Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
Читать онлайн книгу.Haar; dann kleidete er sich langsam und bedenklich an, und als er fertig war, getraute er sich nicht hervorzukommen, sondern setzte sich auf einen Stuhl und stellte allerlei Betrachtungen an. Da fiel sein Blick auf seine schlechten, beschmutzten Kleider, die am Boden lagen, und er schämte sich, daß er sie nun da lassen sollte, und wußte nicht, was mit ihnen zu beginnen sei, bis er sie wieder anzöge. »Wahrhaftig«, sagte er, »ganz, wie ich es geträumt! Nun, zum Teufel, solange das Leben so alle Traumgedichte überbietet, wollen wir munter sein!« Er glaubte sich endlich am besten aus der Sache zu ziehen, wenn er die armen Kleidchen ordentlich zusammenlegte. Er legte sie säuberlich auf einen Stuhl in der Ecke, stellte die zerrissenen Stiefelchen ehrbar unter den Stuhl, als ob es die feinste Fußbekleidung wäre, und machte sich endlich auf den Weg nach dem Saale.
Dort fand er unversehens den Grafen vor nebst einem stattlichen katholischen Priester, die beide von der Jagd gekommen schienen; denn der Graf war im grünen Jagdkleide mit hohen Stiefeln, und der Geistliche trug noch über seinen wohlausgefüllten schwarzen Rock eine Weidtasche, und seine kanonischen Stiefeln waren arg voll Kot. Auf dem Boden lagen Hasen und Hühner nebst einem toten Reh, und am Tische lehnten die Gewehre. Der Graf selbst war ein großer schöner Mann, und Heinrich erkannte ihn sogleich wieder, nur daß seine Haare und sein Bart stark mit Grau gefärbt waren, was ihm indessen sehr wohl anstand. Er ging rasch auf Heinrich zu, schüttelte ihm die Hand und sagte »Das ist ja eine kostbare Geschichte, hören Sie! Nun sein Sie willkommen, junger Mann! Ich erinnere mich Ihrer noch sehr wohl und bin neugierig wie ein Stubenmädchen, was Sie uns zu erzählen haben werden. Morgen wollen wir des weitläufigsten plaudern, jetzt aber ungesäumt ans Abendbrot gehen! Herr Pfarrer! Sie werden nichts dagegen haben, kommen Sie!«
Er faßte Heinrich unter den Arm, der Pfarrer gab der Dorothea den Arm, indem er einen höflichen Kratzfuß machte und ein schalkhaft lächelndes Gesicht schnitt, und so brach die Gesellschaft auf und ging durch einen langen Garten nach dem Hause, während die Gärtnerstochter ihrer Herrenfreundin mutwillig Gutnacht nachrief. Man trat jetzt in ein wohlgeheiztes behagliches Zimmer und setzte sich um einen runden Tisch, der bereits sehr elegant und stattlich gedeckt und angerichtet war, und Heinrich aß abermals und mit gutem Behagen, da das sichere und edle Wesen des gräflichen Mannes ihn vollständig aufgeweckt und beruhigt hatte. Denn für einen ordentlichen Menschen ist es fast ebenso wohltuend und erbaulich, einen wohlbestellten, schönen und rechten Mann zu sehen als schöne und gute Frauen.
Die trefflichen Leute unterhielten sich heiter und behaglich, ohne Heinrich besonders in Anspruch zu nehmen, und es atmete alles, was sie sagten, ein festes und offenes Gemüt. Doch sagte der Graf nach einer Weile zu ihm »Es ist doch eine allerliebste Geschichte! Ei, erinnern Sie sich auch noch der Ursache unserer Bekanntschaft, der groben Schlingel, die Ihnen damals die Mütze abschlugen?«
»Sicher«, sagte Heinrich lachend, »aber was diesen Punkt betrifft, so habe ich heute bei meinem Abzug jenen Einzugsgruß mit Zinsen zurückgegeben!« Er erzählte hierauf sein Abenteuer mit dem Flurschützen. Der Graf warf ihm einen feurigen Blick zu und sagte »Wenn Sie aber müde sind, so gehen Sie ohne Zaudern zu Bett, damit wir morgen desto munterer sind!«
»Wenn Sie’s erlauben!« sagte Heinrich, stand auf und machte die zierlichste Verbeugung, die er in seinem Leben je gemacht und von der er am Morgen nicht geträumt hätte, daß er sie je machen würde; doch mußte er beinahe dazu lachen. Die kleine Gesellschaft lächelte ebenfalls freundlich, stand auf und entließ ihn mit Wohlwollen, worauf in einem guten Schlafzimmer er sich ins Bett warf und, ohne einen weitern Gedanken zu verlieren, sofort einschlief.
