Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
Читать онлайн книгу.mir das Blut zu Kopfe, und ich möchte mit aller Gewalt die Schuld auf jene leichtgläubigen Inquisitoren schieben, ja sogar die plauderhafte Frau anklagen, welche auf die verpönten Worte gemerkt und nicht geruht hatte, bis ein bestimmter Ursprung derselben nachgewiesen war. Drei der ehemaligen Schulgenossen verziehen mir und lachten, als sie sahen, wie mich die Sache nachträglich beunruhigte, und sie freuten sich, daß ich zu ihrer Genugtuung mich alles einzelnen so wohl erinnerte. Nur der vierte, ein etwas beschränkter Mensch, der viele Mühe mit dem Leben hat, konnte niemals einen Unterschied machen zwischen der Kinderzeit und dem spätern Alter und trug mir die angetane Unbilde so nach, als ob ich sie erst heute, mit dem Verstande eines Erwachsenen, begangen hätte. Mit dem tiefsten Hasse geht er an mir vorüber, und wenn er mir beleidigende Blicke zuwirft, so vermag ich sie nicht zu erwidern, weil das Unrecht doch auf mir ruht und keiner von uns es vergessen kann.
Siebentes Kapitel
Ich hatte mich nunmehr in der Schule zurechtgefunden und befand mich wohl in derselben, da das erste Lernen rasch aufeinanderfolgte und, leicht faßlich, täglich fortschritt. Auch die Einrichtung derselben hatte viel Kurzweiliges, ich ging gern und eifrig hinein, sie bildete mein öffentliches Leben und war mir ungefähr, was dem neugierigen Athenienser die Gerichtsstätte und das Theater. Es war keine öffentliche Anstalt, sondern das Werk eines gemeinnützigen wohltätigen Vereins und dazu bestimmt, bei dem damaligen Mangel guter niedriger Volksschulen, den Kindern dürftiger Leute eine bessere Erziehung zu verschaffen, und hieß daher Armenschule. Die Pestalozzische Unterrichtsweise wurde angewendet, und zwar mit einem Eifer und einer Hingebung, welche gewöhnlich nur Eigenschaften von leidenschaftlichen Privatschulmännern zu sein pflegen. Mein Vater hatte bei seinen Lebzeiten für die Einrichtung und für die Ergebnisse dieser Anstalt geschwärmt und oft den Entschluß ausgesprochen, meine ersten Schuljahre in derselben verfließen zu lassen, schon darin eine Erziehungsmaßregel suchend, daß ich mit den ärmsten Kindern der Stadt meine frühsten Jugendjahre zubrächte und aller Kastengeist und Hochmut so im Keime erstickt würden. Diese Absicht war für meine Mutter ein heiliges Vermächtnis und erleichterte ihr die Wahl der ersten Schule für mich. In einem großen Saale wurden etwa hundert Kinder unterrichtet, zur Hälfte Knaben, zur Hälfte Mädchen, vom fünften bis zum zwölften Jahre. Sechs lange Schulbänke standen in der Mitte, von dem einen Geschlechte besetzt, jede bildete eine Altersklasse, und davor stand ein vorgeschrittener Schüler von elf bis zwölf Jahren und unterrichtete die ganze Bank, welche ihm anvertraut war, indessen das andere Geschlecht in Halbkreisen um sechs Pulte herum stand, die längs den Wänden angebracht waren. Inmitten jedes Kreises saß auf einem Stühlchen ebenfalls ein unterrichtender Schüler oder eine Schülerin. Der Hauptlehrer thronte auf einem erhöhten Katheder und übersah das Ganze, zwei Gehülfen, aus ehemaligen Schülern herangezogen, standen ihm bei, machten die Runde durch den ziemlich düstern Saal, hier und dort einschreitend, nachhelfend und die gelehrtesten Dinge selbst beibringend. Jede halbe Stunde wurde mit dem Gegenstande gewechselt, der Oberlehrer gab ein Zeichen mit einer Klingel, und nun wurde ein treffliches Manöver ausgeführt, mittelst dessen die hundert Kinder in vorgeschriebener Bewegung und Haltung, immer nach der Klingel, aufstanden, sich kehrten, schwenkten und durch einen wohlberechneten Contre-Marsch in einer Minute die Stellung wechselten, so daß die früher funfzig Sitzenden nun zu stehen kamen und umgekehrt. Es war immer eine unendlich glückliche Minute, wenn wir, die Hände reglementarisch auf dem Rücken verschränkt, die Knaben bei den Mädchen vorbeimarschierten und unsern soldatischen Schritt gegen ihr Gänsegetrippel hervorzuheben suchten. Ich weiß nicht, war es eine artige herkömmliche Vergessenheit, oder eine Pietät, oder gar eine Absicht, daß es erlaubt war, Blumen mitzubringen und während des Unterrichts in den Händen zu halten, wenigstens habe ich diese hübsche Lizenz in keiner andern Schule mehr gefunden; aber es war immer gut anzusehen während des lustigen Marsches, wie fast jedes Mädchen eine Rose oder eine Nelke in den Fingern auf dem Rücken hielt, während die Buben die Blumen im Munde trugen wie Tabakspfeifen oder dieselben burschikos hinter die Ohren steckten. Es waren alles Kinder von Holzhackern, Tagelöhnern, armen Schneidern, Schustern und von almosengenössigen Leuten. Habliche Handwerker durften ihres Ranges und Kredits wegen die Schule nicht benutzen. Daher war ich der best und reinlichst gekleidete unter den Buben und galt für halb vornehm, obgleich ich bald sehr vertraulich war mit den buntscheckig geflickten armen Teufeln, ihren Sitten und Gewohnheiten, insofern sie mir nicht allzu fremd und unfreundlich waren. Denn obgleich die Kinder der Armen nicht schlimmer und etwa boshafter sind als die der Reichen oder sonst Geborgenen, im Gegenteil eher unschuldiger und gutmütiger, so haben sie doch manchmal äußerliche grinsende Derbheiten in ihren Gebärden, welche mich bei einigen Mitschülern abstießen.
