Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
Читать онлайн книгу.der einfachen Gesundheit dieses Hauses und der ländlichen Luft.
Gleich am ersten Tage nach meiner Ankunft stellte mir der Oheim, um mich wieder auf eine reale Balm zu leiten, die Aufgabe, seine Besitzung, Haus, Garten und Bäume, genau und bedächtig zu zeichnen und ein getreues Bild davon zu entwerfen. Er machte mich aufmerksam auf alle Eigentümlichkeiten und auf das, was er besonders hervorgehoben wünschte, und wenn seine Andeutungen auch eher dem Bedürfnisse eines rüstigen Besitzers als denjenigen eines Kunstverständigen entsprachen, so ward ich doch dadurch genötigt, die Gegenstände wieder einmal genau anzusehen und in allen ihren eigentümlichen Oberflächen zu verfolgen. Die allereinfachsten Dinge am Hause selbst, sogar die Ziegel auf dem Dache, gaben mir nun wieder mehr zu schaffen, als ich je gedacht hatte, und veranlaßten mich, auch die umstehenden Bäume in gleicher Weise gewissenhafter zu zeichnen; ich lernte die aufrichtige Arbeit und Mühe wieder kennen, und indem darüber eine Arbeit entstand, die mich in ihrer anspruchlosen Durchgeführtheit selbst unendlich mehr befriedigte als die marktschreierischen Produkte der jüngsten Zeit, erwarb ich mir mit saurer Mühe den Sinn des Schlichten, aber Wahren.
Inzwischen erfreute ich mich des Wiederfindens alles dessen, was ich im letzten Jahre hier verlassen, beobachtete alle Veränderungen, welche etwa vorgefallen, und harrte im stillen auf den Augenblick, wo ich Anna wiedersehen oder wenigstens zuerst ihren Namen hören würde. Aber schon waren einige Tage verflossen, ohne daß die geringste Erwähnung fiel, und je länger dies andauerte, desto minder brachte ich die Frage nach ihr hervor. Man schien sie völlig vergessen zu haben, sie schien nie dagewesen zu sein, und, was mich innerlich kränkte, niemand schien die geringste Ahnung zu haben, daß ich irgendeine Veranlassung oder ein Bedürfnis haben könnte, von ihr zu hören. Wohl ging ich halbwegs über den Berg oder in den Schatten des Flußtales, allein jedesmal kehrte ich plötzlich um aus unerklärlicher Furcht, ihr zu begegnen. Ich ging auf den Kirchhof und stand an dem Grabe der Großmutter, welche nun schon seit einem Jahre in der Erde lag, aber die Luft war windstill vom Gedächtnisse Annas, die Gräser schienen nichts von ihr zu wissen, die Blumen flüsterten nicht ihren Namen, Berg und Tal schwiegen von ihr, nur mein Herz tönte ihn laut hinaus in die undankbare Stille.
Endlich wurde ich gefragt, warum ich den Schulmeister nicht besuche? und da ergab es sich zufällig, daß Anna schon seit einem halben Jahre nicht mehr im Lande sei und daß man meine Kunde hierüber vorausgesetzt habe. Ihr Vater hatte, in seiner steten Sehnsucht nach Bildung und Feinheit der Seele und in Betracht, daß nach seinem Tode sein Kind, das einmal für eine Bäuerin zu zart sei, verlassen in der rauhen dörflichen Umgebung bleiben würde, sich plötzlich entschlossen, Anna in eine Bildungsanstalt der französischen Schweiz zu bringen, wo sie sich feinere Kenntnisse und Selbständigkeit des Geistes erwerben sollte. Er ließ sich, als sie ihre Abneigung dagegen aussprach, durch ihre Tränen nicht erweichen, allein auf die Befriedigung seiner Wünsche bedacht, und begleitete das ungern scheidende Kind in das Haus des fernen, vornehm-religiösen Erziehers, wo sie nun noch wenigstens ein volles Jahr zu bleiben hatte. Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag aus blauem Himmel. Nun wurde das ganze Land wieder beredt und voll ihres Lobes! Jedes Gras und jedes Blatt am Baume sprach mir von ihr, der blaue Himmel hier schien mir tausendmal schöner und sehnsüchtiger als anderswo, die blauen Bergzüge und die weißen Wolken zogen ihr nach, und von Westen her, wo Anna weilte, dünkte es mir leis, aber selig über die Bergrücken herzuläuten.
Ich ging nun alle Tage zu ihrem Vater, begleitete ihn auf seinen Wegen und hörte von ihr sprechen; oft blieb ich mehrere Tage dort, alsdann wohnte ich in ihrem Kämmerchen, wagte mich jedoch fast nicht zu rühren darin und betrachtete die wenigen einfachen Gegenstände, welche es enthielt, mit heiliger Scheu. Es war klein und enge, die Abendsonne und der Mondschein füllten es immer ganz aus, daß kein dunkler Punkt darin blieb und es bei jener wie ein rotgoldenes, bei diesem wie ein silbernes Juwelenkästchen aussah, dessen Kleinod ich nicht verfehlte mir hineinzudenken.
