Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


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sonst auf den Gedanken kommen, sie noch einmal zu besuchen? Ihr gräßlicher Schmerz schlug in die höchste Freude um, die sie je in ihrem Leben empfunden hatte. Sie fühlte sich von aller Last befreit. Die Gewißheit, den Geliebten noch einmal zu besitzen, nahm der Trennungsstunde alle Bitternis. Von diesem Moment an war sie in Wesen und Haltung durch und durch edel, fest und vornehm.

      Herr von Rênal kam bald zurück; er war außer sich. Zum ersten Male erwähnte er seiner Frau gegenüber jenen anonymen Brief, den er vor acht Wochen erhalten hatte.

      »Ich werde den Wisch mit in den Klub nehmen und aller Welt kundtun, daß er von Valenod herrührt, diesem Lumpen, dem ich geholfen habe, vom Habenichts zu einem der reichsten Bürger von Verrières emporzukommen. Ich werde ihm vor Zeugen ins Gesicht sagen, daß er den Brief geschrieben hat, und mich mit ihm schießen. Ich habe die Sache satt.«

      »Ich kann Witwe werden! Allmächtiger!« dachte Frau von Rênal. Aber schon im nämlichen Augenblick sagte sie sich: »Wenn ich dieses Duell nicht verhindere – und das kann ich auf jeden Fall –, dann bin ich die Mörderin meines Mannes!«

      Noch nie hatte sie ihn so geschickt bei seiner Eitelkeit gefaßt wie jetzt. In kaum zwei Stunden brachte sie es zuwege, daß er durch Gründe, die er selbst zu finden sich einbildete, der Meinung ward, gegen Valenod liebenswürdiger denn je sein zu müssen. Sogar Elise müsse wieder ins Haus genommen werden. (Dies vorzuschlagen fiel ihr sehr schwer; denn das Mädchen trug die Schuld an all ihrem Unglück. Der Gedanke kam von Julian.) Zu guter Letzt gelangte er ohne weitere Nachhilfe zu der ihm allerdings pekuniär wenig erfreulichen Einsicht, daß es angesichts des allgemeinen erbitterten Klatsches das allermißlichste wäre, wenn Julian – etwa als Hauslehrer im Hause Valenods – in Verrières verblieb. Rein wirtschaftlich betrachtet, konnte Julian kaum besseres tun, als das Angebot des Armenamtsvorstandes anzunehmen. Das war klar. Das beste hingegen für Herrn von Rênal war es, wenn Julian Verrières verließ und nach Besançon oder Dijon auf das Priesterseminar ging. Aber wie sollte man den jungen Mann dazu bringen? Und wovon sollte er dort seinen Unterhalt bestreiten?

      Als Rênal die Notwendigkeit eines Geldopfers erkannte, verfiel er weit größerer Verzweiflung als vordem seine Frau. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Nach der Unterredung mit ihrem Mann hatte sie den Zustand errungen, in dem sich ein mutiger Mann befindet, der, müde des Lebens, eben Gift genommen hat. Er steht dem Leben neutral gegenüber. Schon schaut er die Welt in der Verklärung. In diesem Sinne hat Ludwig der Vierzehnte in seiner Todesstunde gesagt: »Als ich König war …« Ein großartiges Wort!

      Es war kein leichtes Stück Arbeit, Herr von Rênal von dem Vorsatz, Valenod zu brüskieren, dahin umzustimmen, daß er Julian zunächst für ein Jahr sechshundert Franken Seminarzuschuß auszusetzen bereit war. Tausendfach verwünschte er den Tag, an dem er den so verhängnisvollen Plan gefaßt hatte, einen Hauslehrer zu nehmen.

      Sein einziger Trost war ein Gedanke, den er seiner Frau verheimlichte. Durch Geschicklichkeit und mit Hilfe der romantischen Phantasie Julians hoffte er ihn dahin zu bringen, daß er sich schon für eine geringere Summe verpflichtete, Valenods Angebot auszuschlagen.

      Noch mehr Mühe hatte Frau von Rênal, als sie Julian beweisen mußte, daß er eine Entschädigung ohne Bedenken annehmen könne, da er ja der Ehre ihres Mannes ein Opfer bringe, wenn er auf die ihm vor Zeugen angebotene Stelle mit achthundert Franken Gehalt im Hause Valenods verzichte.

      »Aber ich habe doch nie einen Augenblick daran gedacht, die Stelle anzunehmen«, wandte Julian immer wieder ein. »Du hast mich zu sehr an das aristokratische Leben gewöhnt. Ich würde unter diesen groben Leuten zugrunde gehen.«

      Die grausame Notwendigkeit beugte schließlich Julians Eigensinn mit eiserner Faust. Aber in seinem Hochmute gedachte er die vom Bürgermeister gebotene Summe höchstens als Darlehen zu nehmen und ihm dafür einen Schuldschein auszustellen, der samt Zinsen in fünf Jahren fällig sein sollte.

