Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
Читать онлайн книгу.Standpunkt immer sehr selbstherrlich. Uns billigt er keinen eigenen Verstand zu. Wir sind armselige Bauern. Er steht hoch über uns. Nun, ich will das gar nicht leugnen. Wir sind einfache Bauern und Handwerker und nicht seinesgleichen. Doch, da er uns so viele Fragen gestellt hat, so möchte auch ich ihm einige Fragen vorlegen. Er, als ausgebildeter Offizier, hat aus dem Damlajik eine gute Festung geschaffen, zugegeben! Aber was nützt uns diese ganze Festung und der Damlajik heute? Nichts! Im Gegenteil, er hindert uns daran, einen letzten Weg der Rettung zu suchen. Wenn die Türken klug sind, so lassen sie sich in gar keinen Kampf mehr ein, da sie ja ihr Ziel in ein paar Tagen ohne jeden Verlust erreichen können. Doch ob es nun zu einem Kampf kommt oder nicht, wo ist eine neue Idee, ein neuer Versuch, dem Tod zu entkommen? Es ist jedenfalls die bequemere Art, hier oben in den gewohnten Verhältnissen zugrunde zu gehen. Man braucht sich dabei wenigstens nicht anzustrengen. Ich aber halte dieses faule Hinnehmen, dieses schlappe Verkommen für verächtlich. Und die Frage aller Fragen: Was für Vorschläge hat Gabriel Bagradian gegen den Hunger zu machen? Genügt es, wenn er meine Versuche mit dem Fischfang bespöttelt? Es ist und bleibt leider das einzige, was geschehen ist. Hätte man mich unterstützt, anstatt alle kräftigen Männer immer und immer nur exerzieren zu lassen, wären wir auch erfolgreicher gewesen ...«
Der Pastor, der bisher wenigstens die äußere Ruhe gewahrt hatte, sprang jetzt leidenschaftlich vor und schrie:
»Ter Haigasun, ich stelle einen sehr ernsten Antrag. Alles noch vorhandene Vieh wird geschlachtet, gebraten und verteilt. Aufbruch in der nächsten, spätestens übernächsten Nacht. Lagerung an einer der Felsbuchten, die Fischreichtum verspricht!«
Die rasche und schroffe Art dieses Antrags verwirrte die schwerfälligen Köpfe. Die Muchtars begannen sich auf ihren Bänken unbehaglich hin und her zu wenden wie betende Moslems. Der alte Tomasian, Arams Vater, blinzelte erschrocken. Kebussjan aber wischte seine schwitzende Glatze, und jammernd entrang es sich ihm:
»Wären wir in die Verschickung gegangen ... lebend oder tot ... wir hätten es besser ...«
In diesem Augenblick zog Ter Haigasun einen zerknitterten Zettel aus seinem Kuttenärmel. Die gute Gelegenheit war da, nicht nur Kebussjans Stoßseufzer zu beantworten, sondern auch den Damlajik gegen Aram zu verteidigen. Er verlas den Schicksalszettel ziemlich leise und fast ohne Ausdruck:
»Harutiun Nokhudian, Pastor von Bitias, an den Wartabed der Küste bei Suedja, Ter Haigasun von Yoghonoluk. Frieden vorerst und langes Leben für Dich, geliebter Bruder in Christo, Ter Haigasun, und für all meine geliebten Landsleute oben auf dem Musa Dagh, oder wo Ihr sonst sein möget, hoffentlich aber noch auf dem Berge. Wenn Gott es will, so wird Dich dieser Brief erreichen; ich händige ihn einem gütigen türkischen Offizier ein. Unser Gottvertrauen ist auf eine schreckliche Probe gestellt worden, und der Herr würde uns sicher verzeihen, wenn wir es verloren hätten. Während ich dies schreibe, liegt die sterbliche Hülle meiner engelsguten heiligmäßigen armen Gefährtin unbegraben neben mir. Sie hat, wie Du Dich erinnern wirst, immer für mein Leben gezittert und wegen meiner schwachen Gesundheit nie geduldet, daß ich mich anstrengte, daß ich barhaupt ins Freie ging oder mich allzusehr an belebenden Getränken erfreute, welche sündige Schwäche mir einwohnt. Jetzt hat sich alles verkehrt. Ihr flehentliches Gebet wurde erhört, sie ist vor mir dahingegangen, verhungert, und hat mich verlassen, die Böse! Ihre letzte Tat war es, daß sie mir in der Morgenkälte der Steppe ihr eigenes Halstuch aufzwang. Gott straft mich wie Hiob. Ich, der Schwache, Kranke, Hustende, Elende, habe Kräfte, die nicht ausgehen wollen und die ich tausendmal verfluche. Meine irdische Beschützerin aber ist gestorben, und ich überlebe alle. Von meiner Gemeinde wurden die jungen Männer in Antakje abgesondert, wir wissen nichts von ihnen, die andern sind tot bis auf siebenundzwanzig, und ich fürchte, ich werde der letzte sein müssen, ich, der ich nicht kräftig und würdig genug bin. Wir bekommen jetzt täglich etwas Brot und Bulgur, weil Kommissionen dagewesen sind, dies aber verlängert die Qual nur. Vielleicht kommen an diesem Tag noch Inschaat Taburi, um die vielen, vielen Leichen zu begraben. Sie werden mir dann auch meine Gefährtin nehmen und ich muß noch sehr dankbar sein dafür. Das Blatt ist nun vollgeschrieben. Leb wohl, Ter Haigasun, wann werden wir wieder vereint sein ...«
