Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.Für den bloßen Gedanken reiße ich ihm die Nase ab! Das Potschinkowsche Haus, Nr. 47, in der Wohnung des Beamten Babuschkin…«
»Ich komme nicht, Rasumichin!«
Raskolnikow wandte sich um und ging fort.
»Ich wette darauf, daß du kommst!« rief Rasumichin ihm nach. »Sonst bist du … Sonst will ich gar nichts mehr von dir wissen! – He, warte mal! Ist Sametow da drin?«
»Ja.«
»Hast du ihn gesehen?«
»Ja.«
»Hast du auch mit ihm gesprochen?«
»Ja.«
»Worüber denn? Na, hol dich der Kuckuck, dann sag es nicht; ist mir auch gleich. Also: Haus Potschinkow, 47, Wohnung von Babuschkin, vergiß das nicht!«
Raskolnikow ging bis zur Sadowaja-Straße und bog dort um die Ecke. Rasumichin sah ihm in Gedanken versunken nach. Dann machte er mit der Hand eine Gebärde, die etwa besagte: ›Es ist nichts mit ihm anzufangen!‹ und wendete sich dem Eingange zu; aber noch auf den Stufen blieb er stehen.
›Hol’s der Teufel!‹ sagte er in halblautem Selbstgespräche. ›Er redet ganz vernünftig, aber gerade wie wenn … Ich bin aber auch ein Esel! Als ob Verrückte nicht auch vernünftig reden könnten! Und es schien mir, daß Sossimow gerade so etwas fürchtete!‹ Er tippte mit dem Finger an seine Stirn. ›Wie nun aber, wenn er … Man kann ihn eigentlich jetzt gar nicht allein lassen. Er ertränkt sich am Ende gar … O weh, da habe ich eine Dummheit gemacht! Nein, das geht nicht!‹ Er lief zurück, um Raskolnikow einzuholen; aber von dem war nichts mehr zu sehen. Er spuckte aus und kehrte eiligen Schrittes nach dem Kristallpalaste zurück, um möglichst schnell Sametow zu befragen.
Raskolnikow ging geradeswegs nach der …schen Brücke, stellte sich in der Mitte an das Geländer, stützte sich mit beiden Ellbogen darauf und blickte in die Ferne. Nachdem er sich von Rasumichin getrennt hatte, war er so schwach geworden, daß er sich nur mit Mühe so weit geschleppt hatte. Er hatte die größte Lust, sich irgendwo auf der Straße hinzusetzen oder hinzulegen. Über das Wasser gebeugt, blickte er gedankenlos auf den letzten rosigen Widerschein des Abendrots, nach der Häuserreihe, die in der hereinbrechenden Dämmerung schon ganz dunkel aussah, nach einem einzelnen Fensterchen, das in weiter Entfernung in der linken Uferstraße irgendwo in einer Mansarde von dem letzten Sonnenstrahl, der es für einen Augenblick traf, in flammende Glut versetzt wurde, und auf das immer dunkler werdende Wasser des Kanals, und gerade dieses Wasser schien er mit besonderer Aufmerksamkeit zu betrachten. Aber schließlich drehten sich vor seinen Augen rote Kreise, die Häuser fingen an zu wandern, die Vorübergehenden, die Ufer, die Wagen, alles drehte sich und tanzte im Kreise herum. Plötzlich fuhr er zusammen – vor einem neuen Ohnmachtsanfall, den er vielleicht erlitten hätte, bewahrte ihn ein schrecklicher, abstoßender Anblick. Er fühlte, daß sich jemand auf der rechten Seite neben ihn stellte, sah hin und erblickte ein Weib, großgewachsen, mit einem Tuche um den Kopf, mit gelbem, länglichem, ausgemergeltem Gesichte und geröteten, eingesunkenen Augen. Sie blickte geradezu nach ihm hin, sah aber offenbar nichts und unterschied die Menschen nicht. Auf einmal stützte sie sich mit dem rechten Arm auf das Geländer, hob das rechte Bein in die Höhe, schwang es über das Gitter, darauf das linke und stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser teilte sich und verschlang das Opfer für kurze Zeit; aber bald darauf kam die Selbstmörderin wieder an die Oberfläche und trieb langsam stromabwärts; Kopf und Füße hingen im Wasser; der Rücken ragte heraus; der Rock hatte sich zusammengeballt und lag, wie ein Kissen aufgeschwollen, auf dem Wasser.
»Sie hat sich ertränkt! Sie hat sich ertränkt!« riefen ein Dutzend Stimmen; eine Menge Menschen lief zusammen; beide Ufer füllten sich mit Zuschauern; auf der Brücke, um Raskolnikow herum, drängte sich das Volk und drückte und stieß ihn von hinten.
»Herr Gott, das ist ja unsere Afrossinja!« rief nicht weit von ihm eine weinerliche Frauenstimme. »Um Gottes willen, rettet sie! Liebe Männer, zieht sie heraus!«
»Einen Kahn! Schnell einen Kahn!« wurde in der Menge gerufen.
