Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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während dieser Zeit gab. Allerdings wurde die Woche doch recht lang, und es war wiederum ein Fest, wenn das langentbehrte Butterbrot zum erstenmal wieder auf den Tisch kam. Wir freuten uns auch auf die Abende mit der feierlichen Speisenfolge und den vielen Gebeten. Ich hatte dabei eine besondere Rolle: Die Liturgie des Sederabends enthält eine Reihe von Fragen, in denen das jüngste Kind sich erkundigt, warum an diesem Abend alles so anders sei als an andern Abenden. Der Hausherr antwortet darauf und erklärt den Sinn der einzelnen Bräuche. Später, als ich schon »aufgeklärt« war, begrüßte ich es, daß Neffen und Nichten da waren, die mich ablösten. Überhaupt litt die Weihe des Festes darunter, daß nur meine Mutter und die jüngsten Kinder mit Andacht dabeiwaren. Die Brüder, die an Stelle des verstorbenen Vaters die Gebete zu sprechen hatten, taten es in wenig würdiger Weise. Wenn der ältere nicht da war und der jüngere die Rolle des Hausherrn übernehmen mußte, ließ er sogar deutlich merken, daß er sich innerlich über all dies lustig machte.

      Noch höher im Rang als dieses Fest stehen das Neujahrs- und Versöhnungsfest. Das Neujahrsfest wird zwei Tage lang gefeiert. Am Vorabend beginnt es wiederum mit einem Festmahl. Die Hausfrau backt dafür (wie für jeden Sabbath) »Barches«, ein feines Weißbrot; aber sonst wird es, auch auf bestimmte vorgeschriebene Weise, zu länglichen Zöpfen geflochten, zu Neujahr dagegen rund geformt. Dieses Brot wird hauptsächlich zum Fleisch genommen. Zum Beginn der Mahlzeit wird es angeschnitten und jeder Tischgenosse erhält ein Stück; die Verteilung geschieht genau nach dem Alter. Ehe man davon kostet, betet man den Segensspruch: Gepriesen seist Du, Gott, Herr der Welt, der Du aus der Erde Speise hervorbringst. An diesem Abend gab es außerdem Honig und die ersten Weintrauben. Meine Mutter nahm nie vor Neujahr welche. Für die Kaffeemahlzeiten wurden große Vorräte von vorzüglichem Kuchen gebacken. Die Gebetsordnung ist für die Neujahrsabende nicht so ausgedehnt wie für die Sederabende; d.h. für die häusliche Feier. In der Synagoge ist am Vorabend wie an beiden Festtagen großer Gottesdienst. Das Judentum hat eine ausgebildete Liturgie, feste Gebetszeiten für jeden Tag und für die hohen Feste eine Gottesdienstordnung, die einen großen Teil des Tages ausfüllt. (Aus dieser Liturgie, die sich aus Psalmen und Schriftlesungen zusammensetzt, ist die Liturgie der Kirche erwachsen.) Meine Mutter pflegt am Vorabend nicht den öffentlichen Gottesdienst zu besuchen, sondern betet ihn zu Hause still für sich aus ihrem Gebetbuch mit, nachdem sie andächtig, auch unter den vorgeschriebenen Gebeten und zur vorgeschriebenen Stunde, die Kerzen in den hohen silbernen Leuchtern angezündet hat, die den Beginn des Festes ankünden. Aber am Morgen begibt sie sich in die Synagoge (zu Fuß, weil man an den Festtagen kein Gefährt benützt; denn es ist ja jede Arbeit untersagt, und man darf auch nicht anderer Menschen Arbeit ausnützen) und kommt erst zum Mittagessen zurück. Wir begleiteten sie als Kinder gewöhnlich nicht, holten sie aber mittags ab. Wir trugen dann unsere besten Kleider und Schuhe und fanden uns in dem kleinen Vorhof mit vielen andern Kindern zusammen, die festlich geschmückt ihre Eltern erwarteten. Die Schule besuchten wir an den hohen Festtagen nicht. Meine größte Festfreude war es, mit unbeschränkter Zeit ein schönes Buch zu lesen; wir versorgten uns schon immer vorher mit Lesestoff.

      Der höchste jüdische Feiertag ist der Versöhnungstag: der Tag, an dem einst der Hohepriester ins Allerheiligste eintrat und das Versöhnungsopfer für sich und das ganze Volk darbrachte, nachdem der »Sündenbock«, auf den alle Vergehen des Volkes geladen wurden, in die Wüste hinausgetrieben war. Das alles hat aufgehört. Aber noch heute wird der Tag mit Beten und Fasten begangen, und wer auch nur ein wenig noch auf sein Judentum hält, der geht an diesem Tag zum »Tempel«. Obwohl ich die Leckerbissen der andern Feste keineswegs verschmähte, hat es mich doch immer besonders angezogen, daß man an diesem Fest 24 Stunden und länger keinen Bissen und keinen Schluck zu sich nahm, und ich liebte es mehr als alle andern. Am Vorabend mußte man das Nachtmahl schon am hellen Tage nehmen; denn wenn der erste Stern am Himmel stand, begann der Gottesdienst in der Synagoge. An diesem Abend ging nicht nur meine Mutter hin, sondern die großen Schwestern begleiteten sie, und auch die Brüder betrachteten es als Ehrenpflicht, nicht zu fehlen. Die herrlichen alten Melodien dieses Abends locken sogar Andersgläubige herbei. Am nächsten Morgen stand meine Mutter etwas später auf als sonst (ihre gewöhnliche Zeit ist heute noch Ý6), aber immer noch früher als alle andern.

