Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.von denen ihr nicht abgesetzt werden könnt, werden zum dritten Teile von der Regierung bezahlt; die beiden andern Drittel tragen die Gläubigen, die ihr euch durch euer Wort selber erzieht.«
Nach dem Unterricht blieb Castanède im Hofe stehen. Seine Schüler umdrängten ihn im Kreise. Er redete von neuem:
»Von einem Pfarrer kann man mit besonderem Recht sagen: Was der Mann wert ist, ist seine Stelle wert! Ich, der ich mit euch hier rede, ich habe aus eigener Anschauung Dorfgemeinden kennengelernt, wo sich der Pfarrer bei weitem besser stand als mancher Stadtgeistliche. Das Gehalt war gleich hoch, aber es kamen dazu gemästete Kapaune, Eier, frische Butter und tausend kleine Annehmlichkeiten. Auf dem Lande ist der Pfarrer unbestritten der erste Mann. Es findet kein Schmaus statt, wo er nicht zu Gaste geladen und gefeiert wird…«
In dem Tone ging es weiter. Kaum war der Abbé in sein Zimmer hinaufgegangen, da teilten sich die Seminaristen in Gruppen. Julian gehörte zu keiner; man mied ihn wie ein räudiges Schaf.
Man erzählte sich kleine Geschichten. Irgendein junger Priester, der erst vor einem Jahre die Weihen empfangen, hatte der Wirtschafterin eines alten Pfarrers insgeheim ein Kaninchen geschenkt. Daraufhin war er Vikar geworden. Als der Pfarrer ein paar Monate später plötzlich starb, übernahm er seine Stelle in dem reichen Kirchspiel.
Einem andern war es geglückt, das Pfarramt in einem großen, sehr reichen Ort zu erhalten, weil er der tägliche Tischgenosse seines Vorgängers, eines alten gelähmten Pfarrers, gewesen war und ihm seine Hühnchen besonders geschickt zerlegt hatte.
Wie in allen Berufen, überschätzten auch die Seminaristen die Bedeutung solcher kleiner Machenschaften, die sich fabelhaft anhören und phantastisch wirken.
»An solchen Unterhaltungen sollte ich teilnehmen!« sagte sich Julian. Wenn man nicht von Bratwürsten und fetten Pfründen redete, schwatzte man über die weltliche Seite des geistlichen Berufes, so etwa über Rangstreitereien zwischen einem Bischof und einem Regierungspräsidenten, zwischen dem Bürgermeister und dem Pfarrer einer Stadt und über ähnliches. Julian bekam den Eindruck: ein zweiter Gott stehe über der Erde, aber ein weit fürchterlicherer und mächtigerer als der himmlische: der Papst. Leise und nur wenn man sicher war, daß es der Direktor nicht hörte, behauptete man: wenn sich der Papst nicht die Mühe gäbe, alle Regierungspräsidenten und alle Bürgermeister höchstselbst zu ernennen, so geschähe das nur, weil er diese Mühe dem König von Frankreich anvertraut habe, indem er ihn zum ältesten Sohn der Heiligen Römischen Kirche ernannt habe.
Julian glaubte, diese Gespräche seien eine gute Gelegenheit, das Papstbuch von Maistre hervorzukramen, um sein Ansehen zu heben. In der Tat setzte er seine Kameraden in Erstaunen, aber wiederum nicht zu seinem Vorteil. Es mißfiel allgemein, daß er ihre Meinungen besser in Worte faßte als sie selber. Der alte Pfarrer Chélan war als Lehrer Julians ebenso unvorsichtig gewesen wie für sich persönlich. Er hatte ihn daran gewöhnt, sich klar auszudrücken und sich nicht durch Phrasen täuschen zu lassen. Er hatte es jedoch nicht für nötig erachtet, Julian zu sagen, daß freimütiges Urteil ein Verbrechen ist, solange man in der Welt nichts bedeutet. Denn jedwede Wahrheit erregt Anstoß.
Julians kluge Reden wurden ihm also als weiteres Verbrechen vorgeworfen. Seine Kameraden beschäftigten sich viel mit ihm. Das Endergebnis all des Abscheus, den er ihnen einflößte, floß in den Spitznamen aus, den Julian bekam: Martin Luther. Vornehmlich wegen der Teufelslogik, mit der er sich brüstete, hieß es.
Etliche der Seminaristen hatten frischere Farben als Julian und konnten für hübscher gelten. Dafür besaß er weiße Hände und ein unverkennbares Reinlichkeitsbedürfnis. Diese Eigenschaften wurden ihm arg verübelt. Die schmutzigen Bauern, unter denen er lebte, erklärten, er sei ein lockerer Bursche.
Von tausend Widerwärtigkeiten sind dies nur Beispiele. Man machte sogar Miene, ihn zu verprügeln. Julian bewaffnete sich deshalb mit einem eisernen Meßstab und gab zu verstehen, wenn auch nur durch Gesten, daß er sich damit wehren werde. Gesten nehmen sich im Tatbericht eines Denunzianten nicht so gefährlich aus wie Worte.
