ens auf mich wei­send: So se­hen die Hei­den aus!

      Dies wa­ren die An­fän­ge von dem zwölf­jäh­ri­gen Krie­ge Phi­li­stä­as ge­gen ein klei­nes Mäd­chen. Und ich muss­te gute Mie­ne zum bö­sen Spiel ma­chen, sonst hät­te Mama mich noch ge­schol­ten oder aus­ge­lacht. Sie hat­te selbst in ih­rer Ju­gend sich über alle Mei­nun­gen und Vor­ur­tei­le der Men­schen weg­ge­setzt, um nach ih­ren selbs­t­er­wähl­ten Grund­sät­zen zu le­ben; ihre Toch­ter soll­te nicht schwä­cher sein als sie. Al­lein ihr war es hin­ge­gan­gen: sie war die in ih­rem Dor­fe ver­ehr­te Baro­nes­se ge­we­sen, die auch in ih­ren Krei­sen als die ers­te herrsch­te. Selbst als sie im Jah­re 48 zwi­schen sich und dem Stand, in dem sie ge­bo­ren war, das Tisch­tuch zer­schnitt, tru­gen ihr die Ju­gend­freun­de und Ver­eh­rer ihre Ab­kehr nicht nach, son­dern wahr­ten ihr, ob sie woll­te oder nicht, eine rit­ter­li­che An­häng­lich­keit; die Thumbs und Rant­zaus und wie sie hie­ßen, such­ten sie im­mer wie­der auf und lie­ßen ih­ren Ra­di­ka­lis­mus ru­hig über sich er­ge­hen. Auch ihre ent­fern­te­ren Ver­wand­ten – die na­hen wa­ren schon alle tot – hat­ten nicht mit ihr ge­bro­chen, son­dern sie mit ih­nen, weil ei­ner da­von, ein jun­ger Leut­nant, bei Nie­der­wer­fung des ba­di­schen Auf­stands im feu­da­len Über­mut einen ge­fan­ge­nen Freischär­ler an sein Pferd ge­bun­den hat­te. Sie ge­noss auch in Tü­bin­gen um ih­rer un­er­hör­ten tat­kräf­ti­gen Güte wil­len bald all­ge­mei­ne Ver­eh­rung. Als sie ein­mal bei ei­nem ge­fürch­te­ten jü­di­schen Geld­ver­lei­her zur Un­ter­stüt­zung ei­nes in Not ge­ra­te­nen Stu­den­ten die nö­ti­ge Sum­me in bar er­hob, weil die von ihr und Ot­ti­lie Wil­der­mut ge­sam­mel­ten Gel­der nicht schnell ge­nug flie­ßen woll­ten, da nahm der an­geb­li­che Shy­lock von der Er­staun­ten we­der Schein noch Zin­sen und bat sie, sich in ähn­li­chen Fäl­len nur im­mer wie­der an ihn zu wen­den. Ich weiß nicht, ob es aus blo­ßer Hochach­tung für ihre Per­son ge­sch­ah oder ob er wuss­te, dass sie in ih­rer Rit­ter­lich­keit stets be­reit war, ge­gen die an den jü­di­schen Mit­bür­gern ver­üb­te Un­bill mit all ih­rem Feu­er zu Fel­de zu zie­hen. Sie be­saß eine un­ge­heu­re Macht über die Ge­mü­ter, wie es nur ei­nem Men­schen ge­ge­ben ist, der gar nichts für sich sel­ber be­darf. Denn er al­lein ist der ganz Star­ke; die Ge­nie­ßen­den und Be­dür­fen­den sind im­mer die Schwä­che­ren.

      Aber das klei­ne Mäd­chen, das an ih­rer Sei­te auf­wuchs, ge­noss nicht die­sel­ben Vor­tei­le. Ich hat­te kei­nen Um­gang als die Brü­der, zur Schu­le wur­de ich nicht ge­schickt, und bei Mai­en­fes­ten hat­te ich wie in Kirch­heim das Zu­se­hen. Da­bei er­füll­te mich doch der glü­hen­de Wunsch, auch ein­mal da­bei zu sein, dazu zu ge­hö­ren. Nur ein­mal un­ter den Schul­kin­dern mit­spie­len zu dür­fen, es hät­te mich se­lig ge­macht! Aber wenn ich je mit an­de­ren Mäd­chen zu­sam­men­ge­bracht wur­de, so merk­te ich bald, dass ich ih­nen un­heim­lich war, und auch ich wuss­te nichts mit ih­nen an­zu­fan­gen, denn statt mich »da­bei sein« zu las­sen, um­stan­den sie mich neu­gie­rig und forsch­ten mich aus: ob es wahr sei, dass ich das La­tei­ni­sche


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