Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.und Fabrizzio. Als man tausend Schritt von der Heerstraße weg war, sagte einer der Soldaten: »Ich kann nicht mehr.«
»Ich auch nicht!« ein anderer.
»Das ist ja reizend! Da sitzen wir alle miteinander da!« sagte der Korporal. »Aber folgt mir nur! Ihr werdet gut dabei fahren!«
Er bemerkte fünf, sechs Bäume, die längs eines kleinen Grabens mitten in einem riesigen Getreidefeld standen.
»Nach den Bäumen!« befahl er seinen Leuten. Als sie die Stelle erreicht hatten, sagte er: »Legt euch hier hin und verhaltet euch mäuschenstill! Aber ehe wir einschlafen: Wer hat noch ein Stück Brot?«
»Ich!« meldete einer der Soldaten.
»Her damit!« sagte der Korporal herrisch. Er teilte das Brot in fünf Teile und nahm sich den kleinsten.
Während er aß, sagte er: »Eine Viertelstunde vor Tagesanbruch werden wir die feindliche Kavallerie im Nacken haben. Wir dürfen uns nicht niederhauen lassen. Ein einzelner ist verloren in diesem offenen, ebenen Gelände, wenn Kavallerie ihn verfolgt. Fünfe aber können sich retten. Bleibt mir gut zusammen und schießt nur auf ganz nahe Ziele! Ich mache mich anheischig, euch morgen abend nach Charleroi zu bringen.«
Eine Stunde vor Tagesanbruch weckte der Korporal die anderen und ließ die Gewehre neu laden. Der Lärm auf der Heerstraße dauerte an. Er hatte die ganze Nacht hindurch nicht aufgehört. Er klang wie das Brausen eines fernen Stromes.
»Wie aufgescheuchte Hammel!« meinte Fabrizzio arglos zum Korporal.
»Willst du wohl dein Maul halten, du Grünschnabel!« sagte der Korporal empört. Und die drei Soldaten, die mit Fabrizzio sein Heer ausmachten, blickten ihn ebenfalls mit Zornesblicken an, als ob er gelästert hätte. Er hatte die Nation beleidigt.
›Das ist doch stark‹, dachte unser Held. ›Diese Beobachtung habe ich schon unter dem Vizekönig in Mailand gemacht. Sie fliehen nicht. Gott bewahre! Diesen Franzosen darf man die Wahrheit nicht sagen, wenn sie ihre Eitelkeit verletzt. Aber über ihre kläglichen Gesichter lache ich, und das muß ich sie merken lassen.‹
Sie marschierten immer fünfhundert Schritt abseits vom Strom der Flüchtlinge, der die Heerstraße füllte. Eine Stunde danach kamen sie über einen Seitenweg, der von der großen Straße abzweigte und an dem eine Menge Soldaten lagerte. Einem kaufte Fabrizzio ein leidlich gutes Pferd ab, das ihn vierzig Franken kostete, und unter den umherliegenden Säbeln suchte er sich sorgfältig einen langen Pallasch aus. ›Einen zum Stechen!‹ dachte er bei sich. ›Die sollen am besten sein!‹ So ausgerüstet, setzte er sich in Galopp und holte den Korporal, der weitermarschiert war, bald ein. Er stellte sich in die Steigbügel, erfaßte die Scheide seines Pallaschs mit der linken Hand und sagte zu den vier Soldaten: »Die da auf der Heerstraße laufen, sehen aus wie eine Hammelherde. Sie reißen aus wie aufgescheuchte Hammel!«
Auf das Wort Hammel legte Fabrizzio einen besonderen Ton. Seine Kameraden erinnerten sich nicht mehr, daß sie sich über diesen Ausdruck vor einer Stunde geärgert hatten. Darin verrät sich einer der Gegensätze zwischen dem italienischen und dem französischen Wesen. Der Franzose ist zweifellos glücklicher; er gleitet über die Ereignisse des Lebens hinweg und trägt nicht nach.
Wir wollen nicht verhehlen, daß Fabrizzio eine Genugtuung darin fand, das Wort Hammel ausgesprochen zu haben.
Der Marsch ging ohne große Unterhaltung weiter. Zwei Stunden später sagte der Korporal, höchst erstaunt, daß sich immer noch keine feindliche Kavallerie zeigte, zu Fabrizzio: »Sie sind unsere Kavallerie. Galoppieren Sie nach dem Gehöft da auf der kleinen Anhöhe und fragen Sie den Bauern, ob er uns etwas zum Frühstück verkaufen will. Sagen Sie ihm, wir seien unser fünf. Wenn er nicht gleich will, geben Sie ihm fünf Franken im voraus. Haben Sie keine Angst, den Silberling nehmen wir ihm nach dem Frühstück wieder ab!«
Fabrizzio bückte den Korporal an; der hatte eine unerschütterliche Würde und wirklich den Ausdruck geistiger Überlegenheit. Er gehorchte. Alles ging, wie es sein Vorgesetzter vorausgesehen hatte; nur bestand Fabrizzio darauf, daß man dem Bauern die fünf Franken, die er ihm bezahlt hatte, nicht mit Gewalt wieder abnahm.
