Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch) - Franz Werfel


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glaubt jeden Stein und jeden Busch zu kennen. Von allen Bildern der Kindheit hat sich dieser Ort am tiefsten in sein Gedächtnis eingestanzt. Es sind dieselben schirmspannenden Pinien, die hier einen Hain aufschlagen. Es ist derselbe kriechende Nadelwuchs, der sich über den steinigen Boden sträubt. Efeu und anderes Schlinggewächs umhalst eine Runde weißer Felsblöcke, die wie riesenhafte Persönlichkeiten eines Natursenats ihre Beratung unterbrechen, sobald der Schritt des Eindringlings erschallt. Eine reisefertige Schwalbennation durchzwitschert die Stille. Erregtes Spiel in dem grünlichen Binnensee der Luft. Wie von dunklen Forellen. Das jähe Entfalten und Einziehn der Flügel gleicht einem Lidschlag.

      Gabriel legt sich, die Arme unter dem Kopf verschränkend, auf eine grasige Stelle. Zweimal hat er schon vorher den Musa Dagh erstiegen, um diese Pinien und Felsblöcke zu finden, ist aber immer aus der Richtung geraten. Die gibt es also gar nicht, dachte er schon. Jetzt schließt er müde die Augen. Kehrt der Mensch an einen alten Ort der Betrachtung und des inneren Lebens zurück, so stürzen sich die Geister, die der Heimkehrer dereinst dort zeugte und zurückließ, leidenschaftlich auf ihn. Auch auf Bagradian stürzen sich seine Knabengeister, als hätten sie hier unter Pinien und Felsen dieser reizenden Einöde dreiundzwanzig Jahre seiner treulich gewartet. Es sind sehr kriegerische Geister. Die wilden Phantome jedes Armenierjungen. (Konnten sie anders sein?) Der blutige Sultan Abdul Hamid hat einen Ferman wider die Christen erlassen. Die Hunde des Propheten, Türken, Kurden, Tscherkessen, sammeln sich um die grüne Fahne, um zu sengen, zu plündern und das Armeniervolk zu massakrieren. Die Feinde aber haben nicht mit Gabriel Bagradian gerechnet. Er vereinigt die Seinen. Er führt sie ins Gebirge. Mit unbeschreiblichem Heldenmut wehrt er die Übermacht ab und schlägt sie zurück.

      Gabriel entzieht sich diesen kindischen Anwandlungen nicht. Er, der Pariser, Juliettens Gatte, der Gelehrte, der Offizier, der die Wirklichkeit des modernen Krieges kennt und neuerdings im Begriffe steht, seine Pflicht als türkischer Soldat zu erfüllen – er ist zugleich der Knabe, der sich mit uraltem Bluthaß auf den Erzfeind seiner Rasse wirft. Die Träume jedes Armenierjungen. Nur ein Augenblick zwar! Doch Gabriel wundert sich und lächelt ironisch, ehe er einschläft.

      Gabriel Bagradian fährt auf, nicht ohne Schreck. Jemand hat ihn eindringlich beobachtet, während er schlief. Wahrscheinlich recht lange. Er sieht in die stillbrennenden Augen seines Sohnes Stephan. Eine unangenehme Empfindung, wenn auch nicht ganz deutlich, erfaßt ihn. Der Sohn hat seinen Vater während des Schlafes nicht zu überraschen. Irgendein tiefes Sittengesetz wird dadurch verletzt. Er legt eine leichte Strenge in seine Worte:

      »Was tust du hier? Wo ist Monsieur Awakian?«

      Jetzt scheint Stephan auch darüber bestürzt zu sein, daß er den Vater im Schlafe ertappt hat. Seine Hände wissen mit sich nichts anzufangen. Seine starken Lippen öffnen sich. Er trägt ein College-Gewand, Halbstrümpfe und einen breiten Umlegkragen. Während er spricht, zupft er an seinem Rock:

      »Mama hat mir erlaubt, allein spazierenzugehen. Monsieur Awakian ist heute frei. Wir lernen ja am Sonntag nicht.«

      »Wir sind hier nicht in Frankreich, Stephan, sondern in Syrien«, erklärt der Vater bedeutungsvoll. »Das nächste Mal darfst du nicht ohne Aufsicht in den Bergen herumklettern.«

      Stephan sieht Papa gespannt an, als erwarte er außer dieser kleinen Rüge noch wichtigere Weisungen. Doch Gabriel sagt nichts mehr. Eine komische Verlegenheit bemächtigt sich seiner. Ihm ist es, als sei er jetzt zum erstenmal im Leben mit seinem Jungen allein. Seitdem sie in Yoghonoluk sind, hat er sich wenig um ihn gekümmert und sieht ihn zumeist nur bei Tisch. In Paris zwar und zur Ferienzeit in der Schweiz hat er mit Stephan manchmal einsame Spaziergänge unternommen. Aber ist man in Paris, Montreux oder in Chamonix allein? Die klare Luft des Musa Dagh jedoch ist ein lösendes Element, das eine Nähe zwischen den beiden erzeugt, die ihnen unbekannt ist. Gabriel geht voraus wie ein Führer, der alle wichtigen Punkte kennt. Stephan folgt ihm, noch immer stumm und erwartungsvoll.

