Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.Kinder immer zu mir hingezogen und hingen an mir, auch wenn ich mich gar nicht um sie bemühte. Anfangs sagte mein Schwager zu meiner Schwester (nicht in meiner Gegenwart, aber sie hat es mir später oft erzählt), wie sie so einem verträumten Mädchen ein Kind anvertrauen könne. Sie erwiderte mit Nachdruck: »Dieses Mädchen ist meine Schwester.« Tatsächlich konnte sie sich auf mich verlassen. Als im Sommer unsere spätere Schwägerin Martha aus Amerika auf Besuch kam, ging sie manchmal den ganzen Vormittag mit ihr »shopping« und überließ mir beide Kinder und die ganze Hausarbeit. Und trotz aller Zwischenfälle, die dann gewöhnlich kamen, fand mein Schwager, der immer auf die Minute pünktlich kam, das Mittagessen fertig, und die Babies waren versorgt. Am 5.Juni wurde das zweite Kind geboren. Es war ein kräftiger Junge. Nachdem seine Schwester drei Namen bekommen hatte, sollte er auch nicht weniger haben. Sein Vater hielt auf Gerechtigkeit. Die Tanten waren sich diesmal nicht einig. Die Mehrheit war für »Werner«, eine kleine Minderheit für »Ulrich«. An zweite Stelle sollte der Name meines Vaters. So wurde es ein »Werner Siegfried Ulrich«. Für kurze Zeit kam eine geprüfte Wochenpflegerin. Dann sorgte ich für Mutter und Kind; meine Schwester stand zwar früh wieder auf und ging wieder an ihre Arbeit, aber sie blieb doch noch schonungs- und pflegebedürftig.
Der kleine Junge war ein richtiges Sonnenkind, strahlend vergnügt und liebenswürdig gegen jedermann. Als er im nächsten Jahr zum erstenmal nach Breslau kam, waren alle entzückt von ihm, und er blieb dort der Liebling. Da ich ihn vom ersten Tage an kannte, hing er an mir natürlich besonders. Mit einem Apparat, den ich damals geschenkt bekam, machten wir viele Aufnahmen, nachdem der amerikanische Gast mit dem Photographieren angefangen hatte. Meine Schwester klebte die Bildchen alle sorgfältig in ein Album. Als die Kinder sprechen konnten, begann sie auch ihre Kinderwitze aufzuzeichnen. Ich glaube fast, daß die Zeit, die ich dort war, die beste im Eheleben meiner Schwester war. Sie hatte nun die Gesellschaft, nach der sie immer verlangte. Wir machten alle Arbeiten zusammen, teilten die Freude an den Kindern und die Sorge um sie. Wenn abends die Kinder schliefen und noch Zeit bis zur Heimkehr meines Schwagers war, lasen wir oft etwas zusammen. Und wenn ein zuverlässiges Mädchen da war (ein seltener Fall), gingen wir manchmal ins Theater oder in ein Konzert. Obgleich ich noch so jung war, sprach sich doch Else mit mir über alles aus. Ich hörte meist ruhig zu und widersprach nicht leicht. Und wenn ich mich manchmal doch verpflichtet fühlte, eine abweichende Meinung zu äußern, so geschah es mit so großer Ruhe, daß es zu keinen aufgeregten Auseinandersetzungen kam. Da meine Schwester zufrieden war, hatte es auch mein Schwager leichter. Ich mochte ihn sehr gern und freute mich mittags und abends immer, wenn er aus der Sprechstunde nach Hause kam. Und da seine erste Frage meist war: »Edith, wie stehen die Lombarden?«, fing ich sogar an, den Kurszettel zu studieren. Max hatte nämlich begonnen, etwas an der Börse zu spekulieren, sehr vorsichtig und mit mathematischer Berechnung, um ein zweites Eisen im Feuer zu haben, wenn die Praxis einmal nicht mehr ausreichen sollte, die Familie zu ernähren.
So blieb ich zehn Monate in Hamburg. Meine Mutter drängte nicht auf Rückkehr, obgleich sie ihre Jüngste sicher sehr vermißte. Überhaupt fühlte sie sich immer am glücklichsten, wenn sie alle ihre sieben Kinder um sich hatte. Sie hatte wohl denselben Grund, mich nicht zurückzurufen, der mich bestimmte zu bleiben: die Furcht, meiner Schwester wehe zu tun. Die anderen Geschwister konnten mein langes Fernbleiben nicht verstehen; es erschien ihnen als ein Mangel an Anhänglichkeit. Schließlich kam doch ein energischer Abruf. Die schwere Erkrankung des kleinen Harald, des zweiten Kindes unseres ältesten Bruders, war die Veranlassung dazu. Ich konnte zwar ebensowenig wie die andern helfen, aber wenn ein schwerer Schlag drohte, dann sollte die Familie möglichst vollständig beisammen sein. Seitdem bin ich nur noch zweimal zu längerem Aufenthalt (d.h. für die Sommerferien) in Hamburg gewesen. Später wurden die Besuche kürzer und seltener. Die Verbindung löste sich dadurch nicht; meine Schwester schrieb häufig und ausführlich, außerdem kam sie möglichst jedes Jahr einmal nach Hause, und solange die Kinder noch klein waren, brachte sie alle mit.