      Frau von Rênal erinnerte sich, daß noch einige tausend Franken in der Grotte oben in den Bergen vergraben lagen. Obwohl sie wußte, daß Julian dieses Geld voll Entrüstung ablehnen werde, bot sie es ihm doch zaghaft an.

      »Willst du mir die Erinnerung an unsre Liebe vergällen?« fragte er.

      So verließ Julian das Städtchen. Herr von Rênal war selig. Im schicksalsreichen Augenblicke des Abschiedes brachte es Julian nicht übers Herz, Geld von ihm zu nehmen. Er wies es kurz und würdig ab. Der Bürgermeister fiel ihm tränenden Auges um den Hals. Julian hatte ihn um ein Zeugnis gebeten. In seiner Begeisterung fand Rênal nicht hochtrabende Worte genug, Julians Fähigkeiten und seine Führung ins rechte Licht zu setzen.

      Der Scheidende besaß hundert Franken Ersparnisse. Die gleiche Summe nahm er sich vor, von seinem Freunde Fouqué zu leihen.

      Tiefbewegt ging er. Aber kaum war er von Verrières, wo er so viel Liebe zurückließ, eine Wegstunde entfernt, da dachte er nur noch an das Glück, Besançon, die berühmte Stadt und Feste, kennenzulernen.

      Drei Tage hielt er sich in den Bergen auf. Währenddem war Frau von Rênal die Beute der grausamsten Liebestäuschung. Wie friedsam dünkte sie das Leben! Und doch stand ihr das höchste Unglück bevor: das letzte Stelldichein mit einem Geliebten. Sie zählte die Stunden und die Minuten, die sie von der letzten Nacht mit Julian trennten.

      Endlich in der Nacht vom dritten zum vierten Tage vernahm sie von ferne das verabredete Zeichen. Umgeben von tausend Gefahren erschien Julian.

      Von diesem Augenblick an hegte sie nur den einen einzigen Gedanken: »Ich sehe ihn zum allerletzten Male!«

      In der heißen Umarmung des Geliebten lag sie wie ein kaum noch lebender Körper. Ein paarmal zwang sie sich, Liebesworte zu flüstern, aber es geschah so linkisch, daß es fast lieblos klang, was sie stammelte. Immer wieder mußte sie dem entsetzlichen Gedanken nachhängen, daß es Abschied sei auf immerdar. Bei seiner mißtrauischen Natur wähnte Julian, sie habe ihn bereits vergessen. Sie vermochte auf seine kränkenden Vorwürfe keine Worte zu erwidern, sondern nur große stille Tränen und fast krampfartige Händedrücke.

      »Wie soll ich dir glauben?« entgegnete Julian auf eine ihrer wortarmen Beteuerungen.

      Sie war zu Tode getroffen und fand keine Antwort. »Unmöglich kann man noch unglücklicher sein … Hoffentlich sterbe ich bald … Ich fühle, mein Herz steht still…«

      Das waren die längsten Sätze, die Julian zuteil wurden.

      Als der Morgen dämmerte und sie scheiden mußten, konnte sie nicht einmal mehr weinen. Stumm sah sie zu, wie er ein Seil mit Knoten am Fenster befestigte. Seine Worte, seine Küsse vermochte sie nicht zu erwidern.

      Vergeblich sagte Julian zu ihr: »Jetzt sind wir endlich an dem Punkte, den du so sehr ersehnt hast. Fortan werden dich keine Gewissensbisse mehr quälen, und wenn eins deiner Kinder einmal ein wenig unwohl ist, wirst du dir nicht gleich einbilden, es müsse meinetwegen sterben!«

      »Es tut mir leid, daß dir Stanislaus nicht Lebewohl sagen kann«, flüsterte sie tonlos.

      Die kalten Liebkosungen der Halbtoten rührten Julian am Ende doch bis tief in sein Herz. Stundenlang kam er von dem Gedanken daran nicht los. Er war unsagbar traurig.

      Auf der Höhe des Kammes drehte er sich wieder und wieder um, bis der Kirchturm von Verrières seinem Blick entschwand.

      24. Kapitel

      Endlich erkannte Julian auf einer noch fernen Anhöhe schwärzliche Mauern: die Zitadelle von Besançon.

      »Wie herrlich wäre es«, seufzte er, »wenn ich diese stolze Feste begrüßte, um als Leutnant in eins der Regimenter einzutreten, die den Platz zu verteidigen haben!«

      Besançon ist nicht nur eine der hübschesten Städte Frankreichs. Es ist auch reich an guten gebildeten Menschen. Aber Julian, das arme Bauernkind, hatte nicht die Mittel, sich vornehmen Leuten zu nähern.

      Er hatte sich von seinem Freunde Fouqué einen bürgerlichen Rock geliehen, und so überschritt er die Zugbrücke der Festung nicht in geistlicher Tracht. Den Kopf voll von der Geschichte der Belagerung von Besançon im Jahre 1674, wollte er die Burg und die Wälle besichtigen, ehe er sich im Seminar einkerkern ließ. Beinahe hätten ihn die


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