Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.Philosophische Fakultät hatte sich vor einigen Jahren in eine mathematisch-naturwissenschaftliche und eine philologisch-historische Sparte geteilt. Die Philosophen mußten sich entscheiden, welcher sie angehören wollten. Trotz seiner eigenen mathematischen Vergangenheit und zum Ärger der Mathematiker, die sich für seine Berufung nach Göttingen eingesetzt hatten, wählte er die andere Sparte, aus der sachlichen Überzeugung, daß die Philosophie mehr innere Zusammengehörigkeit mit den Geisteswissenschaften habe. Zur Promotion in der philologischen Sparte aber wurde das humanistische Abitur verlangt. Hedwig Martius, die ebenso wie ich ein Realgymnasium besucht hatte, war mit der Preisarbeit, die sie bei Husserl gemacht hatte, zur Promotion nach München gegangen, weil dort diese Schwierigkeit nicht bestand. Ich war sofort entschlossen, die Ergänzungsprüfung im Griechischen nachzumachen, aber ich wollte das bis nach dem Staatsexamen verschieben, um nicht zuviel auf einmal zu haben. Es war mir darum sehr peinlich, als Frau Husserl mir einmal sagte, das Graecum müsse sechs Semester vor der Promotion gemacht werden. Ich ging sofort zum Dekan der philologischen Sparte – das war damals der Archäologe Körte –, um mich nach den Bestimmungen zu erkundigen. Er meinte, es möge wohl eine solche Vorschrift bestehen und er könne nicht wissen, wie ein späterer Dekan sich dazu verhalten würde; er persönlich würde immer dafür stimmen, von dieser Bedingung abzusehen. Um aber ganz sicher zu sein, könnte ich zu dem Philologen Hermann Schultz gehen, der hier in Göttingen die griechischen Anfängerkurse gab, und mir von ihm bescheinigen lassen, daß ich jetzt schon Griechisch könne. Ich frischte nun einige Wochen lang meine Kenntnisse aus den ersten Breslauer Semestern wieder auf und begab mich dann zu Herrn Dr. Schultz. Er war ein noch junger Privatdozent und wohnte bei seiner Mutter, die den ungewöhnlichen Titel »Frau Abt« führte. Das ehemalige Benediktinerkloster Bursfelde an der Weser war nämlich nach seiner Säkularisation der Universität Göttingen überwiesen worden; einer der protestantischen Theologen wurde jeweils mit der Verwaltung betraut und galt als »Abt«.
Hermann Schultz empfing mich freundlich. Als ich ihm mein Anliegen vortrug, bestellte er mich für den nächsten Tag zu einer kleinen Prüfung. Er legte mir Thukydides zur Übersetzung vor, von dem ich bisher noch nichts gelesen hatte, war aber von dem Ergebnis durchaus befriedigt. Er sagte, es freue ihn sehr, daß man mit Anfängerkursen doch so viel erreichen könne. Offenbar hatte er in seinem eigenen Unterricht bisher den Eindruck gehabt, daß er sich ziemlich umsonst plage. Ich bekam ein nettes Zeugnis mit, von dem ich hoffen konnte, daß es mir später zum Ziel helfen werde.
Mit meiner übrigen Lernerei aber machte ich trübe Erfahrungen. Ich hatte gehofft, daß ein einmaliges Durcharbeiten genügen würde. Nach einigen Wochen aber stellte ich mit Entsetzen fest, daß Vieles schon wieder meinem Gedächtnis entschwunden war. Wie sollte man es denn anstellen, um all diesen Kram zur rechten Stunde gegenwärtig zu haben? Diese Sorge aber wog noch leicht im Vergleich zu den Schmerzen, die mir meine philosophische Arbeit bereitete. Sie war ja bei weitem der größte Berg, den es in diesem Winter zu bewältigen galt. Ihr wurde auch der größte Teil des Tages gewidmet. Meine Tage waren recht lang; ich stand früh um sechs auf und arbeitete bis Mitternacht, fast ohne Unterbrechungen. Da ich meist allein aß, konnte ich auch während der Mahlzeiten nachdenken. Und wenn ich zu Bett ging, legte ich mir Papier und Bleistift auf dem Nachttisch zurecht, damit ich Gedanken, die mir nachts kämen, gleich festhalten könnte. Oft fuhr ich auf, weil mir im Traum etwas eingefallen war, was mir recht gescheit dünkte. Wenn ich es aber im Wachen fassen wollte, blieb mir nichts Greifbares.
Auch auf den Wegen zur Universität grübelte ich beständig an meinem Einfühlungsproblem herum. Ich verbrachte oft einen großen Teil des Tages im Philosophischen Seminar, um dort die Werke von Th{{eodor}} Lipps zu studieren. Manchmal ging ich gar nicht zum Mittagessen, sondern nahm nur etwas Backwerk mit, das ich in einer kleinen Arbeitspause verspeiste. Wenn ich zur festgesetzten Zeit von der philosophischen Arbeit zu den andern Fächern überging, hatte ich immer das Gefühl, als ob mein Gehirn sich um 180o herumdrehen müßte. Ich las Buch um Buch, machte große Auszüge, und je mehr Material sich ansammelte, desto wirbliger wurde es in meinen Kopf. Was Husserl sich – nach seinen spärlichen Andeutungen – unter Einfühlung dachte und was Lipps so nannte, hatte offenbar wenig miteinander zu tun. Bei Lipps war es geradezu der Zentralbegriff seiner Philosophie, es beherrschte seine Aesthetik, Ethik und Sozialphilosophie, spielte aber auch in der Erkenntnistheorie, Logik und Metaphysik eine Rolle. So mannigfaltig diese Gebiete, so vielfarbig schien mir der Begriff zu schillern, und ich quälte mich damit ab, etwas Einheitliches und Festes in den Griff zu bekommen, um von da aus alle Abwandlungen verstehen und entwickeln zu können. Zum erstenmal begegnete mir hier, was ich bei jeder späteren Arbeit wieder erfahren habe: Bücher nützten mir nichts, solange ich mir die fragliche Sache nicht in eigener Arbeit zur Klarheit gebracht hatte. Dieses Ringen um Klarheit vollzog sich nun in mir unter großen Qualen und ließ mir Tag und Nacht keine Ruhe. Damals habe ich das Schlafen verlernt, und es hat viele Jahre gedauert, bis mir wieder ruhige Nächte geschenkt wurden.
