Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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Zeit Beschwerden, Anzeigen und Bitten entgegennehmen, Abhilfe schaffen und den Befehl für den nächsten Tag ausgeben. Damit war die soldatische Organisation im großen und ganzen geschaffen. Nun kam es nur auf Willigkeit und männlichen Eifer an, sie auch in Gang zu bringen. Gabriel Bagradian besprach noch einmal an Hand der Karte die Einteilung der dreizehn Verteidigungsabschnitte. Von diesen erforderten nur drei eine größere Besatzung, die übrigen zehn bedeuteten lediglich stärkere Wachposten, für die jeweils eine oder gar nur eine halbe Zehnerschaft völlig genügte. Dagegen bestimmte Gabriel allein für die Gräben und Felsbarrikaden des Nordsattels eine Grundbesatzung von vierzig Zehnerschaften mit zweihundert guten Gewehren. Den Befehl über diesen wichtigen Abschnitt übernahm er selbst. Sein nächster Stellvertreter war Tschausch Nurhan, dem zugleich auch der Befehl über die Stellung oberhalb der Steineichenschlucht sowie die Inspektion der gesamten Wehrmacht übertragen wurde. Zu dieser Würde gehörte vor allem die Sorge für die Erneuerung der Munition und Instandhaltung der Waffen. Der unschätzbare Tschausch Nurhan, der an zehn Orten zugleich sein konnte, hatte übrigens schon alles für eine Werkstatt zur Patronenerzeugung vorbereitet. Das nötige Material und Werkzeug war aus seinem geheimnisvollen Betrieb in Yoghonoluk auf den Berg gewandert. Es blieb demnach nur mehr die Kommandofrage der Südbastion zu lösen. Die Besatzung dieses entferntesten Abschnittes umfaßte fünfzehn Zehnerschaften. Aus den bekannten Gründen waren die echten und unechten Deserteure auf diese Streitmacht aufgeteilt, die für den starken festungsartigen Punkt als überaus hoch bezeichnet werden muß. Vorläufig hatte den Befehl dort ein gedienter Mann aus dem Dorfe Kheder Beg inne. Bagradian aber verfolgte eine bestimmte Absicht. Sarkis Kilikian war ja ein tapferer Soldat mit den lebendigsten Erfahrungen aus dem Kaukasusfeldzug. Außerdem besaß er Bildung und Intelligenz. Er hatte durch die Türken Namenloses erlebt, und wenn es in ihm noch so etwas wie Seele gab, so mußte sie vor einem nicht mehr menschlichen Rachedurst vergehen. Die Absicht Gabriels bestand darin, eine kleine Zeit lang Kilikians Wohlverhalten scharf zu beobachten und ihm, sollte dieses seinen Erwartungen entsprechen, das Kommando der Südbastion zu übertragen. Durch diesen Schachzug hoffte Bagradian nicht nur eine wertvolle Kraft frei zu machen, sondern auch die anderen Deserteure, unzuverlässige Leute, fest in die Hand zu bekommen. Er hatte deshalb den Russen nach dem Abmarsch der Zehnerschaften zurückbehalten. Kilikian betrachtete Gabriel die ganze Zeit über mit einer unbeugsamen Teilnahmslosigkeit, die zu gelangweilt war, um impertinent zu sein. Der durch Ölsklaverei, Gefängnisse und tausend schreckliche Abenteuer ausgemergelte Mensch mit seinem jugendlichen Totenkopf, der gegerbten Gesichtshaut, in erdige Fetzen gekleidet, bot trotz alledem einen nervigen, ja imposanten Anblick. Während er Gabriel Bagradian nicht aus seinen hellen, verächtlich beobachtenden Augen ließ, spürte er vielleicht, daß sich etwas in diesem wohlgepflegten und verwöhnten Herrn vor ihm beuge. Vielleicht hielt er für einfache Furcht, was die Ehrfurcht vor seinem unfaßbaren Schicksal und der Kraft war, die es überlebt hatte. Aber gerade die Ahnung eines Furchtgefühls zusammen mit dem Anblick des feingewandeten Mannes, der in seinem ganzen Leben niemals auch nur eine Minute Grauen, Entbehrung, Entehrung erlebt haben konnte, reizte das Böse in Kilikian auf. Bagradian rief ihm in scharfem Befehlston zu:

      »Sarkis Kilikian! Melde dich in zwei Stunden bei mir in der Nordstellung. Ich werde dir eine Arbeit geben.«

      Die Augen des Russen, die sich noch immer nicht von Gabriel abwandten, nahmen den stumpfen Glanz von Achat an. Er lachte schleppend:

      »Vielleicht komme ich, vielleicht komme ich auch nicht. Ich weiß wirklich noch nicht, wozu ich Lust haben werde.«

      Gabriel Bagradian wußte, daß von seiner Antwort alles abhing, daß er sich jetzt seinen Rang sichern mußte, daß seine Autorität für immer dahin war, wenn er in diesem Augenblick den Ton verfehlte und den kürzeren zog. Alles horchte gespannt. Manche verborgene Schadenfreude glomm auf. Gabriel hatte sich eine eigene Uniform aus einem noch kaum getragenen Jagdanzug seines Bruders Awetis zurechtgemacht. Er trug dazu gelbe Ledergamaschen und einen Tropenhut. Diesen setzte er auf, als er nun mit nachdenklich wiegendem Schritt auf den Russen zuging. Der Tropenhelm machte ihn noch um einen halben Kopf größer, als er schon war. Er schlug mit seinem Stock gegen die Gamaschen und trat so unabwendbar dicht an Kilikian heran, daß dieser ein Schrittchen zurückweichen mußte:

