Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


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schuldig, bei dieser Frau zum Ziele zu kommen. Sollte ich je berühmt werden, und es würfe mir jemand diesen armseligen Hauslehrerposten vor, so kann ich andeuten; die Liebe hätte mich in diese Stellung geführt.«

      Von neuem entwand sich Julian seiner schönen Nachbarin, und abermals griff diese nach seiner Hand und drückte sie. Als man gegen Mitternacht in den Salon hineinging, fragte Frau von Rênal ihn leise: »Wollen Sie uns wirklich verlassen? Wollen Sie wirklich fort von hier?«

      Seufzend gab Julian die Antwort: »Ich muß wohl … weil ich Sie von ganzem Herzen liebe … und weil dies Sünde ist … eine große Sünde für einen jungen Geistlichen!«

      Frau von Rênal, die an Julians Arm dahinschritt, schmiegte sich so dicht an ihn, daß sie die Wärme seiner Wange an der ihren spürte.

      Die Nacht verbrachten die beiden sehr verschieden. Frau von Rênal schwelgte in den Verzückungen der höchsten seelischen Wollust. Sie war keins der koketten jungen Mädchen gewesen, die frühzeitig Liebeleien haben und später, in dem Alter, wo die große Leidenschaft kommen könnte, schon abgestumpft sind. Sie hatte keine Romane gelesen, und auch die geringste, leiseste Glückseligkeit war ihr etwas Neues. Nichts kühlte und schreckte sie ab, weder das Traurige der Wirklichkeit noch das Gespenst der Zukunft. Sie sah sich in zehn Jahren ebenso beglückt wie jetzt. Selbst der Gedanke an die Moral und an die ihrem Manne geschworene eheliche Treue – Dinge, die sie noch in den letzten Tagen beunruhigt hatten –, alles das mahnte sie jetzt vergeblich. Das waren ungebetene Eindringlinge in ihr Glück, die sie verscheuchte. Eines jedoch gelobte sie sich: »Niemals werde ich Julian etwas zugestehen. Wir werden so weiterleben, wie wir es seit vier Wochen tun. Er soll mir ein Freund sein.«

      14. Kapitel

      Fouqués Anerbieten hatte Julian aller Zufriedenheit beraubt, aber er kam zu keinem Entschluß.

      »Ach, am Ende fehlt es mir an innerer Kraft!« klagte er sich an. »Ich hätte nicht das Zeug zu einem napoleonischen Soldaten gehabt … Meinetwegen!« fügte er hinzu. »So soll mich meine Liebelei mit der Quartierwirtin ein wenig entschädigen!«

      Zu seinem Glücke stand seine Seele keineswegs im Einklang mit dieser Landsknechtssprache, selbst in dieser nebensächlichen Episode nicht. Er empfand Scheu vor Frau von Rênal: vor ihrem hübschen Kleide. Das war ihm der Vorgeschmack des Pariser Lebens.

      Hochmütig, wie er war, wollte er dem blinden Zufall und der Eingebung des Augenblicks nichts überlassen. Auf Grund der Geständnisse Fouqués und etwelcher Aphorismen aus seinem Lieblingsbuche, die ihm einfielen, entwarf er sich einen bis ins einzelne gehenden Feldzugsplan. Und da er, ohne es sich einzugestehen, nicht klar und sicher war, so schrieb er diesen Plan nieder.

      Am nächsten Morgen fand er sich einen Augenblick im großen Zimmer allein mit Frau von Rênal.

      »Haben Sie eigentlich noch einen andern Namen als Julian?« scherzte sie.

      Er wußte auf diese schmeichelhafte Neckerei keine Antwort. Dergleichen war in seinem Kriegsplan nicht vorgesehen. Ohne diesen dummen Plan hätte er bei der Beweglichkeit seines Geistes gewiß sofort eine Erwiderung gefunden, und das Überraschende der Frage hätte sein Impromptu um so reizvoller gemacht. So aber war er unbeholfen, und im Spiegel der Selbstbetrachtung vergrößerte sich diese Unbeholfenheit noch. Frau von Rênal freilich verzieh sie ihm im Moment. Sie hielt sie für ein Kennzeichen seiner Aufrichtigkeit und war entzückt darüber. Offenherzigkeit, das war es, was diesem jungen Menschen, den man allgemein als sehr klug rühmte, ihrer Meinung nach fehlte. Auch Frau Derville hatte mehrmals gesagt: »Deinem kleinen Hauslehrer traue ich nicht über den Weg. Ich finde, er hat immer etwas zu überlegen und handelt nur aus Berechnung. Er ist heimtückisch.«

      Julian war unglücklich und tief gedemütigt, daß er Frau von Rênal nicht zu antworten vermocht hatte. »Ein Mann meines Schlages«, sagte er sich, »muß diese Scharte wieder auswetzen!« Und er befahl sich, Frau von Rênal einen Kuß zu geben.

      Als sie zusammen das Zimmer verließen, benutzte er diesen Augenblick. Es war der unpassendste Moment. Keins von beiden hatte eine angenehme Empfindung. Obendrein handelte er im höchsten Grade unvorsichtig. Es fehlte nicht viel, so hätte man den Vorfall gesehen. Frau von Rênal hielt Julian für toll. Sie war erschrocken und vor allem gekränkt. Valenod und seine alberne Verliebtheit kam ihr in den Sinn.