28. Kapitel
Umsonst suchte Julian dumm und klein zu erscheinen. Er gewann niemanden. Er war allzusehr anders. »Merkwürdig!« sagte er sich. »Meine Lehrer sind doch sehr gescheite Menschen, unter Tausenden erkoren! Warum würdigen sie meine Demut nicht?«
Ein einziger, so schien es Julian, machte sich seinen guten Willen zunutze, indem er seiner Komödie glaubte oder so tat. Das war der Abbé Chas-Bernard, der Zeremonienmeister an der Kathedrale, der seit fünfzehn Jahren auf eine Domherrnstelle wartete. Bis dahin war er Lehrer der geistlichen Beredsamkeit am Seminar.
Zur Zeit seiner Blindheit war Julian auch in diesem Unterrichtsfache einer der Ersten gewesen. Das hatte ihm die Freundschaft des Abbé eingetragen. Nach der Stunde nahm er ihn manchmal am Arm und wandelte mit ihm durch den Garten.
»Ob er dabei eine Absicht hat?« fragte sich Julian. Er wunderte sich, wenn ihm der Abbé stundenlang von den Prunkgewändern erzählte, die im Besitze der Kathedrale waren. Er verlor sich dabei in allerlei Einzelheiten. »Was bezweckt der Mann mit der langweiligen Aufzählung all dieses Trödels?« dachte Julian. »Das kommt mir wie eine schlaue Vorrede vor. Aber immer wieder dasselbe? Es folgt nichts. Er muß mir stark mißtrauen. Allerdings, er ist klüger als alle die andern, die man nach vierzehn Tagen bis in ihre geheimsten Gedanken durchschaut. Auch weiß ich, daß sein Ehrgeiz seit anderthalb Jahrzehnt leidet.«
Eines Abends, mitten in der Fechtstunde, wurde Julian zum Direktor gerufen.
»Morgen ist Fronleichnamsfest«, sagte Pirard. »Herr Abbé Chas-Bernard wünscht, daß Sie ihm beim Ausschmücken der Kathedrale helfen. Gehen Sie und gehorchen Sie!«
Dann rief er ihn noch einmal zurück und sagte ihm in mitleidigem Tone: »Wenn Sie sich bei dieser Gelegenheit ein wenig in der Stadt umsehen wollen, habe ich nichts dagegen.«
Julian erwiderte: » Incedo per ignes!« Zu deutsch: »Ich habe verborgene Feinde!«
Am nächsten Morgen, in aller Frühe, ging er mit gesenktem Blick nach der Kathedrale. Der Anblick der Straße und des beginnenden Lebens in der Stadt tat ihm wohl. Überall sah er, daß man die Häuserfassaden für die Prozession behing.
Es war ihm zumute, als sei er erst gestern in das Seminar gekommen. Das Schloß Vergy erstand vor seiner Phantasie. Dann fiel ihm die hübsche Amanda ein. Ob er ihr begegnen würde? Das Kaffeehaus war in der Nähe. Da erblickte er von weitem, am Portal seiner geliebten Kathedrale, die wohlbeleibte Gestalt des Abbé Chas-Bernard, dessen freundliches offenes Gesicht heute leuchtete.
»Ich warte schon auf Sie, mein lieber Sohn!« rief der Abbé dem Seminaristen aus großer Entfernung entgegen, sobald er ihn erkannt hatte. »Willkommen! Wir haben heute viel und schwere Arbeit. Stärken wir uns durch einen Imbiß. Das richtige Frühstück folgt um zehn Uhr, während des Hochamts.«
»Euer Hochehrwürden bitte ich«, sagte Julian ernst, »mich keinen Augenblick allein zu lassen. Wollen Sie gütigst feststellen, daß ich eine Minute vor fünf Uhr zur Stelle bin?« Dabei zeigte er nach der Turmuhr über ihren Häuptern.
»Aha!« meinte der Abbé. »Sie haben Angst vor Ihren Kollegen! Sie tun den kleinen Bösewichtern zu viel Ehre an. Ein schöner Weg bleibt schön, auch wenn ihn Hecken mit Dornen umstehn. Der brave Wandersmann geht seinen Pfad und läßt die bösen Dornen Dornen sein … Jetzt aber ans Werk, mein lieber Freund! Ans Werk!«
Der Abbé hatte mit seiner Voraussage, die Arbeit sei schwer, nicht unrecht. Am Tage vorher war in der Kirche eine große Trauerfeier abgehalten worden. Man hatte nichts vorbereiten können, und so galt es, an einem Vormittag die gotischen Pfeiler, die die drei Kirchenschiffe bildeten, bis zu einer Höhe von beinahe zehn Metern mit rotem Damast zu bekleiden. Wohl hatte der Bischof vier Tapezierer mit der Eilpost aus Paris kommen lassen. Doch vermochten diese Leute nicht allein mit allem fertig zu werden. Dazu kam, daß sie die schwerfälligen Besançoner Handwerker, die ihnen helfen sollten, durch ihre spöttischen Anweisungen verwirrten, statt sie verständig anzustellen.
Julian sah, daß er selber auf die Leiter steigen mußte. Seine Behendigkeit kam ihm hierbei zugute. Er übernahm die Leitung der einheimischen Arbeiter. Der Abbé schaute ihm voll Freude