Aber es war kein Kahn mehr nötig; ein Schutzmann war die Treppe zum Kanal hinuntergelaufen, hatte Mantel und Stiefel von sich geworfen und sich ins Wasser gestürzt. Es war keine große Mühe; der Körper der Frau wurde von der Strömung nur zwei Schritte vom Fuße der Treppe entfernt hingetrieben; der Schutzmann ergriff sie mit der rechten Hand am Kleide; mit der linken gelang es ihm, eine Stange zu fassen, die ihm ein Kamerad hinhielt; und nun wurde die Selbstmörderin schnell herausgezogen. Man legte sie auf die Granitplatten der Treppe. Sie kam bald wieder zu sich, richtete sich auf, setzte sich hin und begann zu niesen und zu prusten und mechanisch mit den Händen das nasse Kleid abzuwischen. Sie redete kein Wort.
»Sie hat das Delirium, das Delirium!« heulte dieselbe Frauenstimme, jetzt dicht bei Afrossinja. »Neulich wollte sie sich aufhängen; wir haben sie noch rechtzeitig abgenommen. Ich war jetzt bloß in einen Kaufladen gegangen und hatte mein kleines Mädchen zu Hause gelassen, das sollte auf sie aufpassen – und da mußte auch gleich das Unglück passieren! Sie ist eine Kleinbürgerin, Väterchen«, erklärte sie dem Schutzmann, »sie wohnt bei uns; wir wohnen hier ganz in der Nähe, das zweite Haus von der Ecke dort …«
Das Volk ging auseinander, die Polizisten machten sich noch mit der Geretteten zu schaffen; jemand rief etwas vom Polizeibureau… Raskolnikow betrachtete das alles mit einem seltsamen Gefühle von Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit. Es überkam ihn ein Ekel davor. ›Nein, das ist gräßlich …‹, murmelte er vor sich hin. ›Dieses scheußliche Wasser, … das ist nichts …. Es ist hier weiter nichts los‹, fügte er hinzu, ›es hat keinen Zweck, noch zu warten. Was soll dabei das Polizeibureau? Aber warum ist Sametow nicht im Bureau? Es ist noch nicht zehn Uhr, da ist das Bureau doch offen …‹ Er wandte dem Geländer den Rücken zu und blickte um sich.
»Na, dann also vorwärts! Meinetwegen!« sagte er entschlossen, verließ die Brücke und schlug die Richtung nach dem Polizeibureau ein. Sein Herz war leer und öde. Er mochte nicht denken. Sogar die Unruhe war geschwunden; keine Spur mehr von der Energie, mit der er vor kurzem seine Wohnung verlassen hatte, entschlossen, »diese ganze Sache« heute noch zu Ende zu bringen. Eine vollständige Apathie war an die Stelle dieser Empfindungen getreten.
›Nun gut, auch das ist ein Abschluß!‹ dachte er, während er langsam und müde am Ufer des Kanals hinging. ›Jedenfalls bringe ich die Sache nach meinem eigenen Willen zu Ende … Ist es aber auch ein Abschluß? Ach was, ganz gleich! Ich werde gleichsam auf jener schmalen Felsenplatte weiterleben – ha-ha-ha! Aber was ist das für ein Ende! Und ist es wirklich das Ende? Soll ich es ihnen sagen oder nicht? Ach, hol’s der Teufel! Und ich bin auch müde und möchte mich recht bald irgendwo hinlegen oder hinsetzen! Am meisten schäme ich mich, daß das Ganze so dumm aussieht. Aber auch darum schere ich mich nicht weiter. Was einem doch für abgeschmackte Gedanken in den Kopf kommen …‹
Nach dem Polizeibureau mußte er immer geradeaus gehen und dann bei der zweiten Straßenkreuzung links einbiegen; dann waren es nur noch ein paar Schritte. Aber als er bis zur ersten Kreuzung gekommen war, blieb er stehen, überlegte, bog in die Querstraße ein und machte einen Umweg durch zwei Straßen, vielleicht ohne jede Absicht, vielleicht aber auch, um die Sache wenigstens noch eine Minute lang hinzuziehen und Zeit zu gewinnen. Er ging und blickte zur Erde. Plötzlich war es ihm, als ob ihm jemand etwas ins Ohr flüstere. Er hob den Kopf und sah, daß er bei »jenem« Hause, unmittelbar am Tore, stand. Seit »jenem« Abende war er hier nicht wieder gewesen und nicht vorbeigekommen.
Ein unwiderstehliches, unerklärliches Verlangen zog ihn hinein. Er trat in das Haus, durchschritt den ganzen Torweg, ging dann in den ersten Eingang rechts und stieg auf der wohlbekannten Treppe bis zum dritten Stockwerk hinauf. Auf der engen, steilen Treppe war es sehr dunkel. Auf jedem Absatze blieb er stehen und schaute sich neugierig um. Bei dem Absatz des Hochparterre waren die Fensterflügel ganz herausgenommen. ›Das war damals nicht‹, dachte er. Da war auch die Wohnung im ersten Stock, wo Nikolai und Dmitrij gearbeitet hatten. ›Sie ist verschlossen; auch die Tür ist neu gestrichen; also kann ein neuer Mieter einziehen.‹ Da war auch das zweite Stockwerk… und das dritte… ›Hier!‹ Höchst erstaunt blieb er stehen: die Tür zu dieser Wohnung war sperrangelweit offen; es waren Leute