      »Was stünde mir bevor, wenn ich einmal allein mit ihm wäre?« fragte sie sich. Sie gewann ihre ganze Tugendsamkeit wieder. Ihre Liebe war verflogen. Fortan richtete sie es ein, daß immer eins der Kinder bei ihr blieb.

      Der Tag kam Julian langweilig vor. Er verbrachte ihn damit, seinen Verführungsplan in ungeschickter Weise zu verfolgen. Jedesmal, wenn er Frau von Rênal anblickte, hatte er eine Absicht dabei. Aber er war doch nicht Narr genug, um nicht einzusehen, daß es ihm nicht glückte, ein Herzenseroberer zu sein, geschweige denn ein Verführer.

      Frau von Rênal staunte ein über das andre Mal, ihn so linkisch und dreist zugleich zu sehen. »Die täppische Verliebtheit des Gelehrten!« dachte sie zu guter Letzt und freute sich nun namenlos darüber. »Ich möchte beinahe glauben, daß meine Rivalin ihn nicht geliebt hat.«

      Nach dem Frühstück ging Frau von Rênal in den Salon, um den Besuch des Herrn Charcot von Maugiron, des Landrats von Bray, zu empfangen. Sie arbeitete an einer Stickerei im Rahmen. Frau Derville saß neben ihr. Bei dieser Gruppierung, am hellichten Tage, fand es Julian für angebracht, seinen Fuß vorzurücken und Frau von Rênals hübschen Halbschuh zu berühren. Augenscheinlich hatten der niedliche Fuß und die durchbrochenen Strümpfe der Hausherrin auch den Blick des galanten Landrats auf sich gezogen.

      Frau von Rênal bekam einen Todesschreck. Im Moment ließ sie Schere, Wollknäuel und Sticknadel fallen, so daß Julians Bewegung allenfalls für einen ungeschickten Versuch gelten konnte, die Schere, die er hatte fallen sehen, mit dem Fuß aufzufangen. Glücklicherweise brach die dünne kleine Schere aus englischem Stahl entzwei, und Frau von Rênal beklagte immer wieder, daß Julian ihr nicht rascher zur Hand gewesen sei.

      »Sie haben doch vor mir gesehen, daß sie fiel!« warf sie ihm vor. »Statt mir im blinden Eifer den Fuß zu zertreten, hätten Sie die Schere aufhalten sollen!«

      Der Landrat ließ sich täuschen. Nicht so Frau Derville. »Der hübsche Bursche hat recht törichte Manieren«, dachte sie bei sich. Der gute Ton der Provinz duldet dergleichen Vertraulichkeiten nicht.

      Sobald sich die Gelegenheit bot, flüsterte Frau von Rênal Julian zu: »Seien Sie vernünftig! Ich befehle es Ihnen!«

      Julian sah seine Ungeschicklichkeit ein und bekam schlechte Laune. Lange grübelte er darüber nach, ob er sich über die Worte: Ich befehle es Ihnen! ärgern müsse oder nicht. In seiner Torheit geriet er auf den Gedanken: »Wo es sich um eine pädagogische Frage hinsichtlich der Kinder handelt, dann kann sie mir ›Ich befehle ‹ sagen. In Dingen der Liebe jedoch muß sie uns beide für gleichgestellt erachten. Liebe ohne Gleichheit ist ein Unding!« Nun verlor er sich darin, Aussprüche hierüber auszudenken. Voll Bitternis wiederholte er sich einen Vers Corneilles, den ihm Frau von Rênal einmal hergesagt hatte:

      »Die Liebe erzeugt die Gleichheit, doch sie sucht sie nicht.«

      Julian war darauf versessen, den Don Juan zu spielen: er, der noch nie eine Geliebte gehabt hatte. Er war den ganzen Tag über halb wahnsinnig. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn. Zerfallen mit sich selbst wie mit Frau von Rênal, graute es ihm vor dem Abend, wo er im Garten sitzen würde, ihr zur Seite, im nächtlichen Dunkel.

      Er meldete Herrn von Rênal, er wolle nach Verrières gehen, zum Pfarrer. Gegen Abend, nach Tisch, brach er auf und kehrte erst spät in der Nacht zurück.

      In Verrières fand er den Pfarrer Chélan im Umzuge begriffen. Man hatte ihn endlich in der Tat abgesetzt. Vikar Maslon trat an seine Stelle. Julian war dem guten alten Mann behilflich. Dabei fiel ihm ein, seinem Freunde Fouqué einen Brief zu schreiben. Der unbezwingliche Drang, Geistlicher werden zu wollen, hätte ihn im ersten Augenblick daran gehindert, seinen freundschaftlichen Vorschlag anzunehmen. Jetzt aber, wo er eben ein so überzeugendes Beispiel von Ungerechtigkeit vor Augen habe, jetzt sähe er ein, daß er im Leben weiterkommen werde, wenn er auf den geistlichen Stand verzichte.

      Julian


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