Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


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Besitzerin, eine Dame mit ausgesprochen liberalen Ansichten, so spann sich das Gespräch in gleicher Freimütigkeit weiter. Der Graf Mosca erzählte auf Befragen von seiner Lebensweise in Parma.

      »In Spanien unter Saint-Cyr stellte ich mich in den Kugelregen für das Kreuz der Ehrenlegion und ein wenig Ruhmesglanz. Jetzt ziehe ich mich wie ein Hanswurst an, um ein behagliches Leben zu führen und ein paar tausend Franken zu erhäschen. Ich hatte mich nun einmal in diese Art Schachspiel eingelassen, ärgerte mich über die Unverschämtheit meiner Vorgesetzten und nahm mir vor, hochzukommen. Ich habe es erreicht. Aber meine glücklichsten Tage sind immer die, die ich von Zeit zu Zeit in Mailand verbringe. Hier, meine ich, schlägt noch das Herz euerer Italien-Armee!«

      Die Offenheit, die disinvoltura, mit der dieser Minister eines allgemein gefürchteten Fürsten plauderte, reizte die Neugier der Gräfin. Seinem Titel gemäß hatte sie einen kleinlichen Wichtigmacher in ihm erwartet; sie fand einen Mann, der sich der Würde seiner Stellung schämte. Mosca hatte versprochen, ihr alle Neuigkeiten über Frankreich, die er auftreiben könne, zu bringen. Das war in Mailand einen Monat vor der Schlacht von Waterloo eine große Indiskretion. Es handelte sich um das Sein oder Nichtsein Italiens; alle Welt war im Fieber der Angst oder der Hoffnung. Mitten in diesem allgemeinen Wirrwarr zog die Gräfin Erkundigungen über den Mann ein, der so leichtsinnig über eine vielbeneidete Stellung sprach, die obendrein seine einzige Hilfsquelle war.

      Man hinterbrachte der Gräfin Pietranera seltsame, spannende und widerspruchsvolle Dinge. Der Graf Mosca della Rovere Sorezana, berichtete man ihr, stehe auf dem Punkte, Premierminister und erster Günstling von Ernesto Ranuccio IV. zu werden, dem Autokraten von Parma, einem der reichsten Fürsten Europas. Der Graf hätte diesen höchsten Posten längst erreicht, wenn er sich standesbewußter benommen hätte. Öfters habe ihm der Fürst über diesen Punkt höchstselbst den Text gelesen. »Was kümmert Eure Hoheit meine Lebensart,« solle er freimütig geantwortet haben, »wenn ich Allerhöchstdero Angelegenheiten gut erledige?« Das Glück dieses Günstlings, fügte man hinzu, sei nicht ohne Dornen. Er habe sich die Gunst eines Landesherrn zu erhalten, der zweifellos klug und geistreich sei, seit seiner Thronbesteigung aber sichtlich den Kopf verloren habe und ein wahrhaft weibisches Mißtrauen hege.

      Ernst IV. war nur im Kriege ein Held. Auf den Schlachtfeldern hatte man ihn als braven General ein dutzendmal die Kolonnen zum Sturm führen sehen, doch als er nach dem Tod seines Vaters Ernst III. in seine Lande heimkehrte, wo ihm unglücklicherweise unumschränkte Herrschergewalt zuteil geworden, begann er gegen die Liberalen und die Freiheit wie toll vorzugehen. Sehr bald bildete er sich ein, man hasse ihn. Zu guter Letzt ließ er in einer Anwandlung von schlechter Laune zwei Liberale hängen, die wahrscheinlich nicht viel verbrochen hatten. Ein gewisser Rassi, sozusagen sein Justizminister, ein elender Kerl, hatte ihn dazu verleitet.

      Seit dieser verhängnisvollen Stunde ist das Leben des Fürsten von Grund aus verändert. Der sonderbarste Argwohn peinigt ihn. Er ist noch keine fünfzig, aber die Angst hat ihn so arg ausgemergelt, wenn man sich dieses Ausdrucks bedienen darf, daß sein Gesicht das Aussehen eines Achtzigjährigen annimmt, wenn er von Jakobinern und Pariser Revolutionsideen spricht. Er fürchtet sich wie ein kleines Kind vor dem Zauberer aus dem Märchen. Dieser Furcht seines Gebieters verdankt sein Günstling Rassi, der Großfiskal (Oberrichter), seinen Einfluß, und sobald er den irgendwie gefährdet wähnt, entdeckt er schleunigst eine neue Verschwörung der schlimmsten und abenteuerlichsten Art. Dreißig Unvorsichtige haben sich zusammengetan und auf ein Exemplar des ›Constitutionnel‹ abonniert; sogleich erklärt Rassi sie für Verschwörer und läßt sie in die berüchtigte Zitadelle von Parma, den Schrecken der ganzen Lombardei, einkerkern. Da sie sehr hoch gelegen ist, angeblich hundertundachtzig Fuß, so sieht man sie schon aus weiter Ferne über der ungeheueren Ebene. Das Äußere dieses Gefängnisses und die gräßlichen Dinge, die man sich von ihm erzählt, machen es zur gefürchteten Tyrannin der lombardischen Ebene, die sich von Mailand bis Bologna ausdehnt.