      »Hör mich, Sarkis Kilikian, und tu deinen Schädel gut auf!«

      Bagradian unterbrach sich eine Sekunde lang. Er hörte, daß seine Stimme nicht ganz ruhig war. Stark klopfte sein Herz. Diese Erregung war eine Chance, die er seinem Gegner gab. Er wartete deshalb, des Russen Blick nicht auslassend, bis sich sein ganzes Wesen bis zum Rand mit klarem und kaltem Willen angefüllt hatte:

      »Ich selbst gebe dir das Recht, Kilikian, das zu tun, wozu du Lust hast. Ehe ich dir aber den Rücken kehre, mußt du dich entschieden haben ... Du bist frei, du kannst zum Teufel gehen, niemand hält dich, Leute wie deinesgleichen brauchen wir am allerwenigsten ...«

      Gabriel machte eine Pause, als erwarte er, Sarkis Kilikian werde dieser Aufforderung sofort nachkommen und in seiner höhnisch langsamen Art davonschlendern, ohne sich ein einziges Mal mehr nach dem Volk des Damlajik umzusehen. Der Russe jedoch wurzelte auf seinem Platz. In den toten Steinglanz seiner Augen verirrte sich ein neugieriger Schimmer. Bagradians Stimme nahm ein kühles Bedauern an:

      »Ich habe vorgehabt, dich, Kilikian, der du Soldat gewesen bist, durch eine Führerstelle vor den anderen auszuzeichnen, weil du von den Türken mehr erduldet hast als irgendeiner hier. Du hättest dich und deine Kameraden an ihnen blutig rächen dürfen ... Da du aber noch nicht weißt, ob du dazu Lust haben wirst, da du wirklich nur ein verlotterter feiger Deserteur bist, da du die Pflicht gegen dein Volk nicht anerkennst und vorhin einen Meineid des Gehorsams geschworen hast, so lauf und laß dich nie wieder hier blicken! Wir können einen Schmarotzer nicht brauchen, einen frechen Lumpen, der den Frauen und Kindern das Brot wegfrißt. Wenn du es aber wagst, dich noch einmal unter uns zu zeigen, so lasse ich dich erschießen! Geh zu den Türken hinüber! Ihre Kompanien werden bald hier sein. Sie warten schon auf dich!«

      Für einen Mann wie den Russen hätte es jetzt nur eine einzige Möglichkeit gegeben: sich auf diesen feinen Herrn, diesen »Kapitalisten«, zu stürzen und ihm die Faust in die Fresse zu schlagen. Sarkis Kilikian aber rührte sich nicht. Seine Augen verloren die starre Ruhe und forschten in der Männerrunde nach Parteigängern. Gabriel Bagradian ließ fünf Sekunden vorübergehen, die seine Macht wie eine Welle hochtrugen, dann schrie er den Mann unvermittelt mit schneidender Stimme an:

      »Ich sehe, du hast dich entschieden. Also, marsch! Verschwinde!«

      Es war sonderbar, wie diese peitschensausenden Laute den Russen sofort in einen alten Sträfling verwandelten. Er duckte den Kopf zwischen die Schultern und lauerte von unten an dem Gegner empor, der ihn hoffnungslos überragte. Die ganze Schwäche Kilikians aber lag in der Geistesklarheit, mit der er seine Lage beurteilte. Er spürte genau, daß er einen ekelerregenden minderwertigen Augenblick erlebte, denn alle Gewalttätigkeit hängt davon ab, daß der trunkene Haßgeist nicht durch Vorausberechnung der Folgen gebrochen ist. Kilikian aber wußte in diesem Sträflingsmoment, was er zu verlieren hatte. Seit vier Monaten schon lebte er auf dem Musa Dagh in sicherer Verborgenheit. Was er zum Leben brauchte, hatte er sich nachts in den Dörfern zusammengebettelt. Der Auszug des Volkes auf den Berg bedeutete für ihn eine ungeahnte Verbesserung seines Lebens. Wurde er aber aus dem Lager gestoßen, verschwand für ihn die letzte Möglichkeit, menschliche Nahrung zu finden. Im Tale durfte er sich hernach nicht mehr sehen lassen. Doch auch die umliegenden Berggebiete würden von den Türken im Handumdrehen besetzt sein. Der Tod, der ihn höhnischerweise so oft verschont hatte, konnte sich dann an ihm gütlich tun. Die Türken würden ihm mindestens das Fell vom Leibe schinden und jedes Glied gesondert ermorden. Dies alles war dem Russen im blitzhaften Bruchteil einer Sekunde bewußt, und weder sein Stolz, sein Haß noch sein Trotz kamen wider dieses Bewußtsein auf. Er versuchte noch einmal glucksend zu lachen. Doch es kam dabei nur ein beschämend kleinlauter Spott zustande. Gabriel Bagradian wich nicht um Haaresbreite:

      »Nun?! Was stehst du noch hier herum?«

      Sarkis Kilikians geduckter Sträflingskopf drehte sich zur Seite:

      »Ich will ...«

      »Was willst du?!«

      Der Russe schlug neue Augen auf, nicht mehr


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