Die Welträtsel. Ernst Haeckel
Читать онлайн книгу.sondern eine nackte Tatsache war, fand sie dennoch ein halbes Jahrhundert hindurch nicht die mindeste Anerkennung. Besonders hinderlich war die mächtige Autorität von Haller, der sie hartnäckig bekämpfte mit dem Dogma: »Es gibt kein Werden! Kein Teil im Tierkörper ist vor dem anderen gemacht worden, und alle sind zugleich erschaffen.« Wolff, der nach Petersburg gehen mußte, war schon lange tot, als die vergessenen, von ihm beobachteten Tatsachen von Lorenz Oken in Jena (1806) aufs neue entdeckt und richtig gedeutet wurden.
Keimblätterlehre. Nachdem durch Oken die Epigenesistheorie von Wolff bestätigt worden war, warfen sich in Deutschland mehrere junge Naturforscher mit großem Eifer auf die genauere Untersuchung der Keimesgeschichte. Der bedeutendste war Karl Ernst Baer; sein berühmtes Hauptwerk erschien 1828 unter dem Titel: »Entwickelungsgeschichte der Tiere, Beobachtung und Reflexion«. Nicht allein sind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und vollständig beschrieben, sondern auch zahlreiche geistvolle Spekulationen daran geknüpft. Die zwei blattförmigen Schichten, welche in der runden Keimscheibe der höheren Wirbeltiere zuerst auftreten, zerfallen nach Baer zunächst in je zwei Blätter, und diese vier Keimblätter verwandeln sich in vier Röhren. Durch sehr verwickelte Prozesse der Epigenesis entstehen daraus die späteren Organe, und zwar bei dem Menschen und bei allen Wirbeltieren in wesentlich gleicher Weise. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer war eine der wichtigsten das menschliche Ei. Bis dahin hatte man beim Menschen, wie bei allen anderen Säugetieren, für Eier kleine Bläschen gehalten, die sich zahlreich im Eierstock finden. Erst Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in diesen Bläschen, den »Graafschen Follikeln«, eingeschlossen und viel kleiner sind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmesser, unter günstigen Verhältnissen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu sehen. Auch entdeckte er zuerst, daß aus dieser kleinen Eizelle der Säugetiere sich zunächst eine charakteristische Keimblase entwickelt, eine Hohlkugel mit flüssigem Inhalt, deren Wand die dünne Keimhaut bildet.
Eizelle und Samenzelle. Zehn Jahre, nachdem Baer der Embryologie durch seine Keimblätterlehre eine feste Grundlage gegeben, entstand für dieselbe eine neue wichtige Aufgabe durch die Begründung der Zellentheorie (1838). Wie verhalten sich das Ei der Tiere und die daraus entstehenden Keimblätter zu den Geweben und Zellen, welche den entwickelten Tierkörper zusammensetzen? Die richtige Beantwortung dieser inhaltschweren Frage gelang um die Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Schülern von Johannes Müller: Robert Remak und Albert Kölliker. Sie wiesen nach, daß das Ei ursprünglich nichts anderes ist als eine einfache Zelle, und daß auch die zahlreichen Keimkörper oder »Furchungskugeln«, welche durch wiederholte Teilung daraus entstehen, einfache Zellen sind. Aus diesen »Furchungzellen« bauen sich zunächst die Keimblätter auf, und weiterhin durch Arbeitsteilung oder Differenzierung derselben die verschiedenen Organe. Kölliker erwarb sich das große Verdienst, auch die schleimartige Samenflüssigkeit der männlichen Tiere als Anhäufung von mikroskopischen kleinen Zellen nachzuweisen. Die beweglichen stecknadelförmigen »Samentierchen« (Spermatozoen) sind nichts anderes als eigentümliche »Geißelzellen«, wie ich (1866) zuerst an den Samenfäden der Schwämme nachgewiesen habe. Damit war für beide wichtige Zeugungsstoffe der Tiere, das männliche Sperma und das weibliche Ei, bewiesen, daß auch sie der Zellentheorie sich fügen.
Gasträatheorie. Alle älteren Untersuchungen über Keimbildung betrafen den Menschen und die höheren Wirbeltiere, vor allem aber den Vogelkeim: denn das Hühnerei ist das größte und bequemste Objekt dafür und steht jederzeit in beliebiger Menge zur Verfügung; man kann in der Brutmaschine sehr bequem das Ei ausbrüten und dabei stündlich die ganze Reihe der Umbildungen, von der einfachen Eizelle bis zum fertigen Vogelkörper innerhalb dreier Wochen beobachten. Auch Baer hatte nur für die verschiedenen Klassen der Wirbeltiere die Übereinstimmung in der charakteristischen Bildung der Keimblätter und in der Entstehung der einzelnen Organe aus derselben nachweisen können. Dagegen in den zahlreichen Klassen der Wirbellosen — also der großen Mehrzahl der Tiere — schien die Keimung in wesentlich verschiedener Weise abzulaufen, und den meisten schienen wirkliche Keimblätter ganz zu fehlen. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden solche auch bei einzelnen Wirbellosen nachgewiesen, so von Kölliker 1844 bei den Cephalopoden und von Huxley 1849 bei den Medusen. Besonders wichtig wurde sodann die Entdeckung von Kowalevsky (1866), daß das niederste Wirbeltier, der Lanzelot oder Amphioxus, sich genau in derselben, und zwar in einer sehr ursprünglichen Weise entwickelt wie ein wirbelloses, anscheinend ganz entferntes Manteltier, die Seescheide oder Ascidia. Auch bei verschiedenen Würmern, Sterntieren und Gliedertieren wies Kowalevsky eine ähnliche Bildung der Keimblätter nach. Ich selbst war damals (seit 1866) mit der Entwickelungsgeschichte der Spongien, Korallen, Medusen und Siphonophoren beschäftigt, und da ich auch bei diesen niedersten Klassen der vielzelligen Tiere überall dieselbe Bildung von zwei primären Keimblättern fand, gelangte ich zu der Überzeugung, daß dieser bedeutungsvolle Keimungsvorgang im ganzen Tierreiche derselbe ist.