Nach und nach arbeitete ich mich in eine richtige Verzweiflung hinein. Es war zum erstenmal in meinem Leben, daß ich vor etwas stand, was ich nicht mit meinem Willen erzwingen konnte. Ohne daß ich es wußte, hatten sich die Kernsprüche meiner Mutter: »Was man will, das kann man« und »Wie man sich's vornimmt, so hilft der liebe Gott« ganz tief in mir festgesetzt. Oft hatte ich mich damit gerühmt, daß mein Schädel härter sei als die dicksten Mauern, und nun rannte ich mir die Stirn wund, und die unerbittliche Wand wollte nicht nachgeben. Das brachte mich so weit, daß mir das Leben unerträglich schien. Ich sagte mir oft selbst, daß das ja ganz unsinnig sei. Wenn ich die Doktorarbeit nicht fertigbrächte – fürs Staatsexamen würde es doch wohl reichen; und wenn ich keine große Philosophin werden könnte, dann doch vielleicht eine brauchbare Lehrerin. Aber die Vernunftgründe halfen nichts. Ich konnte nicht mehr über die Straße gehen, ohne zu wünschen, daß ein Wagen über mich hinwegführe. Und wenn ich einen Ausflug machte, dann hoffte ich, daß ich abstürzen und nicht lebendig zurückkommen würde.
Es ahnte wohl niemand, wie es in mir aussah. In der Philosophischen Gesellschaft und in Reinachs Seminar war ich glücklich bei der gemeinsamen Arbeit; ich fürchtete nur das Ende dieser Stunden, in denen ich mich geborgen fühlte, und den Wiederbeginn meiner einsamen Kämpfe. Einigemal im Semester verlangte Husserl Rechenschaft über den Fortgang meiner Arbeit. Ich mußte dann abends zu ihm kommen. Aber eine Erleichterung brachten diese Gespräche nicht. Wenn ich ein paar Worte gesagt hatte, so fühlte er sich selbst angeregt zu reden und sprach nun so lange, bis er zu müde war, um die Unterredung fortzusetzen. Ich ging fort und konnte mir sagen, daß ich manches gelernt hatte – aber wenig für meine Arbeit. So war auch der gewöhnliche Verlauf seiner Seminarsitzungen.
Hans Lipps hatte durch Mos von meinem Thema gehört und ließ mir sagen, er interessiere sich sehr dafür und wollte gern etwas von mir darüber hören. Einmal nach Husserls Seminar bat er mich, mit ihm zu kommen. Er führte mich auf dem nächsten Weg zu seiner Wohnung: d.h. im Dauerlauf durch das Botanische Institut, das dem Seminargebäude gegenüber lag, und den Botanischen Garten zur »Unteren Karspüle« 6. Im Institut flüsterte er mir zu: »Wenn wir jemandem begegnen, müssen wir sagen, daß wir Fräulein Ortmann besuchen, denn wir dürfen hier eigentlich nicht durchgehen.« Die Untere Karspüle war ein enges, gewundenes Gäßchen, hier wohnte Lipps in einem kleinen Häuschen bei Frau Maaß, einer Tischlersfrau von wenig einnehmenden Manieren, vor der er sich sehr fürchtete. So lange Hering in Göttingen war, hatte er auch hier gewohnt; wenn ich mich recht erinnere, auch noch einige ältere Phänomenologen. Wir stiegen eine sehr enge und steile Treppe hinauf und kamen in das »Arbeitszimmer«: ein winziges Stübchen mit spärlichem und armseligem Hausrat. Lipps stieß mit dem Kopf fast an die Decke, und wenn er in der Mitte des Zimmers die Arme ausbreitete, berührten seine Hände fast die Wände. Ein kleines Türchen führte in das noch winzigere Schlafkämmerchen. Ich mußte mich in die Sofaecke setzen, Lipps zog einen weißen Ärztekittel an, stopfte sich eine Pfeife, setzte sich an seinen kleinen, gelben Klapp-Schreibtisch und sah mich aus seinen großen, runden Augen erwartungsvoll an. Jetzt gab es kein Entrinnen: Ich mußte Rede und Antwort stehen, was ich mir unter Einfühlung dächte. Er schien nicht sehr befriedigt und hatte Einwände. Als ich aber sagte, Reinach habe mir zugestimmt, rief er lebhaft: »Dann durchstreichen Sie alles, was ich gesagt habe. Vor Reinach habe ich den größten Respekt.« Mit Reinach hatte ich zu Ende des Sommersemesters gesprochen, ehe ich es wagte, Husserl das Thema vorzuschlagen,