Bei der Geburt des dritten Kindes war Rosa Wochenpflegerin. Aber Erna und ich lernten die kleine Anni Martha Erika auch noch als Säugling kennen, da wir bald darauf als Feriengäste hinkamen. Mein Schwager war ein sehr zärtlicher Vater. Wenn er mittags nach Hause kam, trug er das jeweils Jüngste auf den Armen und sang ihm vor; sobald es so weit war, daß es bei Tisch essen konnte, saß es auf dem hohen Kinderstühlchen neben ihm und wurde von ihm gefüttert. Aber je größer die Kinder wurden, desto weniger verstand er es, mit ihnen umzugehen. Und natürlich hatten sie unter den wachsenden Spannungen zwischen Vater und Mutter zu leiden. Die Älteste stand, beiden unbewußt, am stärksten unter dem Einfluß der Mutter und nahm gegen den Vater Partei. Die Jüngste wußte sich am besten zu helfen. Sie hatte die gesellschaftlichen Talente aus der väterlichen Familie geerbt, war immer heiter und unternehmungslustig und hielt sich schon als Kind meist außerhalb des Hauses bei Freundinnen auf. Am schwersten hatte es der Junge. Unter allem, was meiner Mutter in Hamburg mißfiel, machte die Behandlung dieses Kindes ihr den größten Kummer. Meine Schwester, die so viele fremde Kinder erzogen hatte und sich rühmte, es mit jedem zu verstehen, fand ihrem einzigen Jungen gegenüber nie den richtigen Ton. Er, der als kleines Kind immer so strahlend und liebenswürdig war, sagte schon mit vier oder fünf Jahren immer wieder, er wolle nicht groß werden, und wurde allmählich immer trotziger und verbitterter. Er war ein kleiner Neckteufel, und wenn die Schwestern sich über ihn beklagten, gab es endlose Strafreden von der Mutter und Bericht über alle seine Untaten an den heimkehrenden Vater, der ihn dann in derben Worten zurechtwies. Anni ließ als kleines Kind ganz gewohnheitsmäßig in kurzen Abständen den Klageruf ertönen: »Der Werner ärgert mich!« Einmal war sie mit ihrer Mutter allein in Breslau; es war während der Schulzeit, darum hatten die Großen in Hamburg bleiben müssen. Sie spielte allein im Garten; trotzdem erscholl es plötzlich: »Der Werner!« Jemand ging ans Fenster und sagte: »Der Werner ist doch gar nicht hier.« Prompt erfolgte die Antwort: »Er ärgert mich aber immer!«
Großmutter und Tanten waren voll Mitleid mit dem armen Jungen, der vielleicht oft auf solche Klagen hin abgekanzelt wurde. Je älter er wurde, desto heftiger rebellierte er gegen seine Mutter. Er bekam förmliche Wutanfälle und sprach in respektloser, ja verächtlicher Weise mit ihr. In Breslau war er ein ganz anderer Mensch: glücklich, in einer Umgebung zu sein, in der er sich geliebt wußte, freundlich gegen alle – allerdings ein Kobold, der alle gern neckte –, dankbar für das kleinste Geschenk und jedes gute Wort, immer bereit zu helfen und schon sehr früh auch für die Arbeit im Geschäft zu brauchen. Er besuchte gern alle Verwandten, und alle mochten ihn gern. Am meisten hing er an der Großmutter. In den letzten Tagen vor der Abreise trennte er sich überhaupt nicht mehr von ihr. Und von ihr hörte er sich die längsten Ermahnungsreden ganz sanftmütig an. Wir hatten nie so viel von ihr zu hören bekommen, aber bei Werner wollte sie die Ferienwochen benutzen, um ihn zum rechten Verhalten daheim anzuhalten. Er hatte auch sichtlich guten Willen, aber keine Hoffnung auf Besserung. Unter Tränen klagte er uns, wie er zu Hause behandelt würde. Und wir wußten ja, daß die Tatsachen stimmten. Seit kein Dienstmädchen mehr gehalten wurde, schlief er im Mädchenzimmer und mußte es selbst in Ordnung halten. Er hätte es sich gern etwas nett gemacht, aber er bekam nicht das Nötige dazu. Ebenso schlecht wurde für seine Kleidung gesorgt. Die Kinder bekamen, so lange sie kleiner waren, zu jedem Geburtstag schöne Sachen von uns geschenkt. Aber die »guten« Kleider wurden immer geschont und durften nicht getragen werden. Und später wurde es immer schwerer, ohne Anprobe etwas Passendes zu besorgen. Freunde konnte sich Werner nicht ins Haus bringen, weil seine Mutter auch dafür nicht zu haben war. So gewöhnte er sich daran, auf der Straße zu spielen. Später trat er in einen Sportverein ein, und das Ansehen, das er dort genoß, entschädigte ihn ein wenig für die Leiden des Familienlebens.
In diesen Jahren, in denen die Kinder heranwuchsen, spitzte sich alles schließlich zu einer Krisis zu. Die drei Kinder, die so schnell hintereinander kamen und die sie so lange nährte, zehrten an der Kraft der Mutter. Dem Haushalt war sie nicht gewachsen, wollte ihn aber durchaus ohne Dienstboten führen. So war sie immer übermäßig angestrengt und wurde immer nervöser. Auf der andern Seite litt mein Schwager unter den Schwierigkeiten, in die er im Berufsleben hineingeraten war, und in seiner Häuslichkeit fand er keine Entspannung. So bekamen wir eines Tages wieder eine Eilnachricht aus Hamburg, diesmal aber war der Inhalt niederschmetternd. Mein Schwager teilte unserer Mutter kurz mit, daß er seine Wohnung verlassen habe, und forderte sie auf, ihre Tochter zu sich zu holen; eher