Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


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bekannt, daß er zuweilen Zustände geistiger Verwirrung hat.

      Der arme junge Mann hat mächtige Feinde, aber selbst unter seinen zahlreichen Widersachern zweifelt kaum einer an seinen bewundernswerten Fähigkeiten und seinen gründlichen Kenntnissen. Sie haben über keinen Durchschnittsmenschen zu richten. Anderthalb Jahre haben wir ihn alle fromm, klug und fleißig gesehen. Allerdings hat er zwei-bis dreimal im Jahre Anfälle tiefen Schwermuts gehabt, die bis zum Wahnsinn gegangen sind. Die ganze Stadt Verrières, alle unsre Nachbarn in Vergy, wo wir mit unserm ganzen Haushalt die Sommermonate zu verbringen pflegen, auch der Herr Landrat, alle werden Herrn Sorels musterhafte Frömmigkeit anerkennen. Er kann die ganze Bibel auswendig. Würde sich ein Gottloser der jahrelangen Arbeit widmen, die Heilige Schrift auswendig zu lernen?

      Meine Söhne werden die Ehre haben, Ihnen diesen Brief zu überbringen. Es sind Kinder. Wollen Sie sie gütigst befragen. Sie werden Ihnen über ihren unglücklichen ehemaligen Hauslehrer genügend Einzelheiten berichten, um Sie davon zu überzeugen, daß es unmenschlich wäre, wenn man ihn verurteilte. Statt mir eine Sühne zu verschaffen, brächte mir das vielmehr den Tod.

      Was können seine Feinde gegen diese Tatsachen vorbringen? Meine Verwundung? Die ist mir in momentaner Geistesgestörtheit beigebracht! Sie ist so belanglos, daß ich, kaum acht Wochen darauf, bereits wieder imstande wäre, mit der Post von Verrières nach Besançon zu reisen. Nur der Wunsch meines Mannes hält mich noch auf dem Krankenlager zurück…«

      71. Kapitel

      Endlich brach der von Frau von Rênal und Mathilde so gefürchtete Tag der Hauptverhandlung wider Julian Sorel an. Die sichtliche Erregtheit der Stadt verdoppelte ihre Schreckensangst und ließ selbst Fouqués starkes Herz nicht unbewegt. Aus der weitesten Umgegend strömten die Leute in Scharen nach Besançon herein, um dem Urteil über das romantische Verbrechen beizuwohnen. In den Gasthöfen war schon seit mehreren Tagen keine Unterkunft mehr zu finden. Der Vorsitzende des Schwurgerichts wurde mit Gesuchen um Zutrittskarten bestürmt. Besonders bettelten die Besançoner Damen darum. In den Straßen wurde Julians Bild feilgeboten.

      Mathilde hatte als ultima ratio ein Handschreiben des Bischofs von *** in die Waagschale geworfen. Der Kirchenfürst, der den Klerus von Frankreich in seiner Gewalt hatte, geruhte Julians Freisprechung zu befürworten. Am Tag zuvor hatte Mathilde dieses Schriftstück dem einflußreichen Großvikar von Frilair übergeben. Als sie sich am Ende ihrer Unterredung unter Tränen von ihm verabschiedete, sagte Frilair, endlich aus seiner diplomatischen Zurückhaltung heraustretend und selber beinahe gerührt, zu ihr: »Ich verbürge mich für das Urteil des Schwurgerichts. Unter den zwölf Mitgliedern, denen es obliegt, festzustellen, ob die Tat Ihres Schützlings erwiesen und vor allem, ob sie mit Vorbedacht geschehen ist, zähle ich sechs zuverlässige Freunde, denen ich zu verstehen gegeben habe, daß es jetzt von ihnen abhängt, ob ich je Bischof werde. Weiterhin verfügt der Baron Valenod, der durch mich Bürgermeister von Verrières geworden ist, todsicher über zwei seiner Untergebenen, die Herren von Moirod und von Cholin. Dafür hat uns das Los zwei sehr üble Geschworene beschert. Aber, wenngleich sie radikal-liberal sind, so sind sie doch in wichtigen Dingen auf meiner Seite. Ich habe sie bitten lassen, sich Herrn von Valenods Stimme anzuschließen. Wie ich ferner in Erfahrung gebracht habe, trachtet einer der übrigen Geschworenen, der Fabrikbesitzer N***, ein schwerreicher Mann, ein liberaler Schwätzer, insgeheim darnach, Lieferungen für das Kriegsministerium zu bekommen. Mein Mißfallen wird er sich auf keinen Fall zuziehen wollen. Auch ihm habe ich sagen lassen, er solle sich nach Herrn von Valenod richten.«

      »Wer ist eigentlich dieser Herr Valenod?« fragte Mathilde beunruhigt.

      »Wenn Sie ihn kennten, würden Sie am guten Ausgange der Sache nicht zweifeln. Das ist ein frecher, rücksichtsloser, grober Scharlatan, wie geschaffen dazu, eine Hammelherde zu leiten. Er ist mit dem Jahre 1814 hochgekommen. Ich werde ihm zum Landrat weiterhelfen. Er ist imstande, jeden seiner Mitgeschworenen zu verhauen, wenn er nicht so stimmt, wie er es will.«

      Mathilde beruhigte sich ein wenig.