Zehntes Kapitel
Heinrich schlief wie ein Murmeltier bis zwölf Uhr des andern Tages; eben erwachte er und rieb sich sehr zufrieden die Augen, als der Graf hereinkam und sich nach ihm umsah. »Guten Tag, mein Lieber! Wie geht’s Ihnen?« sagte er und setzte sich an das Bett, »bleiben Sie ruhig liegen und duseln sich gemütlich aus!« Heinrich tat das auch und sagte »O es geht gut, Herr Graf! Wieviel Uhr ist es denn?« – »Es ist gerade zwölf Uhr«, erwiderte jener, »es freut mich, daß Sie in meinem Hause so gut geschlafen haben. Nun halten Sie vorerst eine gute Einkehr bei uns und tun Sie ganz, als ob Sie bei den besten und zuverlässigsten Freunden wären, von denen Sie wohl hergestellt und guten Mutes wieder auslaufen werden! Aber nun hören Sie, Sie sind mir ja ein köstlicher Gesell! Wir blieben gestern nacht noch ziemlich lange auf, und da wir von Ihnen sprachen, fiel uns ein, daß die Bildermappe noch im übel verschlossenen Gartensaale lag. Ich gehe selbst hin, sie zu holen, denn ich wünschte nicht, daß irgendein Unheil damit geschehe, und bemerke, daß auf dem Kaminsims ein kleines verkommenes Paketchen liegt; ich mußte lachen und dachte Gewiß sind dies die armütigen Effektchen unseres armen Kauzes von Vagabunden! Ich nahm es in die Hand und fand, daß die Hülle vom Regen und vom Tragen aufgelöst war und auseinanderfiel, und siehe da, statt etwa eines Strumpfes oder eines Schnupftuches, wie ich dachte, fällt mir ein ganz durchnäßtes Buch in die Hand; neugierig schlage ich es auf und sehe lauter Geschriebenes, und indem ich die erste Seite lese, vermute ich sogleich, daß Sie Ihre eigene Geschichte geschrieben haben. Ich sehe das Ding etwas genauer an und erkenne an den Data, daß es Ihre Jugendgeschichte ist, die Sie schon damals mit in die Fremde genommen haben und mit welchem Buche der Erinnerung, als Ihrer letzten Habseligkeit, Sie sich wieder aus dem Staube machen! Ich laufe mit den Sachen zurück und rufe: ›Seht, Leute! Unser Mensch schlägt sich mit seinem Jugendbuche durch Regen und Sturm, wie Vetter Camoens mit seinem Gedichte durch die Wellen! Der Spaß wird köstlich!‹ Dortchen nimmt das Buch und besieht es von allen Seiten. ›Ach du lieber Himmel‹, ruft sie, ›das arme Buch ist ja durch und durch naß und droht zugrunde zu gehen! Das muß sogleich getrocknet werden!‹ Es wird ein frisches Feuer in den Ofen gemacht, das Mädchen setzt sich auf ein Taburettchen davor und hält das Buch, die Blätter auseinanderschüttelnd und es umwendend und kehrend, sorgfältig an das Feuer, und in weniger als einer Viertelstunde ist das tapfere Werk heil und gerettet. Nun aber lasen wir noch länger als zwei Stunden darin, an verschiedenen Stellen, und wechselten mit dem Vorlesen ab, und diesen ganzen Vormittag hab ich auf meiner Stabe darin gelesen. Auf den letzten Blättern stehen einige Gedichte, die haben Sie allem Anscheine nach erst neulich gemacht und hineingeschrieben?« Heinrich bejahte dies und wurde rot, und der Graf fuhr fort »Ich will mich gar nicht entschuldigen für unsere Indiskretion; es macht sich so alles von selbst, und wir wollen unsere Unverschämtheit nun mit gänzlicher Freundschaftlichkeit abbüßen. Zuerst muß ich Sie einmal küssen, Sie sind ein allerliebster Kerl!«
»Bitte, Herr Graf!« sagte Heinrich und duckte sich ein bißchen unter die Decke, »Sie sind allzu gütig; aber ich mache mir nicht viel daraus, Männer zu küssen!«
»Ei, sieh da!« rief der treffliche Mann, »Sie schlaues Bürschchen! Aber trotz alledem müssen Sie mich doch ein bißchen wohl leiden, ich verlange es!«
»O gewiß, sag ich Ihnen«, erwiderte Heinrich, mit schüchternen und doch zutulichen Worten; »ich kann Sie gar nicht genug ansehen, so sehr gefallen Sie meinen Augen und meinem Herzen!« Und er sah ihn dabei wirklich mit glänzenden Augen an.
»Nun denn«, sagte der Graf mit feinem und gerührtem Lächeln, »so müssen Sie durchaus geküßt sein zur Besiegelung unseres guten Einvernehmens!« Er umarmte Heinrich und küßte ihn herzlich, und dieser küßte ihn, sein leises Sträuben aufgebend, herzhaft, und seine Augen füllten sich mit salzig heißem Wasser, da er endlich einen solchen ältern Männerfreund gefunden nach langem Irrsal. Denn über einen rechten Mann scheint die Welt wieder gelungen, recht und hoffnungsvoll zu sein. Schweigend sah er den Grafen an, und dieser schwieg auch eine Weile; dann drückte Heinrich die Augen in das Kissen und suchte sie verstohlen zu trocknen, sagte aber dann »Es geht mir recht närrisch! Als ich ein Schuljunge war, war nichts imstande, mir Tränen zu entlocken, und ich galt für einen verstockten Burschen; seit ich groß geworden bin, ist der Teufel alle Augenblick los, und höchstens bring ich es zu einem oder zwei gänzlich trockenen Jahrgängen!«
Der Graf nahm seine Hand und sprach »Gedulden Sie sich noch ein paar Jährchen, und dann wird es vorbei sein und standhaftes trockenes Sommerwetter werden. Es ging mir geradeso vor zwanzig und dreißig