Mein erster Aufenthalt in Marokko und Reise südlich vom Atlas durch die Oasen Draa und Tafilet. Gerhard Rohlfs
Читать онлайн книгу.ein falsches Urtheil voller Vorurtheile abgeben; eben so wenig genügt es, die Religion, über welche ein Urtheil abgegeben werden soll, zur eigenen zu machen (obschon, um in das Wesen derselben einzudringen, dies vollkommen nothwendig ist), sondern muss nachdem das geschehen, wieder heraustreten, um für die Kritik ohne Fessel dazustehen.
In allen Ländern ist die Religion der Grund des moralischen Volkszustandes, und derjenige, welcher Länder durchforscht und in das Leben des Volkes der Länder eindringen will, muss daher vor allem sich angelegen sein lassen, die Religion des Landes einer eingehenden Betrachtung zu unterwerfen.
Von den drei für semitische Völker gemachten Religionen hat keine so gewirkt, das freie Denken, die bewusste Vernunft einzuschränken, wie der Islam. Und rechnen wir die Inquisitionszeiten, die Verbrennungen der Hexenprocesse ab, hat keine der semitischen Religionen so viele Menschenopfer gekostet, als die mohammedanische. Auch ihr ist ureigen, unter der Firma der Nächstenliebe, unter der Maske religiöser Heuchelei jede Freiheit des Gedankens als Sünde hinzustellen; ihr ist ureigen, nur die eigene Anschauung des Propheten oder Macher der Religion als allein wahr hinzustellen und den Glauben zum unumstösslichen Gesetz erhoben zu haben.
Der Grund der mohammedanischen Religion liegt in dem Satze: "Es giebt nur Einen Gott und Mohammed ist sein Gesandter." Wir sehen hier ausdrücklich, dass, wie in den anderen beiden semitischen Religionen, die Einheit Gottes vor allen Dingen betont wird, aber ohne den Glauben, dass Mohammed "Gesandter"32 Gottes ist, gilt die ganze Lehre nichts.
[Fußnote 32: Gesandter ist wohl zu unterscheiden von Prophet, deren die Mohammedaner viele anerkennen, ein Prophet aber wie Moses oder Jesus bekommt nie den Beinamen "Gesandter".]
Mohammed, von einem als Beduinen gekleideten Engel gefragt: "worin besteht das Wesen des Islam?"—antwortete: "zu bezeugen, es giebt nur einen Gott und ich bin sein Gesandter; die Stunden des Gebets innehalten, Almosen geben, den Monat Ramadhan beobachten, und wenn man es kann, nach Mekka pilgern."—"Das ist es," erwiederte der Engel Gabriel, indem er sich zu erkennen gab.
Mit der christlichen Religion hat die mohammedanische das gemein, dass sie die unbedingteste Herrschaft über alle Menschen anstrebt, wenn aber jene Herrschaft der christlichen Kirche erst im Mittelalter verloren ging durch die Reformation oder Revolution eines Luther33, so sehen wir in der mohammedanischen Kirche schon 755 ein Schisma. Es bildet sich nach der Verlegung des Kalifats von Damaskus nach Bagdad ein eigenes vollkommen unabhängiges westliches Kalifat, welches im Anfange in Cordova seinen Sitz hatte. Ausser den vielen anderen Religionssecten und Parteien, welche dann den Islam spalteten, wir erwähnen nur der Kharegisten, der Kadarienser, der Asarakiten, der Safriensen, sind in der rechtgläubigen mohammedanischen Welt heute diese beiden Kalifate noch zu erkennen.
[Fußnote 33: Die krankhafte Anstrengung des Papstthums, diese Herrschaft bei den Katholiken jetzt wieder herzustellen, darf, wenigstens was die germanischen Völker anbetrifft, als verfehlt and zu spät angesehen werden.]
Der Sultan der Türkei erkennt sich als den rechtmässigen Nachfolger des Kalifats von Bagdad und Damaskus, und da dies Kalifat überhaupt nie als gleichberechtigt bestehend das westliche Kalifat von Spanien und den Maghreb anerkannt hat, so glaubt er der Alleinherrscher aller Mohammedaner zu sein. Es versteht sich von selbst, dass eben so wenig wie Protestanten, Griechen und andere christliche Bekenner von Rom für rechtmässige Christen gehalten werden, auch die übrigen Bekenner des Islam, die Schiiten, Aliden, Choms, für rechtgläubige Mohammedaner angesehen werden.
Der Sultan von Marokko als Nachfolger des Kalifats von Cordova erkennt aber keineswegs die Oberherrschaft des Sultans der Türkei an, und eben so wie die Kalifen von Spanien ihre Unabhängigkeit von den Abassiden aufrecht zu erhalten wussten, hat nie irgend ein marokkanischer Herrscher des Sultans der Türkei Oberherrlichkeit anerkannt. Im Gegentheil, die jetzige Dynastie der Kaiser von Marokko, die sogenannte zweite Dynastie der Schürfa, proclamirt laut und feierlich, dass sie die allein rechtmässigen Herrscher aller Gläubigen seien, eben weil sie Abkömmlinge Mohammeds sind. Der Sultan von Marokko betrachtet den Sultan von Constantinopel als einen Usurpator, der nicht einmal arabisches Blut, geschweige das "unseres gnädigen Herrn Mohammed" in seinen Adern habe.