Die erste männliche Kleidung, welche ich erhielt, war grün, da meine Mutter aus der Schützenkleidung des Vaters eine Zwillingstracht für mich schneiden ließ, für den Sonntag einen Anzug und für die Werktage einen. Auch fast alle nachgelassenen bürgerlichen Gewänder waren von grüner Farbe; bis zu meinem zwölften Jahre aber reichte der Nachlaß zur Herstellung von grünen lacken und Röcklein aus bei der großen Strenge und Aufmerksamkeit der Mutter für Schonung und Reinhaltung der Kleider, so daß ich von der unveränderlichen Farbe schon früh den Namen »grüner Heinrich« erhielt und in unserm Städtchen bis auf den heutigen Tag trug. Als solcher machte ich in der Schule und auf der Gasse bald eine bekannte Figur und benutzte meine grüne Popularität zur steten Fortsetzung meiner Beobachtungen und chorartiger Teilnahme an allem, was geschah und gehandelt wurde. Die tatkräftigen und stimmführenden Größen der Bubenwelt ließen meine Nähe immer gelten, nahmen mich in Schutz und entdeckten öfter mit wohlwollender Herablassung, daß ich zu mehrerem zu gebrauchen sei, als es den Anschein hatte; einzelne schlossen sich an mich an und blieben mir dann längere Zeit getreu in allerlei Bestrebungen. Ich drang mit den verschiedensten Kindern, je nach Bedürfnis und Laune, in die elterlichen Häuser und war als ein vermeintlich stilles gutes Kind gern gesehen, während ich mir genau den Haushalt und die Gebräuche der armen Leute ansah und dann wieder wegblieb, um mich in mein Hauptquartier bei der Frau Margret zurückzuziehen, wo es am Ende immer am meisten zu sehen gab. Sie freute sich, daß ich bald imstande war, nicht nur das Deutsche geläufig vorlesen, sondern auch die in ihren alten Büchern häufigen lateinischen Lettern erklären zu können sowie die arabischen Zahlen, die sie nie verstehen lernte. Ich verfertigte ihr auch allerlei Notizen in Frakturschrift auf Papierzettel, welche sie aufbewahren und bequem lesen konnte, und ward auf diese Weise ihr kleiner Geheimschreiber. Schon sah sie, die mich für ein großes Genie hielt, einen ihrer zukünftigen, klugen Glückmacher in mir und war im voraus meiner glänzenden Laufbahn froh. Wirklich machte mir das Lernen weder Mühe noch Kummer, und ich war, ohne zu wissen wie, zu der Würde herangediehen, die kleineren Genossen unterrichten zu dürfen. Dieses geriet mir zu einer neuen Lust, vorzüglich weil ich, ausgerüstet mit der Macht zu lohnen und zu strafen, kleine Schicksale kombinieren, Lächeln und Tränen, Freund- und Feindschaft hervorzaubern konnte. Sogar die Frauenliebe spielte ihre ersten schwachen Morgenwölkchen dazwischen. Wenn ich in einem Halbkreise von neun bis zehn kleinen Mädchen saß, so war der erste ehrenvollste Platz bald zunächst meiner Seite, bald war es der letzte, je nach der Gegend in dem großen Saale. So geschah es, daß ich die Mädchen, welche ich gern sah, entweder fortwährend oben hielt in der Region des Ruhmes und der Tugend oder aber sie stets niederdrückte in die dunkle Sphäre der Sünde und der Vergessenheit, in beiden Fällen immer zunächst meinem tyrannischen Herzen. Dieses aber ward selbst reichlich mitbewegt, wenn ich oft von der ohne Verdienst erhobenen Schönen kein Lächeln des Dankes erhielt, wenn sie die unverdiente Ehre hinnahm, als ob sie ihr gebührte, und es mir durch mutwillige rücksichtslose Streiche unendlich erschwerte, sie auf der glatten Höhe zu halten ohne auffallende Ungerechtigkeit. Wenn ich hingegen eine andere Geliebte, jede kleine Unaufmerksamkeit benutzend, nach und nach heruntergebracht hatte bis auf den letzten ruhmlosen Platz an meiner Seite, nicht achtend auf ihre kummervollen Tränen oder vielmehr angenehm durchschauert durch dieselben, so suchte ich das Leid dann durch verdoppelte Freundlichkeit aufzuhellen, bis mich die hartnäckige Trauer, welche nichts von meinen wahren Gefühlen ahnen wollte, langweilte und ich die spröde Unglückliche jählings wieder hinaufjagte in die heitere kühle Höhe, wo sie wieder fröhlich wurde, während ich eine kleine unverbesserliche Sünderin ohne