Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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      »Die Pflicht des Führerrates ist es, die Gefühle des Volkes zu lenken, nicht aber sich von ihnen lenken zu lassen!«

      Hrand Oskanian nickte mit entsagender Kassandramiene:

      »Ihr werdet an meine Worte noch zurückdenken ...«

      Ter Haigasun hielt die Augen wieder gesenkt. Seine Stimme war sehr ruhig:

      »Ich würde dir dringend raten, Lehrer Oskanian, nicht uns, sondern dich selbst zu warnen.«

      In unerquicklichster Stimmung mußte man endlose Zeit auf die Rückkehr der Gesandten warten. Der kranke Apotheker kam noch früher als der Arzt. Er war völlig erschöpft und mußte sich stöhnend auf Ter Haigasuns Diwan ausstrecken. Erst als ihn der Priester mit zwei tiefen Zügen aus einer Rakiflasche gelabt hatte, fand er die Kraft, zu berichten. Gonzague Maris hatte ihm seine Mission dadurch erleichtert, daß er auch ohne feierliche Aufforderung längst schon bereit war, den armenischen Berg in dieser Nacht zu verlassen. Er würde mit dem Aufbruch nur bis zu einer verabredeten Stunde warten, um seiner Geliebten die Möglichkeit zu geben, sich zu retten. Der Apotheker konnte nicht umhin, die vornehme Haltung seines Gastfreundes zu loben, der ihm nicht nur alles Gedruckte, was er besaß, zum Geschenk gemacht, sondern überdies noch versprochen hatte, wohin immer er auch komme, für die Verfolgten des Musa Dagh wirksam zu sein. Dieses Versprechen des Sünders aber lehnte Ter Haigasun mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Es war schon Abend geworden, ehe der andre Botschafter, Bedros Hekim, in die Pfarrhütte trat. Auch er ließ sich erschöpft niederfallen und rieb stöhnend seine krummen und verbrauchten Beine. Wortlos starrte der Alte vor sich hin, und Ter Haigasun hatte Mühe, ihn zum Reden zu bringen. Vorerst aber war das Ergebnis nicht sehr befriedigend, denn der Arzt bewegte nur brummend die Lippen, und seine schartige Stimme war kaum zu hören.

      »Die arme Frau ...«

      Diese drei Worte setzten den Muchtar Kebussjan in nicht geringes Erstaunen. Seiner eifernden Gattin eingedenk, geriet der spiegelnde Glatzkopf ins Schlingern:

      »Was heißt das? Warum ist sie eine arme Frau, diese Reiche?«

      Bedros Hekim musterte den Muchtar mit menschenfresserischen Blicken:

      »Warum? Weil sie seit mindestens drei Tagen hoch fiebert. Weil sie bewußtlos ist. Weil sie wohl sterben wird. Weil ihr niemand helfen kann. Weil sie sich im Lazarettschuppen angesteckt hat. Weil sie mir leid tut. Weil nicht sie, der Teufel soll mich holen, sondern die Krankheit schuld ist. Weil ...«

      Er schnappte ab und versank wieder in sich. Wie konnte er, ein ungelehrter Hekim, der nur fünf Jahre lang an der Wissenschaft gerochen hatte, diesen Bauern Erkenntnisahnungen begreiflich machen, die er selbst nicht verstand? Er seufzte tief auf. Lauter Nuniks, Wartuks, Manuschaks ringsumher! Und er selbst samt seinem verpfuschten Leben und dem toten Handbuch für Mediziner nichts Besseres.

      Den letzten Teil des Weges hatte Gabriel seine Frau halb geschleppt und halb getragen. Im Zelte angekommen, fiel sie aufs Bett, mit verdrehten Augen, bewußtlos. Er versuchte, sie ins Leben zurückzurufen. Was er auf dem kleinen Spiegeltisch an alkoholischen Wässern – traurig bewahrten und gesparten Resten – in die Hand bekam, schüttete er ihr auf Stirn und Lippen. Er rieb ihr Gesicht, er rüttelte ihren Körper auf. Vergeblich! Die glückliche Seele verbarg sich in der fernsten Landschaft ihrer Selbstvergessenheit. Das Fieber hatte tagelang in Juliettens Blut geschwelt. In der letzten Stunde aber mußte es hochgeschossen sein wie eine tropische Zauberpflanze. Die Haut war rauh und rot. Wie verbrannte Erde hatte sie jeden Tropfen Feuchtigkeit in sich gesaugt. Der Atem ging immer rascher und kürzer. Dieses Leben schien unwiderruflich seinem Ende entgegenzurasen.

