Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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Ich antwortete mit einem herzlichen Trostbrief: sie solle über diesen Mißerfolg nicht trauern, vielleicht käme etwas Besseres nach; ich hätte bisher ja noch gar nichts unternommen und sei doch überzeugt, daß noch etwas Rechtes aus mir würde.

      Meine Mutter sorgte aus der Ferne, daß es nicht zu einsam für mich würde. Sie veranlaßte meinen ältesten Bruder Paul, seinen Urlaub in Hamburg zu verbringen und gab ihm strenge Weisung, mich zu allen Besichtigungen und Ausflügen mitzunehmen; Else müsse mich dafür freigeben. Das Schönste war eine zweitägige Fahrt nach Helgoland. Bis dahin war ich nicht über Cuxhaven hinausgelangt. Die Fahrt auf der Elbe hatte ich schon öfters gemacht. Diesmal hüllte uns dichter Nebel ein, so daß man von den schönen Ufern gar nichts sah. Alle paar Minuten ertönten die fürchterlichen Sirenen, um vorbeifahrende Schiffe anzukündigen; es war sehr nötig, denn man sah erst, wenn sie ganz nahe waren, gespenstische Umrisse. Plötzlich riß der Nebel und in hellem Sonnenlicht lag die Rheede vor Cuxhaven mit ihren vielen Dampfern, Masten und Segeln vor uns. Dann kam die weite Fläche des Meeres, durchsichtig-klar und grün. Und schließlich stiegen aus den grünen Wellen steil die roten Felsen der kleinen Insel auf. Da war die berühmte »Lästerbrücke«: der Landungssteg, von dem aus die gelangweilten Badegäste die anlegenden Schiffe und die Neuankömmlinge musterten. Schnell hatten wir das Unterland mit seinen großen Hotels durchquert; das Oberland mit seinen kleinen Fischerhäuschen und dem großen, weißen Leuchtturm gefiel mir besser. Dort oben nahmen wir in einer Pension Zimmer für die Nacht. Abends gingen wir noch einmal zu dem einsamen Leuchtturm hinaus. Nicht weit davon war ein Schaf an einen Pfahl gebunden. Es blökte jämmerlich, als wir in seine Nähe kamen, und aus seinen hellgrünen, wasserklaren Augen sprach ein solcher Abgrund der Todesangst und Verständnislosigkeit, daß ich es nie vergessen konnte. Von dem Zimmer, in dem ich schlief, konnte man das Meer sehen. Und nachts drang das Rauschen der Wellen bis zu mir herauf. Das alles freute mich so, daß ich kaum schlafen konnte.

      In den Sommerferien kam Erna und zu Weihnachten meine Mutter selbst, zwischendurch noch manche durchreisende Verwandte. Es ist mir, als sei ich im Verhältnis zu früher und später geistig etwas dumpfer gewesen. Aber körperlich entwickelte ich mich rasch und kräftig; das schmächtige Kind entfaltete sich zu fast frauenhafter Fülle; da außerdem die blonden Haare stark nachdunkelten, erkannte man mich in Breslau nach der Rückkehr kaum wieder. Ich wurde mit meiner Cousine Martha Courant verwechselt, an die ich schon früher immer erinnert hatte.

      Wie ich schon früher erwähnte, war die schwere Erkrankung unseres kleinen Neffen Harald der Anlaß, aus dem ich heimgerufen wurde. Es war Anfang März, an einem bitterkalten Abend, als ich ankam. Nur mein Bruder Arno und der treue Vetter Franz erwarteten mich an der Bahn. Meine Mutter ließ es sich sonst selten nehmen, uns selbst abzuholen. Diesmal ließen sie und die Schwestern sich durch die Witterung zurückhalten, sie waren wohl alle auch durch die Aufregungen der letzten Tage und die häufigen Krankenbesuche etwas angegriffen. Trotz der Trauerstimmung wurde ich mit großer Freude begrüßt. Meine Schwester Frieda erklärte lächelnd: »Wir haben gesagt, wenn sie jetzt nicht kommt, dann ist sie nicht unsere Schwester.« Das berührte mich peinlich zum Empfang, und ich zog mich gleich etwas in mich selbst zurück.

      Das kranke Kind starb wenige Tage später. Ich hatte nun eigentlich keine richtige Beschäftigung. Ich half ein wenig im Haushalt und übernahm ihn einmal für acht Tage ganz, während Rosa eine Gebirgswanderung machte. Sonst hatte ich viel freie Zeit. Ich benutzte sie hauptsächlich, um zu lesen – am liebsten Dramen: Grillparzer, Hebbel, Ibsen und vor allem Shakespeare waren mein tägliches Brot. In dieser farbenprächtigen Welt der großen Leidenschaften und Taten war ich viel heimischer als im Alltagsleben. Man störte mich nicht darin. Als ich mir aber eines Tages Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« herbeiholte, protestierten die älteren Schwestern energisch. Sie fürchteten für meine geistige Gesundheit, und ich mußte die beiden Bände ungelesen wieder in die Bibliothek zurücktragen.

