Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.öffnete die Augen, fuhr zusammen und erkannte Nastasja.
»Den Tee schickt mir wohl die Wirtin?« fragte er und richtete sich langsam und mit schmerzlichem Gesichtsausdrucke auf dem Sofa auf.
»Die Wirtin wird dir gerade Tee schicken!«
Sie stellte ihre eigene Teekanne, die einen großen Sprung hatte, mit einem zweiten Aufguß vor ihn hin und legte zwei Stückchen gelben Zuckers dazu.
»Hier, Nastasja«, sagte er, nachdem er in seiner Tasche gesucht und ein Häufchen Kupfermünzen hervorgeholt hatte (er hatte in seinen Kleidern geschlafen), »nimm das und geh und kaufe mir Semmeln. Und bringe auch vom Fleischer ein Stückchen Wurst mit, billige.«
»Semmeln will ich dir gleich holen, aber willst du nicht statt der Wurst lieber Kohlsuppe? Sehr gute Kohlsuppe, von gestern. Ich hatte schon gestern welche für dich beiseite gestellt, aber du kamst erst so spät nach Hause. Sehr gute Kohlsuppe!«
Als sie die Kohlsuppe gebracht hatte und er zu essen begann, setzte sich Nastasja neben ihn auf das Sofa und fing an zu plaudern. Sie war vom Lande und sehr redselig.
»Praskowja Pawlowna will dich bei der Polizei verklagen«, sagte sie.
Er zog das Gesicht finster zusammen.
»Bei der Polizei? Warum denn?«
»Du bezahlst nicht und ziehst auch nicht aus. Ist doch klar.«
›Zum Teufel, das hat gerade noch gefehlt!‹ murmelte er zähneknirschend. ›Nein, das ist mir jetzt … sehr ungelegen.‹ – »So ein dummes Frauenzimmer«, fügte er laut hinzu. »Ich werde heute mal zu ihr hingehen und mit ihr sprechen.«
»Dumm mag sie schon sein, gerade so wie ich; aber du bist doch nun so ein kluger Mensch und liegst immer da wie ein Sack, und man sieht nicht, daß du etwas schaffst. Früher gingst du Kinder unterrichten, wie du sagst; warum tust du denn jetzt gar nichts?«
»Ich tue doch etwas …«, erwiderte Raskolnikow mißmutig und finster.
»Na, was denn?«
»Ich habe eine Arbeit vor.«
»Was denn für eine Arbeit?«
»Ich denke«, antwortete er nach einer kurzen Pause ernst.
Nastasja wälzte sich ordentlich vor Lachen. Sie war sehr lachlustig, und wenn sie einmal ins Lachen kam, so lachte sie lautlos, mit dem ganzen Körper sich schüttelnd und schaukelnd, bis sie nicht mehr konnte.
»Du hast dir wohl schon viel Geld verdient mit dem Denken?« vermochte sie endlich herauszubringen.
»Wenn man keine Stiefel hat, kann man keine Stunden geben. Übrigens pfeife ich darauf.«
»Die Leute sagen: Spuck nicht in den Brunnen, aus dem du trinken mußt.«
»Für solche Privatstunden bekommt man einen Quark. Was soll ich mit so ein paar Kopeken?« fuhr er verdrossen fort, wie wenn er seine eigenen Gedanken beantwortete.
»Du möchtest wohl gleich mit einem Male ein ganzes Kapital verdienen?«
Er warf ihr einen seltsamen Blick zu.
»Ja, ein ganzes Kapital«, erwiderte er nach kurzem Überlegen entschieden.
»Na, mach’s nur lieber so ganz allmählich, sonst muß man sich ja vor dir fürchten. Das klingt ja ganz schrecklich. Soll ich nun Semmeln holen oder nicht?«
»Wie du willst.«
»Ja, das hatte ich ganz vergessen: während du gestern fort warst, ist ein Brief für dich angekommen.«
»Ein Brief? An mich? Von wem?«
»Von wem, weiß ich nicht. Ich habe dem Briefträger drei Kopeken von meinem Gelde gegeben. Die gibst du mir doch wieder, nicht wahr?«
»So hole mir doch den Brief, um Gottes willen, hol ihn her!« rief Raskolnikow in größter Aufregung. »O Gott!«
Einen Augenblick darauf war der Brief zur Stelle. Wirklich: von seiner Mutter, aus dem Gouvernement R…! Er wurde blaß, als er ihn in Empfang nahm. Schon seit langer Zeit hatte er keinen Brief erhalten; aber jetzt machte ihm plötzlich noch etwas anderes das Herz beklommen.