      Vater und Sohn im Morgenland! Das läßt sich kaum mit der oberflächlichen Beziehung zwischen Eltern und Kindern in Europa vergleichen. Wer seinen Vater sieht, sieht Gott. Denn dieser Vater ist das letzte Glied der ununterbrochenen Ahnenkette, die den Menschen mit Adam und dadurch mit dem Ursprung der Schöpfung verbindet. Doch auch, wer seinen Sohn sieht, sieht Gott. Denn dieser Sohn ist das nächste Glied, welches den Menschen mit dem Jüngsten Gericht, dem Ende aller Dinge und der Erlösung verbindet. Muß da in solch heiligem Verhältnis nicht Scheu und Wortkargheit herrschen?

      Der Vater entschließt sich zu einer ernsthaften Unterhaltung, wie es sich gebührt:

      »Welche Gegenstände lernst du jetzt mit Herrn Awakian?«

      »Wir haben vor einiger Zeit Griechisch zu lesen begonnen, Papa. Dann lernen wir auch Physik, Geschichte, Geographie.«

      Bagradian hebt den Kopf. Stephan spricht armenisch. Hat er ihm seine Frage auch armenisch gestellt? Für gewöhnlich reden sie französisch miteinander. Die armenischen Worte des Sohnes berühren den Vater seltsam. Er wird sich dessen bewußt, daß er in Stephan weit öfter einen französischen als einen armenischen Jungen gesehen hat.

      »Geographie«, wiederholt er. »Und mit welchem Weltteil beschäftigt ihr euch gerade?«

      »Die Geographie von Kleinasien und Syrien«, meldet Stephan diensteifrig. Gabriel nickt zustimmend, als habe er nichts Klügeres erwartet. Dann sucht er, schon nicht mehr ganz bei der Sache, dem Gespräch einen pädagogischen Abschluß zu geben:

      »Wärst du imstande, vom Musa Dagh hier eine Karte zu zeichnen?«

      Stephan ist durch soviel väterliches Zutrauen beglückt:

      »O ja, Papa! In deinem Zimmer hängt noch eine Karte von Onkel Awetis, Antiochia und die Küste. Man muß nur den Maßstab vergrößern und alles, was fehlt, ergänzen.«

      Das ist ganz richtig. Gabriel freut sich einen Augenblick über Stephan. Dann aber schweifen die Gedanken zu dem Einrückungsbefehl ab, der vielleicht schon unterwegs ist, vielleicht sich noch immer auf einem türkischen Schreibtisch in Aleppo oder gar in Stambul herumwälzt. Stumme Wanderung. Die gesammelte Seele Stephans wartet einer neuen Ansprache. Dies ist die Heimat Papas. Er sehnt sich danach, Geschichten aus des Vaters Kindheit zu hören, jene geheimnisvollen Dinge, von denen man ihm so selten erzählt hat. Der Vater aber scheint ein bestimmtes Ziel zu haben. Und schon öffnet sich die eigenartige Terrasse, der er entgegenstrebt. Sie reicht, weit aus dem Berg gebaut, ins Leere. Ein gewaltiger Felsenarm hält sie mit gespreizten Fingern hoch wie eine Schüssel. Es ist eine steinbesäte Felsplatte, sehr geräumig, zwei Häuser hätten Platz. Die Stürme des Meeres freilich, die hier leichtes Spiel haben, dulden kaum ein paar Sträucher und eine lederharte Agave. Die freischwebend überhängende Fläche springt so weit vor, daß ein Selbstmörder, der vom äußersten Rand sich in den vierhundert Meter tiefer gelegenen Meeresabgrund stürzt, im Wasser verschwinden kann, ohne von einer Klippe verletzt zu werden. Nach Knabenart will Stephan zum Rande vorlaufen. Doch der Vater reißt ihn heftig zurück und hält seine Hand krampfhaft umklammert. Mit der freien Rechten deutet er in die verschiedenen Weltrichtungen.

      »Dort im Norden könnten wir die Bucht von Alexandrette sehen, wenn das Ras el Chansir, das Schweinekap, nicht wäre. Und im Süden die Orontesmündung; der Berg aber macht einen Bogen ...«

      Stephan verfolgt aufmerksam den Zeigefinger des Vaters, der das Halbrund des erregten Meeres nachzeichnet. Doch was er fragt, hat mit der Ortsbeschreibung nichts zu tun:

      »Wirst du wirklich in den Krieg gehn, Papa?«

      Gabriel bemerkt gar nicht, daß er Stephans Hand noch immer ängstlich festhält:

      »Ja! Ich erwarte jeden Tag den Befehl.«

      »Und muß das sein?«

      »Es geht nicht anders, Stephan. Alle türkischen Reserveoffiziere müssen einrücken.«

      »Wir sind aber keine Türken. Und warum haben sie dich nicht gleich einberufen?«

      »Es heißt, daß die Artillerie vorläufig nicht genügend Geschütze hat. Wenn die neuen Batterien aufgestellt sind, wird man dann alle Reserveoffiziere einberufen.«

      »Und wohin


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