      »Sie werden es kaum glauben,« erzählte ein anderer Reisender der Gräfin, »Ernst IV. zittert nachts im dritten Stock seines Palastes, obwohl dieser von achtzig Posten bewacht wird, die alle Viertelstunden laut brüllen müssen. Sämtliche Türen sind zehnfach verschlossen, und die angrenzenden Zimmer über und unter den seinen sind wegen seiner Jakobinerangst voller Soldaten. Wenn das Parkett knarrt, so greift er nach seinen Pistolen, im Wahn, ein Liberaler stecke unter seinem Bett. Sogleich werden alle Klingeln im Schloß in Bewegung gesetzt, und ein Adjutant weckt eiligst den Grafen Mosca. Im Schloß angelangt, hütet sich der Polizeiminister, die Verschwörung zu leugnen, im Gegenteil. Allein mit dem Fürsten und bis an die Zähne bewaffnet, durchsucht er alle Winkel der Gemächer, sieht unter die Betten, mit einem Wort, er unterzieht sich einer Menge lächerlicher Handlungen, die eines alten Weibes würdig wären. Alle diese Sicherheitsmaßregeln wären dem Fürsten in den schönen Zeiten, als er im Kriege war und nur den Massenmord auf dem Gewissen hatte, selber demütigend erschienen. Als kluger Mann schämt er sich dieser Vorkehrungen; sie dünken ihn lächerlich, selbst im Augenblick, da er ihnen verfallen ist; und die unbegrenzte Macht des Grafen liegt darin, daß er seine ganze Gewandtheit aufbietet, damit der Fürst in seiner Gegenwart niemals zu erröten braucht. Mosca besteht in seiner Eigenschaft als Polizeiminister selbst darauf, unter alle Möbel und, wie man in Parma sagt, sogar in die Geigenkästen hineinzugucken. Dann ist es der Fürst, der sich dem widersetzt und seinen Minister wegen seiner übertriebenen Genauigkeit auslacht. »Das muß sein!« antwortet der Graf Mosca. »Hoheit wollen an die Spottgedichte denken, mit denen uns die Jakobiner überschütten würden, wenn wir Serenissimus ermorden ließen. Wir schützen nicht nur Allerhöchstdero Leben, wir schützen unsere Ehre!« Aber der Fürst ist offenbar nur halb überzeugt, denn sobald irgendwer in der Stadt sich untersteht zu sagen, man habe gestern im Schloß eine schlaflose Nacht verbracht, läßt der Oberrichter Rassi das Schandmaul in die Zitadelle sperren, und ist der Verbrecher einmal in dieser höheren Wohnung, in guter Luft, wie man in Parma zu sagen pflegt, so müßte ein Wunder geschehen, wenn man sich je des Eingelochten wieder erinnerte. Weil der Fürst Soldat ist und sich in Spanien soundsovielmal mit der Pistole in der Hand bei Überfällen durchgeschlagen hat, schätzt er Mosca mehr als Rassi, der geschmeidiger und gewöhnlicher ist. Die unglücklichen Gefangenen in der Zitadelle werden in strenger Abgeschlossenheit gehalten, und man erfindet auf ihre Unkosten Mordsgeschichten. Die Liberalen behaupten, auf Rassis Weisung hätten die Gefängniswärter und Beichtväter Befehl, ihnen einzureden, daß ungefähr jeden Monat einer von ihnen hingerichtet werde. An solchen Tagen erhalten die Gefangenen die Erlaubnis, die Plattform des mächtigen Turmes zu betreten, die hundertundachtzig Fuß über der Ebene liegt, und von da zuzuschauen, wie ein Zug dahinwallt, bei dem ein Spitzel die Rolle eines zur Richtstätte schreitenden armen Sünders spielt.«

      Solche und andere Geschichten von derselben Art und nicht geringerer Glaubwürdigkeit machten auf die Gräfin Pietranera lebhaften Eindruck. Tags darauf bat sie den Grafen Mosca um nähere Angaben und machte ihre Scherze darüber. Sie fand ihn unterhaltsam und verzieh ihm, daß er im Grund und ohne es selber zu wissen, ein Ungeheuer war.

      Eines Tages sagte der Graf, als er in seinen Gasthof heimkam: »Die Gräfin Pietranera ist nicht nur eine reizende Frau, sie bringt es sogar zuwege, daß ich an den Abenden, da ich in ihrer Loge bin, gewisse Dinge von Parma vergesse, deren Erinnerung mir einen Stich ins Herz versetzt.« Der Minister hatte trotz seiner leichten Art und seinen glänzenden Umgangsformen keine französische Seele; er konnte seine Sorgen nicht vergessen. Wenn sein Pfühl einen Dorn barg, mußte er ihm die Spitze abbrechen, und wenn er sich dabei noch so weh tat. Ich bitte um Entschuldigung für diese Wendung aus dem Italienischen.

      Der Tag nach jener Entdeckung kam dem Grafen, obwohl er in Mailand allerlei Geschäfte hatte, endlos lang vor. An keinem Ort hielt er es lange aus; kein Wagen fuhr ihm schnell genug. Gegen sechs Uhr nahm er sich ein Reitpferd und ritt über den Korso, in der schwachen Hoffnung, der Pietranera zu begegnen. Da er sie dort nicht erblickte, fiel ihm ein, daß die Scala um acht Uhr geöffnet wurde. Er ging hin, fand aber in dem Riesensaal keine zehn Personen. Er schämte sich gewissermaßen, daß er da war. ›Ist es möglich,‹ sagte er sich, ›daß ich mit meinen fünfundvierzig Jahren Torheiten begehe, über die ein junger Leutnant errötet? Zum Glück ahnt sie kein Mensch.‹ Er machte, daß er wieder hinauskam, und versuchte, sich die Zeit damit zu vertreiben, daß er durch die hübschen Straßen schlenderte, die das Theater umgeben. Es gibt in ihnen


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