»Das Geld gehört mir«, sagte er zu den Kameraden.
»Ich habe es nicht für euch bezahlt; ich zahle es für den Hafer, den er meinem Pferde gegeben hat.«
Fabrizzio sprach das Französische so schlecht aus, daß seine Kameraden glaubten, in seiner Rede läge etwas wie Überhebung. Sie fühlten sich arg verletzt, und in ihren Gemütern reifte der Gedanke, ihn am Abend zu stellen. Sie fanden ihn ganz anders als sich selber, und das ärgerte sie. Fabrizzio dagegen fing an, sich als ihr guter Freund zu fühlen.
So marschierte man zwei Stunden lang stumm weiter, als der Korporal mit einem Blick auf die Heerstraße begeistert ausrief: »Das Regiment!« Alsbald waren sie auf der Straße, aber um den Adler waren keine zweihundert Mann geschart. Fabrizzios Auge hatte bald die Marketenderin erspäht. Sie lief zu Fuß, hatte rote Augen, und zuweilen rannen ihr die Tränen herab. Vergeblich suchte Fabrizzio das Wäglein sowie Kokotte.
»Ausgeplündert, beraubt, vernichtet!« rief die Marketenderin als Antwort auf die Blicke unseres Helden. Ohne ein Wort zu verlieren, saß er vom Pferd ab, nahm es am Zügel und sagte zur Marketenderin: »Sitzen Sie auf!«
Sie ließ sich das nicht zweimal sagen.
»Mach mir die Steigbügel kürzer!« sagte sie.
Sobald sie im Sattel saß, begann sie, Fabrizzio ihr Mißgeschick während der Nacht zu berichten. Ihre Erzählung war endlos, aber unser Held horchte begierig darauf. Wenn er auch, offen gestanden, so gut wie nichts davon verstand, so hegte er doch eine zärtliche Freundschaft für die Marketenderin. Sie schloß mit den Worten: »Und es waren Franzosen, die mich ausgeplündert, geschlagen und zugrunde gerichtet haben.«
»Was, es waren keine Feinde?« fragte er treuherzig, was seinem schönen, ernsten und blassen Gesicht reizend stand.
»Bist du dumm, mein lieber Junge!« sagte die Marketenderin und lachte unter Tränen. »Aber du bist trotzdem ein gutes Kerlchen!«
»Und dieses Kerlchen hat seinen Preußen fein weggeputzt!« meinte der Korporal Aubry, der im Wirrwarr zufällig neben dem Pferde, das die Marketenderin ritt, wieder auftauchte.
»Aber er ist hochmütig!« setzte der Korporal hinzu. Fabrizzio machte eine heftige Gebärde.
»Wie heißt du eigentlich?« fragte der Korporal darauf. »Wenn ich Meldung erstatten muß, möchte ich dich doch nennen.«
»Ich heiße Vasi«, antwortete Fabrizzio und zog ein dummes Gesicht. »Das heißt Boulot«, verbesserte er sich rasch.
Boulot hieß der Inhaber des Soldbuches, das ihm die Kerkermeistersfrau eingehändigt hatte. Er hatte es am Tag vorher während des Marsches genau studiert, denn er fing an, besonnener zu werden, und war den Dingen schon besser gewachsen. Außer dem Soldbuche des Husaren Boulot bewahrte er sorglich auch den italienischen Paß, der ihn zur Führung des edlen Namens Vasi, Händlers mit Wettergläsern, berechtigte.
Als der Korporal ihm Hochmut vorwarf, war er nahe daran gewesen, zu antworten: »Ich hochmütig, ich, Fabrizzio Valserra, Marchesino del Dongo, der sich nicht schämt, den Namen eines Hausierers zu tragen?«
Während er nachdachte und sich sagte: ›Ich darf nicht vergessen, daß ich Boulot heiße und mich vor dem Kerker hüten muß, mit dem mir das Schicksal droht‹, wechselten der Korporal und die Marketenderin ein paar Worte leise über ihn.
»Glauben Sie nicht, ich sei neugierig«, sagte die Marketenderin zu ihm, indem sie ihn nicht mehr duzte. »Es ist nur zu Ihrem Wohl, wenn ich Fragen stelle. Wer sind Sie eigentlich?«
Fabrizzio antwortete nicht sofort. Er überlegte sich, daß er keine treueren Freunde und keinen besseren Rat finden könne, und Rates bedurfte er sehr. ›Wir kommen auf einen Sammelplatz‹, sagte er sich. ›Der Befehlführende wird fragen, wer ich sei, und wenn ich durch meine Antworten verrate, daß ich vom vierten Husarenregiment, dessen Uniform ich trage, keine Katze kenne, nageln sie mich fest.‹
Als österreichischer Untertan wußte Fabrizzio, wie wichtig ein