Der echte Marokkaner, wenn er auch das arabische Volk als das bevorzugte, das von Gott auserwählte und besonders beschützte betrachtet, erkennt keineswegs Nationen an. Für ihn giebt es nur Mohammedaner, oder wie er selbst in römischer Ueberhebung sagt, "Rechtgläubige Moslemin", Juden, Christen und Ungläubige. Zu den letzteren rechnet er alle solche, die kein "Buch", d. h. die keine göttliche Offenbarung bekommen haben.
Da nun aber von solchen, die ein "Buch" haben, im Koran nur die Juden und Christen erwähnt sind, so werden die Wedas der Inder, die Kings (Bücher des Confucius) der Chinesen und andere als nicht vorhanden betrachtet, und in Marokko gar hat man die Vorstellung, dass die durch "Tausend und eine Nacht" bekannten Länder Hind (Indien) und Sind (China) ausschliesslich den Islam bekennen.
Von den vier rechtmässigen und gleichberechtigten Bekennern des Islam, den Hanbaliten, Schaffëiten, Hanefiten und Malekiten, huldigen die Marokkaner wie in Afrika alle Mohammedaner mit Ausnahme der Aegypter, dem malekitischen Systeme. Für diejenigen, welche weniger mit dem Mohammedanismus bekannt sind, führe ich hier an, dass man schon gleich nach dem Tode des Propheten einzusehen angefangen hatte, dass der Koran unmöglich allein allen religiösen Anforderungen, allen Rechtsfragen entsprechen konnte. Im Anfange der mohammedanischen Religion begnügte man sich damit, zweifelhafte Fälle durch Mohammed selbst oder seine Jünger entscheiden zu lassen. Nach des Propheten Tode, nach dem seiner Jünger, sammelte man dann die mündlichen Ueberlieferungen; es ist das die Sunnah, welche im ersten Jahrhundert nach der Hedjra entstand.
Da nun aber noch keineswegs Koran und Sunnah ein regelmässiges System boten, so fühlte man die Notwendigkeit, für Theologie und Jurisprudenz einen solchen festen Anhalt zu bilden, und vier Schriftgelehrte unternahmen diese Arbeit. Jeder lieferte eine Abhandlung über die religiösen Ceremonien, über die Grundsätze, wonach der Moslim sein häusliches Leben einzurichten hat, und sie sonderten die Scheria, d. h. das von Gott selbst gegebene unabänderliche Gesetz, von dem, welches nach dem Willen und Gutdünken der Menschen abgeändert werden kann. Die Abhandlungen dieser vier Schriftgelehrten, obschon sie in vielen äusserlichen Sachen von einander abwichen, wurden alle als orthodox anerkannt und sie bekamen den Namen nach ihren Urhebern.
Der Malekitische Ritus nun (Malek ben Anas wurde 712 in Medina geboren, woselbst er 795 starb) verdrängte im Westen von Afrika gegen das Ende des achten Jahrhunderts den Hanefitischen Ritus, und dieser hat sich dort bis auf unsere Zeit erhalten. Neben Malek und hauptsächlich als bester Erklärer der Malekitischen Schriften gilt das Werk von Chalil ben Ischak ben Jacob, der 1422 starb, und aus einer Menge anderer Schriften über Malekitischen Ritus seine Werke zusammengesetzt hat. Sehr hoch gehalten werden in Marokko auch die Schriften des Buchari, der 200 Jahre nach Mohammeds Tode schon die Ueberlieferungen sichtete und von 7275 für wahr gehaltenen und 2000 zweifelhaften mehr als über 2000 falsche ausstiess.
Der Unterschied der Malekiten von den übrigen drei rechtgläubigen Parteien beruht nur auf Aeusserlichkeiten, so namentlich in der Verrichtung bei den Ablutionen, in den Bewegungen beim Gebet, endlich hat Malek vor seinen gelehrten Collegen den Vorzug, dass er denen, die seine Religionsregeln befolgen, entschiedene Erleichterungen gewährt.
Das Sultanat von Marokko als solches wurde gegründet nach dem Untergange des Königreichs von Granada am 2. Januar 1492, als Ferdinand auf der Alhambra die Fahne von Castilien und des heiligen Jacob aufziehen konnte. Das westliche Kalifat war nun begraben, aber als Erben desselben betrachteten sich von dem Augenblicke an die Sultane von Marokko. Wenn dann noch später bis zur eigentlichen Vertreibung der Mohammedaner aus Spanien ein inniger Zusammenhang mit den afrikanischen Glaubensgenossen blieb, so hatte doch jeder politische Zusammenhang, wie früher schon oft, seit 1492 gänzlich zu existiren aufgehört. Marokko selbst hatte auch freilich nicht die Grenzen, welche es jezt [jetzt] inne hat, seine Ausdehnung wechselte je nach der Macht der regierenden