      Die Zwillinge Hans und Franz kamen wieder fast täglich zu uns, seit ich zurück war; in meiner Abwesenheit hatten sie sich seltener bei uns blicken lassen und sich mehr mit unseren Cousinen Heidel und Grete Pick angefreundet, den älteren Schwestern meiner Klassengefährtin Leni. Sie kamen jetzt gewöhnlich nach dem Abendessen, da sie tagsüber beschäftigt waren, der eine als Jurist, der andere als Bankbeamter. Es wurde wieder viel musiziert, auch etwas Sport getrieben, Tennis gespielt und gerudert. Ich war nun kein ganz harmloses Kind mehr. Wenn ich meine Wünsche nicht zu äußern brauchte, sondern mit einem Blick erreichen konnte, was ich wollte, so freute es mich.

      Erna war jetzt Unterprimanerin und hatte viel zu arbeiten. Jedesmal, wenn es einen Aufsatz zu machen galt, kam sie stöhnend nach Hause. Dann ließ ich mir das Thema sagen, erkundigte mich nach den Anweisungen des Lehrers und besprach mit ihr, wie die Sache anzufangen sei: Zu jedem Sprichwort oder Zitat fielen mir gleich einige erläuternde Beispiele aus meinen geliebten Büchern ein. Dann machte ich ihr Mut anzufangen; und wenn das Schmerzenskind geboren war, bekam ich es zur Begutachtung. Manchmal war alles geglückt, nur die Einleitung fehlte noch. Dann schrieb ich die Einleitung dazu. Einmal gefiel mir der ganze Aufsatz nicht recht; ich setzte mich schnell hin und schrieb einen andern. Den fand nun Erna viel schöner als den ihren; sie gab nach einigem Zögern meinen ab. Er gefiel auch dem strengen Professor Olbrich. Übrigens hatte meine Schwester diese Hilfe gar nicht nötig, sie konnte selbst gute Aufsätze machen; aber sie liebte die Anstrengung nicht und hatte keine Freude am Schreiben wie ich. Einmal hatte sie Goethes Gedicht »Auf Miedings Tod« zu behandeln. Ich schrieb die Einleitung über die »humoristische« Schilderung der Weimarer Theaterverhältnisse in der Eingangsstrophe. »Humoristisch?« Erna guckte mich etwas zweifelnd an. In der Schule war nichts davon erwähnt worden, und es kam ihr wohl etwas merkwürdig vor, daß ein Trauergedicht einen humoristischen Anfang haben sollte. Ich ließ mich nicht beirren. »Lies doch nur! Es ist ganz klar.« Sie beruhigte sich und ließ die Einleitung stehen. Der Professor hatte nichts dagegen einzuwenden.

      Damals kam mir manchmal der Gedanke: Es wäre eigentlich gescheiter, selbst aufs Gymnasium zu gehen, als nur so gelegentlich ein bißchen mitzuarbeiten. Aber ich faßte es nicht ernstlich ins Auge; es war mir, als hätte ich vor einigen Jahren für immer den Anschluß verpaßt. Die ganze enge und weitere Familie wartete damals mit Spannung, was ich über meine Zukunft beschließen würde. Die Geschwister machten mir sogar mancherlei Vorschläge. Weil ich als Kind gern und viel gezeichnet hatte, fragten sie, ob ich nicht auf die Kunstschule gehen wollte. Ich lehnte es ab, denn es war mir ganz klar, daß kein ausreichendes Talent vorhanden war. Einmal nahm mich mein Bruder Arno zu einem ihm bekannten Photographen mit und erkundigte sich nach den Bedingungen für die Ausbildung in seinem Atelier. Ich hörte mir alles an und ließ dann die Sache auf sich beruhen. Ich konnte nicht handeln, solange kein innerer Antrieb vorhanden war. Die Entschlüsse stiegen aus einer mir selbst unbekannten Tiefe empor. Wenn so etwas einmal ins helle Licht des Bewußtseins getreten war und feste gedankliche Form angenommen hatte, dann ließ ich mich durch nichts mehr aufhalten; ja ich hatte eine Art sportlichen Vergnügens daran, scheinbar Unmögliches durchzusetzen

      Meine Mutter hatte die ganze Zeit geschwiegen; das schützte mich auch vor lästigem Drängen der andern. Gegen Ende des Sommers fragte sie einmal morgens, während sie mich frisierte – sie tat das noch gern, obgleich ich es längst selbst konnte –, ob ich denn zu gar nichts Lust hätte. Ich sagte, es täte mir leid, daß ich nicht aufs Gymnasium gegangen sei. Das brauchte mir doch nicht leid zu tun, meinte sie. Es fingen ja andere Leute mit 30 Jahren noch an; dann würde es wohl für mich mit noch nicht 16 nicht zu spät sein.

      Ein paar Tage darauf suchte sie mein Vetter Richard im Geschäft auf. Er hatte den Sommer in Zürich studiert und meldete sich als zurückgekehrt. Meine Mutter fragte ihn sofort meinetwegen um Rat. Er erklärte es für möglich, bis zum nächsten Juli – es war jetzt September – die Aufnahme nach Obersekunda zu erreichen. Die Mathematikstunden wollte er selbst übernehmen. Für Latein brachte er uns einen Altphilologen, der vor dem Abschluß seines Studiums stand und als tüchtiger Privatlehrer bekannt war. Herr Dr. Marek kam zu einer Besprechung: ein schlanker junger Mann mit einem Zwicker und sehr korrekten Manieren. Meine Mutter fragte ihn, ob er es übernehmen könne, mich bis zum nächsten Sommer für Obersekunda vorzubereiten. Er erklärte, das könne er heute noch nicht versprechen, denn es hinge ja nicht von ihm allein ab. Ich verstand den zarten Wink: daß er erst die Leistungsfähigkeit


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