Wenn ich nach malerischen Gegenständen umherstreifte, so suchte ich vorzüglich die Stellen auf, wo ich mit Anna geweilt hatte; so war die geheimnisvolle Felswand am Wasser, wo ich mit ihr geruhet und jene Erscheinung gesehen, schon von mir gezeichnet worden, und ich konnte mich nun nicht enthalten, auf der schneeweißen Wand des Kämmerchens ein sauberes Viereck zu ziehen und das Bild mit der Heidenstube, so gut ich konnte, hineinzumalen. Dies sollte ein stiller Gruß für sie sein und ihr später bezeugen, wie beständig ich an sie gedacht.
Diese fortwährende Erinnerung an sie und ihre Abwesenheit machten mich, insgeheim immer kecker und vertraulicher mit ihrem Bilde; ich begann lange Liebesbriefe an sie zu schreiben, die ich zuerst verbrannte, dann aufbewahrte, und zuletzt ward ich so verwegen, alles, was ich für Anna fühlte, auf ein offenes Blatt zu schreiben, in den heftigsten Ausdrücken, mit Vorsetzung ihres vollen Namens und Unterschrift des meinigen, und dies Blatt auf das Flüßchen zu legen, daß es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und dem Meere zu, wie ich kindischerweise dachte. Ich kämpfte lange mit diesem Vorsatze, allein ich unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende Tat für mich und ein Bekenntnis meines Geheimnisses, wobei ich freilich voraussetzte, daß es in nächster Nähe niemand finden würde. Ich sah, wie es gemächlich von Welle zu Welle schlüpfte, hier von einer überhängenden Staude aufgehalten wurde, dann lange an einer Blume hing, bis es sich nach langem Besinnen losriß; zuletzt kam es in Schuß und schwamm flott dahin, daß ich es aus den Augen verlor. Allein der Brief mußte sich später doch wieder irgendwo gesäumt haben, denn erst tief in der Nacht gelangte er zu der Felswand der Heidenstube, an die Brust einer badenden Frau, welche niemand anders als Judith war, die ihn auffing, las und aufbewahrte.
Dies erfuhr ich erst später, denn während meines jetzigen Aufenthaltes im Dorfe ging ich nie in ihr Haus und vermied den Weg desselben sorgfältig. Das Jahr, um welches ich älter geworden, ließ mich mit Beschämung auf das vertrauliche Verhältnis von früher zurückblicken und flößte mir eine trotzige Scheu ein vor der kräftigen und stolzen Gestalt; ich verbarg mich, ohne zu grüßen, rasch, als sie einmal am Hause vorüberging, und sah ihr doch verlangend nach, wenn ich sie von fern durch Gärten und Kornfelder schreiten sah. Meine Wünsche, wenn sie aus der Weite ruhlos zurückkehrten, flatterten Obdach suchend hin und her und nisteten sich endlich bei der Judith ein, als ob sie dort ein gutes Wort und das Geheimnis der Liebe erhaschen könnten.
Ich kehrte diesmal früher nach der Stadt zurück, mit einer tiefen Sehnsucht im Gemüte, welche sich nun gänzlich ausgebildet hatte und alles umfaßte, was mir fehlte und was ich in der Welt doch als vorhanden ahnte.
Mein Lehrer führte mich nun auf die letzten Stufen seiner Kunst, indem er mir die Behandlung seiner Wasserfarben mitteilte und mich mit aller Strenge zu deren sauberer und flinker Anwendung anhielt. Da jedoch die Natur nicht in Frage kam, oder doch nur höchst überlieferungsweise, so lernte ich bald, durch das endlich erreichte Ziel, »mit Farben umzugehen«, zu neuem Fleiße gereizt, gefärbte Zeichnungen hervorbringen, wie sie ungefähr als das Beste im Hause verlangt wurden, einzig aufgehalten und behindert, wenn ich gesehene Farben der Natur, die sich mir während des vielen Zeichnens eingeprägt hatten, anbringen wollte und dadurch mit den im Refektorium herkömmlichen Mitteln in Widerspruch geriet. Alsdann wurden meine Arbeiten unrein und ungeschickt, und der Meister war froh, mich der Unachtsamkeit und des Eigensinnes zu beschuldigen. Noch lange ehe das zweite bedungene Jahr zu Ende war, sah ich nicht viel mehr und übte mich, auf den Rat des Lehrers, in den verschiedensten Fertigkeiten, die dort sonst getrieben wurden. Ich radierte, laborierte in Scheidewasser, pfuschte auf Stein herum, fertigte schlecht gezeichnete, aber buntgemalte kleine Porträts an, half den Genossen die Kupferdrucke färben, lernte solche verpacken und sonst mit allen den kleinen Geschäften solchen Betriebes umgehen, kurz, ich wuchs den Winter hindurch zu einer Art Tausendkünstler und Faktotum heran, der nun für eine Bahn, wie sie Habersaat verfolgte, reif war und eigentlich das wirklich erreicht hatte, was dieser ihm beizubringen sich verpflichten konnte, der aber von dem Ziele, das ihm vorschwebte, entfernter als je war. Ich fühlte dunkel, daß ich eigentlich erst jetzt mit einigem Verstande beginnen sollte, und sah mich doch mit einer bedenklichen und leeren Fertigkeit ausgerüstet und ohne etwas Rechtes zu können. Dies gestand ich mir zwar nicht, aber es verursachte doch einen untröstlichen Widerspruch; ich langweilte mich in dem alten Kloster und blieb wochenlang zu Hause, um dort zu lesen oder Arbeiten zu beginnen, die ich vor dem Meister verbarg. Dieser suchte meine Mutter auf, beschwerte sich über meine Zerstreutheit,