Besonders wichtig erschien mir dabei der Umstand, daß bei den Schwammtieren und bei den niederen Nesseltieren (Polypen, Medusen) der Körper lange Zeit hindurch oder selbst zeitlebens nur aus zwei einfachen Zellenschichten besteht. Schon Huxley hatte sie bei den Medusen mit den beiden primären Keimblättern der Wirbeltiere verglichen. Gestützt auf diese Beobachtungen und Vergleichungen, stellte ich dann 1872 in meiner »Biologie der Kalkschwämme« die »Gasträatheorie« auf, deren wesentlichste Lehrsätze folgende sind: I. Das ganze Tierreich zerfällt in zwei wesentlich verschiedene Hauptgruppen: die einzelligen Urtiere (Protozoa) und die vielzelligen Gewebtiere (Metazoa); der ganze Organismus der Protozoen bleibt zeitlebens eine einfache Zelle (seltener ein lockerer Zellverein ohne Gewebebildung, ein Coenobium). II. Dagegen ist der Organismus der Metazoen nur im ersten Beginn einzellig, später aus vielen Zellen zusammengesetzt, welche Gewebe bilden. III. Nur bei den Metazoen entstehen wirkliche Keimblätter, und aus diesen Gewebe, die den Protozoen noch ganz fehlen. IV. Bei allen Metazoen entstehen zunächst nur zwei primäre Keimblätter, die überall dieselbe wesentliche Bedeutung haben: aus dem äußeren Hautblatt entwickelt sich die äußere Hautdecke und das Nervensystem, aus dem inneren Darmblatt hingegen der Darmkanal und alle übrigen Organe. V. Die Keimform, welche überall zunächst aus dem befruchteten Ei hervorgeht, und welche allein aus diesen beiden primären Keimblättern besteht, ist die Darmlarve oder der Becherkeim (Gastrula); ihr becherförmiger, zweischichtiger Körper umschließt ursprünglich eine einfache verdauende Höhle, den Urdarm, und dessen einfache Öffnung ist der Urmund. Dies sind die ältesten Organe des vielzelligen Tierkörpers, und die beiden Zellenschichten seiner Wand sind seine ältesten Gewebe; alle anderen Organe und Gewebe sind erst später (sekundär) daraus hervorgegangen. VI. Aus dieser Gleichartigkeit oder Homologie der Gastrula in sämtlichen Stämmen und Klassen der Gewebtiere zog ich nach dem Biogenetischen Grundgesetze den Schluß, daß alle Metazoen ursprünglich von einer gemeinsamen Stammform abstammen, Gasträa, und daß diese uralte, längst ausgestorbene Stammform im wesentlichen die Körperform und Zusammensetzung der heutigen, durch Vererbung erhaltenen Gastrula besaß. VII. Dieser phylogenetische Schluß aus der Vergleichung der ontogenetischen Tatsachen wird auch dadurch gerechtfertigt, daß noch heute einzelne Gasträaden existieren, sowie älteste Formen anderer Tierstämme, deren Organisation sich nur sehr wenig über diese letzteren erhebt. VIII. Bei der weiteren Entwickelung der verschiedenen Gewebtiere aus der Gastrula sind zwei verschiedene Hauptgruppen zu unterscheiden: Die älteren Niedertiere (Coelenteria) bilden noch keine Leibeshöhle und besitzen weder Blut noch After; das ist der Fall bei den Gasträaden, Spongien, Nesseltieren und Plattentieren. Die jüngeren Obertiere (Coelomaria) hingegen besitzen eine echte Leibeshöhle und meistens auch Blut und After; dahin gehören die Wurmtiere (Vermalia) und die höheren typischen Tierstämme, welche sich aus diesen entwickelt haben, die Sterntiere, Weichtiere, Gliedertiere, Manteltiere und Wirbeltiere.
Eizelle und Samenzelle des Menschen. Das Ei des Menschen ist, wie das aller anderen Gewebtiere, eine einfache Zelle, und diese kleine kugelige Eizelle (von nur 0,2 mm Durchmesser) hat dieselbe charakteristische