      Am Abend hatte sie eine Unterredung mit Julian. Um eine ihm widerliche Groteske, deren Ausgang für ihn feststand, nicht noch in die Länge zu ziehen, war er entschlossen, das Wort zu seiner Verteidigung nicht zu ergreifen.

      »Mein Anwalt wird reden«, erklärte er Mathilde. »Ich werde schon allzulange den Blicken meiner Feinde ausgesetzt sein. Die Kleinstädter gönnen mir die rasche Karriere nicht, die ich durch euch gemacht habe. Es ist auch nicht einer darunter, dem meine Verurteilung keine Genugtuung bereitete. Hinterher freilich, wenn ich zum Tode geführt werde, heulen sie alle miteinander wie die alten Weiber.«

      »Sie wollen dich gedemütigt sehen. Das ist nicht zu leugnen«, meinte Mathilde. »Aber trotzdem glaube ich nicht, daß sie Unmenschen sind. Meine Anwesenheit hier in Besançon und der Anblick meines Leids hat alle Frauen mit Teilnahme erfüllt. Dein hübsches Gesicht tut das übrige. Wenn du dich vor dem Schwurgericht selber verteidigst, hast du die ganze Hörerschaft auf deiner Seite…«

      Als Julian früh um neun Uhr das Gefängnis verließ, um nach dem Hauptsaal des Justizpalastes zu gehen, vermochten die Schutzleute die ungeheure, sich im Hofe drängende Menge der Neugierigen kaum im Zaum zu halten.

      Julian hatte gut geschlafen. Er war völlig ruhig und hatte sich philosophisch damit abgefunden, daß all seine Widersacher, ohne gerade unmenschlich zu sein, sein Todesurteil doch mit Befriedigung hören würden. So war er ziemlich überrascht, als er die Wahrnehmung machte, daß sein Erscheinen Mitleid unter den Gaffern erregte. Er hörte keine einzige häßliche Äußerung. »Die Spießbürger sind gar nicht so bösartig, wie ich glaubte!« dachte er bei sich.

      Als er den Verhandlungssaal betrat, fiel ihm die Schönheit des Innenschmucks auf. Der Raum war im gotischen Stil erbaut, mit einer Menge zierlicher, sorgfältig gearbeiteter steinerner kleiner Pfeiler. Er kam sich wie in England vor.

      Bald aber richtete sich sein Augenmerk auf ein Dutzend hübscher Damen, die den Balkon über den Richtern und Geschworenen, gegenüber der Anklagebank, innehatten. Als er sich nach der Zuschauertribüne umwandte, die er im Rücken hatte, bemerkte er, daß auch sie fast nur von Frauen gefüllt war. Die meisten waren jung und, wie es schien, recht hübsch. Ihre Augen leuchteten vor Mitgefühl. Weiter hinten drängte sich der große Haufe. Man prügelte sich an den Eingängen. Die Schutzleute konnten den Lärm nicht unterdrücken.

      Aller Blicke galten Julian. Als man sah, wie er den etwas erhöhten Platz für den Angeklagten einnahm, wurde er durch ein Gemurmel des Staunens und der rührseligen Teilnahme begrüßt. Man hätte an diesem Tage behaupten können, er sei keine zwanzig Jahre alt. Er war sehr schlicht, aber mit erlesenem Geschmack gekleidet. Das zurückgestrichene Haar ließ seine edle Stirn hervortreten. Mathilde hatte seine Toilette persönlich überwacht. Er sah auffällig blaß aus. Kaum hatte er sich auf der Anklagebank niedergesetzt, so hörte er von allen Seiten die Ausrufe: »Gott, wie jung er ist!« – »Noch das richtige Kind!« – »Er ist viel hübscher als auf den Bildern!«

      Plötzlich bemerkte er auf dem Balkon Frau Derville.

      »Frau Derville!« durchfuhr es ihn, wobei er über und über rot wurde. »Nach der Verhandlung wird sie schleunigst an ihre Freundin schreiben.« Daß auch Frau von Rênal nach Besançon gekommen war, ahnte er nicht.

      Die Zeugen wurden ziemlich rasch vernommen. Bei Beginn der Worte, die der Staatsanwalt hierauf sprach, brachen zwei Damen auf dem Balkon Julian gegenüber in Tränen aus. Er sagte sich: »Frau Derville wird alles andre denn gerührt sein.« Es entging ihm jedoch nicht, daß sie ein aufgeregtes Gesicht hatte.

      Der Staatsanwalt hielt eine pathetische Rede in der üblichen schlechten Ausdrucksweise der Juristen. Er brandmarkte die Roheit des vorliegenden Verbrechens. Julian bemerkte, daß die Nachbarinnen von Frau Derville Gebärden des lebhaften Mißfallens machten. Dies bereitete ihm eine angenehme Empfindung. Bis dahin hatte er für alle Anwesenden ungemischte Verachtung gehegt. Der geistlose Wortschwall des Staatsanwalts hätte dieses Gefühl des Ekels noch vermehrt. Jetzt, angesichts der Zeichen von menschlicher Teilnahme, begann Julians Apathie langsam zu schwinden.

      Die sichere Haltung seines Verteidigers befriedigte ihn. »Nur keine Phrasen!« rief er ihm leise zu, als er sich zu reden anschickte.

      »Die


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