      Da er sie nicht wecken konnte, beugte sich Gabriel über Juliette und begann sie zu entkleiden, um durch diese Erleichterung die Ohnmacht zu bannen. Er hantierte mit männlicher Ungeschicklichkeit. Dabei zerriß er Kleid und Wäsche. Dann ließ er sich auf dem Fußende des Bettes nieder und nahm ihre Beine auf den Schoß. Sie waren so schwer und geschwollen, daß er Schuhe und Strümpfe kaum von den Füßen bekam. Er bedachte es gar nicht, daß kein einziges jener Gefühle ihn erfüllte, die ein solches Erlebnis zu erwecken pflegt. Weder der schneidende Schmerz des gekränkten Selbstgefühls noch die Vorstellung, daß diese kranken Glieder vor kaum einer Stunde einem fremden Mann gehört hatten, noch auch das eisstarre Bewußtsein, die treue Bindung eines ganzen Lebens sei nun zerrissen für immer. Auf dem Grunde seiner eigenen Betäubung wohnte nur Kummer, und zwar Kummer um Juliette. Gabriel wunderte sich nicht. Ihm war's, als habe er dieses Schicksal selbst begünstigt. So unglaubwürdig dies auch klingen mag, erst Juliettens Betrug und ihr Zusammenbruch brachten ihm die längst Entfremdete wieder näher. Erst jetzt, da dieser arme Leib ihn bis an die Grenze feindseligster Wollust verlassen hatte, erinnerte er sich wehmütig seiner. Voll ängstlicher Hingabe zerrten und nestelten seine unbeholfenen Finger an den Kleidungsstücken, die so strengen Widerstand leisteten. Dann starrte er regungslos auf den großen weißen Leib, während hundert Empfindungen und Gedanken aufschossen und unausgebildet in nichts zergingen. Was war geschehen? Im Zeltwinkel sah er den Eimer voll frischen Wassers, der dort immer stand. Er tauchte Handtücher ein, um der Kranken Wickel anzulegen. Dies war kein einfaches Werk. Der Körper lag steif, und er vermochte ihn kaum aufzuheben. Gabriel dachte daran, eines von Juliettens Mädchen zu rufen, die übrigens seit der Verwirrung ihrer Herrin und der Hinfälligkeit aller Entlohnung nur mehr unregelmäßig zum Dienst kamen. Scham vertrieb diesen Einfall. Nur allein sein jetzt!

      Als der alte Arzt eintraf, fand er Gabriel Bagradian mit verlorenen Augen über die Ohnmächtige gebeugt. Bedros Hekims erster Blick zweifelte, ob es sich nicht um eine halb gespielte Ohnmacht handle, in die sich die Sünderin geflüchtet habe. Sein zweiter Blick belehrte ihn über das schwere Fieber. Es war das allgemeine Krankheitsbild der Epidemie, dieser plötzliche Anstieg der Temperatur und diese jähe Bewußtlosigkeit, die nach einem längeren, oft kaum beachteten Unwohlsein aufzutreten pflegte. Er hob den Oberkörper der Kranken hoch. Sofort zeigten sich Atembeschwerden und Brechreiz. Es war klar. Als er aber die Haut unter der Brust und am Gürtel untersuchte, wo der Ausschlag sich meist zuerst bemerkbar machte, fand er nichts als drei, vier kleine rote Punkte. Der Arzt wollte Gabriel Bagradian bitten, das Zelt sogleich zu verlassen und es nicht mehr zu betreten. Als er aber Gabriels verschleierte Augen sah, die sich tief in die Höhlen verkrochen hatten, sagte er nichts. Er unterließ es auch, sich seines Auftrages zu entledigen und von der moralischen Unruhe in der Stadtmulde zu berichten. Hingegen bat er um die Hausapotheke, die sich Juliette noch vor ihrer Abreise in den Orient hatte zusammenstellen lassen. In der umfänglichen Kassette fand sich nur mehr ein Rest der einstigen Fülle. Juliette hatte sie mit eigener Hand zugunsten des Lazarettschuppens ausgeraubt. Immerhin war ein flüssiges Herzbelebungsmittel noch vorhanden. Der Alte drückte das Fläschchen dem ganz und gar benommenen Gabriel in die Hand. Dies sei für den Fall, daß der Puls erlahme. Im übrigen werde seine Frau die Pflege morgen schon einteilen. Gabriel möge dem verlorenen oder getrübten Bewußtsein der Kranken keine große Bedeutung beimessen. Es sei eine Folge des Fiebers und müsse ja unter den gegenwärtigen Umständen ein Segen genannt werden. Jetzt stehe die Waage zwischen Tod und Leben gleich. Dieser Zustand halte erfahrungsgemäß mehrere Tage an. Die größte Lebensgefahr trete erst nach überwundener Vergiftung ein, wenn das Fieber jäh hinunterstürze und in manchen Fällen das Herz dann mitnehme. Bedros Hekim schöpfte aus dem Eimer ein Wasserglas voll, suchte einen Löffel und flößte mit geübter Hand der Fiebernden einige Tropfen zwischen die Lippen. Diese kleine ärztliche Geste schon strafte Altounis Selbstmißtrauen Lügen, das ihn als nichtskönnenden zitterhändigen Pfuscher traktierte:

      »Sie muß immer wieder zu trinken haben«, belehrte er Gabriel, »auch wenn sie nicht zu sich kommt.« Juliettens Gatte nickte nur, ohne diese Weisung durch Worte zu bestätigen. Der Arzt sah sich suchend in dem kleinen Raume um: »Jemand muß bei ihr wachen!« Da es schon ziemlich dunkel war, zündete er die Petroleumlampe an. Dann nahm er Bagradians Hand in die seine:

      »Das wäre etwas, wenn die Türken in dieser Nacht über uns kämen!«

      Gabriel Bagradian versuchte zu lächeln:

      »Wir haben den Berg angezündet. Die Türken kommen in dieser Nacht nicht über uns.«

      »So«, meinte Bedros Hekim, und seine schartige Stimme klang recht enttäuscht:


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