      Dann ging sie von Bett zu Bett und nahm von allen zärtlich Abschied, denn sie blieb den ganzen Tag in der Synagoge. Wir blieben möglichst lange im Bett (es war für diesen Fall erlaubt, im Bett zu lesen), unsere Schwester Frieda stand überhaupt nicht auf, weil sie sonst das Fasten nicht vertragen konnte. Wir Kleinen gingen zur Totenfeier in die Synagoge; darauf hielt meine Mutter, weil wir dabei unseres Vaters gedenken sollten. Es brannten auch Tag und Nacht zu Hause zwei große, dicke, weiße Kerzen zum Andenken an unsere Verstorbenen. Abends holte meist einer der Brüder die Mutter heim. Es war immer eine große Freude, wenn die ganze Familie sich wieder zusammenfand und wenn alle den Tag gut überstanden hatten. Die Pflicht zu fasten besteht für Knaben vom vollendeten 13., für Mädchen vom 12.Jahre an. (Das Gesetz rechnet mit der frühen Reife des Orients.) Ich hätte mich gern gewissenhaft daran gehalten, man hielt mich aber im 12.Jahr noch für zu zart und erlaubte mir nur, bis mittag nüchtern zu bleiben. Vom 13.Jahr an aber habe ich immer ausgehalten, und niemand von uns dispensierte sich vom Fasten, auch als wir alle den Glauben unserer Mutter nicht mehr teilten und uns außerhalb des Hauses nicht mehr an die rituellen Vorschriften hielten.

      Für mich hatte der Tag noch eine andere Bedeutung: Ich war am Versöhnungstag geboren, und meine Mutter hat ihn immer als meinen eigentlichen Geburtstag betrachtet, wenn auch der Glückwunsch- und Geschenktag der 12.Oktober war. (Sie selbst feierte ihren Geburtstag nach dem jüdischen Kalender – am Laubhüttenfest –, für ihre Kinder aber hielt sie an diesem Brauch nicht mehr fest.) Sie hat auf diese Tatsache großen Wert gelegt, und ich glaube, daß dies mehr als alles andere dazu beigetragen hat, ihr ihr jüngstes Kind besonders teuer zu machen. Und weil unser Schicksal in eigentümlicher Weise verflochten ist, darum ist es wohl angebracht, daß ich in diesem Lebensbild meiner Mutter von meiner eigenen Entwicklung etwas mehr sage als von der meiner Geschwister.

      3.

      Meine Eltern wohnten seit anderthalb Jahren in Breslau, als ich am 12.Oktober 1891 zur Welt kam. Im Juli 1893 starb mein Vater. Ich berichtete schon, daß meine Mutter mich auf den Armen hielt, als er von uns Abschied nahm, um die Reise anzutreten, von der er nicht lebend zurückkehren sollte, und daß ich ihn noch einmal zurückrief, als er sich schon zum Gehen gewandt hatte. So war ich für sie das letzte Vermächtnis meines Vaters. Ich schlief bei ihr im Zimmer, und wenn sie abends müde aus dem Geschäft heimkam, dann war ihr erster Weg zu mir. Ja, wenn ich krank war, nahm sie sich kaum Zeit, den Mantel abzulegen, setzte sich zu mir auf den Bettrand und ließ sich das einfache Abendessen dorthin bringen. Ihre Gegenwart verscheuchte aber auch bei mir alle Leiden und Schmerzen. Als ich 7 Jahre alt war, durfte ich für die Weihnachtsferien mit Erna nach Lublinitz fahren. Am Heiligen Abend bekam ich heftige Schmerzen und konnte von dem guten Weihnachtskarpfen nichts mehr herunterschlucken. Der Arzt stellte eine Infektion fest, und ich mußte die ganzen Ferien als Patientin zubringen. Da meine Mutter ihr Geschäft nicht im Stich lassen konnte, schickte sie meine Schwester Else, um mich zu pflegen. Am Sonntag aber war sie selbst, ohne Anmeldung, plötzlich da. Weil es mir in dem großen Schlafzimmer im Giebel etwas einsam war, hatten mich die guten Tanten heruntergeholt und auf das Sofa im gemütlichen Eßzimmer gebettet. Als meine Mutter plötzlich im Türrahmen stand, war ich mit einem Sprung an ihrem Hals und blieb dann auf ihrem Schoß, bis sie am Abend wieder heimfahren mußte.

      Trotz dieser innigen Verbundenheit war meine Mutter nicht meine Vertraute – so wenig wie sonst jemand. Ich führte von frühester Kindheit an ein merkwürdiges Doppelleben und machte für den äußeren Betrachter unbegreifliche, sprunghafte Umwandlungen durch. In den ersten Lebensjahren war ich von einer quecksilbrigen Lebhaftigkeit, immer in Bewegung, übersprudelnd von drolligen Einfällen, keck und naseweis, dabei unbezähmbar eigenwillig und zornig, wenn etwas gegen meinen Willen ging. Meine älteste Schwester, die ich so sehr liebte, hat ihre junge Erziehungsweisheit vergeblich bei mir angewandt. Ihr letztes Mittel war, mich in eine dunkle Kammer zu sperren. Wenn diese Gefahr drohte, legte ich mich steif auf den Boden, und meine zarte Schwester konnte mich nur mit äußerster Anstrengung aufheben und forttragen. In dem finsteren Gefängnis ergab ich mich keineswegs in mein Schicksal, sondern schrie aus Leibeskräften und trommelte mit beiden Fäusten gegen


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