»Bitte, geh hinaus, Nastasja! Da sind deine drei Kopeken; nur geh recht schnell hinaus, ich bitte dich dringend«
Der Brief zitterte ihm in den Händen; er wollte ihn nicht in ihrer Gegenwart aufmachen; es verlangte ihn, mit diesem Briefe allein zu sein. Sobald Nastasja hinausgegangen war, führte er ihn schnell an seine Lippen und küßte ihn; dann betrachtete er noch lange die Handschrift der Adresse, die ihm so wohlbekannte und liebe, feine, schräge Handschrift seiner Mutter, seiner Mutter, die ihn einst lesen und schreiben gelehrt hatte. Er zauderte; es war sogar, wie wenn er sich vor etwas fürchtete. Endlich öffnete er ihn; es war ein großer, dicker Brief von zwei Lot; zwei große Briefbogen waren mit kleiner Schrift ganz vollgeschrieben.
»Mein lieber Rodja«, schrieb die Mutter, »es sind schon mehr als zwei Monate, daß ich mich nicht brieflich mit Dir unterhalten habe; das ist mir selbst sehr schmerzlich gewesen, und ich habe sogar manche Nacht vor allerlei Gedanken nicht geschlafen. Du wirst mir aber gewiß wegen dieses meines unfreiwilligen Schweigens nicht böse sein. Du weißt ja, wie ich Dich liebe; Du bist mir und Dunja unser ein und alles, unsere ganze Hoffnung, unsere Zuversicht. Wie war mir zumute, als ich erfuhr, daß Du schon seit einigen Monaten aus Mangel an Existenzmitteln die Universität verlassen hast und daß Deine Privatstunden und sonstigen Erwerbsquellen aufgehört haben! Wie konnte ich Dir mit meinen hundertundzwanzig Rubeln jährlicher Pension helfen? Die fünfzehn Rubel, die ich Dir vor vier Monaten schickte, hatte ich, wie Du ja selbst weißt, mir auf ebendiese Pension von unserm hiesigen Kaufmann Afanassij Iwanowitsch Wachruschin geliehen. Er ist ein guter Mensch und war noch ein Freund Deines Vaters. Aber da ich ihn ermächtigt hatte, die Pension an meiner Statt zu erheben, so mußte ich warten, bis die Schuld bezahlt war; und das ist jetzt eben erst geschehen, so daß ich Dir diese ganze Zeit über nichts schicken konnte. Jetzt aber, Gott sei Dank, werde ich Dir wohl wieder etwas schicken können, und überhaupt können wir uns jetzt sogar einer besonderen Gunst des Glückes rühmen, und davon beeile ich mich Dir Mitteilung zu machen. Erstens nun denke Dir einmal, lieber Rodja, daß Deine Schwester schon seit anderthalb Monaten bei mir wohnt und wir uns auch künftig nicht voneinander trennen werden. Gott sei dank, ihre Martern sind jetzt zu Ende; aber ich will Dir alles der Reihe nach erzählen, damit Du erfährst, wie alles zugegangen ist und was wir Dir bisher verheimlicht haben. Als Du mir vor zwei Monaten schriebst, du hättest von jemand gehört, daß Dunja in dem Swidrigailowschen Hause sehr unter grober Behandlung zu leiden habe, und mich um genauere Aufklärung darüber ersuchtest, was hätte ich Dir damals als Antwort schreiben können? Hätte ich Dir die ganze Wahrheit geschrieben, so hättest Du wohl gar alles im Stich gelassen und wärest, wenn’s nicht anders gegangen wäre, selbst zu Fuß zu uns gekommen (denn ich kenne Deinen Charakter und Deine Gefühle) und hättest keine Beleidigung Deiner Schwester geduldet. Ich selbst war in Verzweiflung; aber was war zu tun? Auch ich selbst wußte damals noch nicht die volle Wahrheit. Die Hauptschwierigkeit lag darin, daß unsere Dunjetschka, als sie im vorigen Jahre als Gouvernante in dieses Haus gekommen war, sich einen Vorschuß von hundert Rubeln hatte geben lassen. der durch monatliche Abzüge vom Gehalte zurückgezahlt werden sollte, und somit vor Tilgung der Schuld die Stelle nicht verlassen konnte. Diese Summe aber (jetzt kann ich Dir alles offen mitteilen, mein lieber Rodja) hatte sie sich hauptsächlich dazu geben lassen, um Dir die sechzig Rubel zu schicken, die Du damals so notwendig brauchtest und denn auch von uns im vorigen Jahre erhieltest. Wir haben Dich damals getäuscht; wir schrieben Dir, dieses Geld stamme aus Ersparnissen, die Dunjetschka früher gemacht habe; aber dem war nicht so. Jetzt nun teile ich Dir die ganze Wahrheit mit, da sich jetzt nach Gottes Willen auf einmal alles zum Besseren gewendet hat, und damit Du siehst, wie Dunja Dich liebt und was für ein goldenes Herz sie hat. Es ist richtig, daß Herr Swidrigailow sie in der ersten Zeit sehr grob behandelte und sich bei Tische mancherlei Unhöflichkeiten und Spöttereien ihr gegenüber herausnahm … Aber ich will nicht auf all diese betrübenden Einzelheiten eingehen, um Dich nicht unnötigerweise aufzuregen, da all dies jetzt hinter uns liegt. Kurz, obwohl Marfa Petrowna, Herrn Swidrigailows Gattin, und