Der Priester hatte auch die letzten Zeilen noch tonlos wie eine sachliche Mitteilung gelesen. Dennoch hängte sich jede Silbe wie ein Uhrgewicht an die bärtigen Köpfe der Männer und zog sie nieder. Bedros Hekim erhob seine Stimme, die schartig und rostig wie ein Messer war:
»Ich glaube, daß sich Thomas Kebussjan daraufhin nicht mehr nach den Segnungen der Deportation sehnen wird. Wir haben nun achtunddreißig Tage hier oben gelebt, unser eigenes Leben, es war schwer, aber ganz anständig, mein ich. Schade, daß keiner von uns später die Gelegenheit haben wird, darauf stolz zu sein. Im übrigen stelle ich den Antrag, daß Ter Haigasun den Brief Nokhudians öffentlich auf dem Altarplatz verliest.«
Der Antrag fand lebhafte Zustimmung. Denn in der Stadtmulde ging der Seufzer Kebussjans, »wären wir nur in die Verschickung gegangen«, schon recht lange um. Gabriel war die ganze Zeit über unbeteiligt und in seine eigenen Gedanken versunken dagesessen. Er kannte ja den Brief des kleinen Pastors schon. Sein Sinn beschäftigte sich mit der auffahrenden Feindseligkeit, die Aram Tomasian während der Beratung ihm gegenüber zeigte. Gabriel spürte genau, daß Iskuhi der Grund war. Um so weniger aber wollte er auf den verletzenden Ton Arams eingehen. Es war eine sehr große Sache, die er vorzuschlagen hatte. Er bemühte sich deshalb in seinen Worten um höchste Milde und Versöhnlichkeit:
»Es fällt mir nicht ein, die Pläne und Taten Pastor Arams zu verspotten. Von allem Anfang an hab ich den Plan der Fischerei für gut gehalten. Wenn der Erfolg ausblieb, so ist nicht der gute Gedanke daran schuld, sondern die schlechten Gerätschaften. Was aber den Plan eines neuen Lagers anbetrifft, so habe ich pflichtgemäß zeigen müssen, daß er nicht nur unausführbar ist, sondern noch dazu das Ende beschleunigt und verschärft. Dagegen hat Aram Tomasian mit vollem Recht die Frage an mich gestellt, was ich gegen den Hunger zu tun gedenke. Paßt gut auf, Männer! Ich werde jetzt auf alle Fragen zugleich eine Antwort geben ...«
Auch Gabriel Bagradian improvisierte in gewissem Sinne ähnlich wie der Pastor. Auch er hatte diesen Einfall, den er jetzt mit aller Schärfe entwickelte, nachts unter anderen Einfällen hin und her gewendet, ohne ihn noch ganz ernst zu nehmen. Aber dies ist nun einmal so: Wird eine Idee oder eine Absicht in Worte gefaßt, so gewinnt sie damit schon die erste Stufe der Wirklichkeit und ein eigenes Schwergewicht. Er wandte sich an Nurhan Elleon, an Schatakhian und all diejenigen, von denen er Unterstützung erwartete:
»Es gibt ein altes Mittel, das alle Belagerten seit je anwenden ... Die Türken haben ihr Lager auf den Musa Dagh verlegt. Wenn sie auch sechs oder acht Kompanien haben sollten und Gott weiß wieviel Saptiehs, so brauchen sie doch einen großen Teil dieser Truppen, um den Berg abzuriegeln. Ihr müßt euch nur ausrechnen, wie groß die Strecke von Kebussije etwa bis Arsus ist. Es ist klar, daß sie uns aushungern wollen und daß sie deshalb mit ihrem großen Angriff noch ein paar Tage warten werden. Das beweist auch die Abreise ihres Generals, der den Angriff leiten soll. Wie wichtig sind wir ihnen! ... Ich nehme an, daß dieser General mit seinen Offizieren, dem Kaimakam und vielleicht noch andren hohen Persönlichkeiten sehr bald zurückkehren und in meinem Hause wohnen wird ... Also, ich will einen Ausfall versuchen, verstehst du, Ter Haigasun? Folgendermaßen! Wir werden aus den besten Zehnerschaften eine Überfallgruppe zusammenstellen. Ob es vier- oder fünfhundert Mann sein sollen, das weiß ich noch nicht. Bis heute abend werde ich die ganze Unternehmung genau ausgedacht und berechnet haben. Zwischen den Brandstellen gibt es Wege genug, um ins Tal zu kommen. Sie müssen genau ausgekundschaftet werden. Meines Wissens aber hat das Militär unten nur Patrouillen aufgestellt, die in der Nacht das Tal und die Vorberge abstreifen. Man muß da eine Streifungspause erwischen, was nicht schwer ist. Um zwei oder drei Uhr Mitternacht überfallen wir ... wie? ... nein, nicht Yoghonoluk, so weit kommen wir gar nicht ... wir überfallen mit unserer ganzen Übermacht mein Haus. Die Zahl der Schutzmannschaft dort wird natürlich vorher ausgeforscht werden. Außer den Offiziersdienern rechne ich allerhöchstens mit einem Zug Infanterie oder Saptiehs. Die Torwachen werden niedergemacht, Garten und Stallungen schnell besetzt. Alles Nähere gehört übrigens nicht hierher. Es ist meine und Tschausch Nurhans Sache. Mit Gottes Hilfe werden wir den General, den Kaimakam, den Müdir, den Jüsbaschi und die anderen Offiziere gefangennehmen. Wenn uns die volle